Brief
Shinichi ließ seinen Blick unauffällig zu Zoé hinübergleiten. Sie saß still an ihrem Tisch, das Gesicht in die Arme gebettet und es sah so aus, als würde sie tief und fest schlafen. Ein sanftes Lächeln huschte über sein Gesicht. Hatte sie die Nacht nicht gut geschlafen? Das würde ihn nicht überraschen, schließlich war gestern so viel passiert. Insbesondere das mit ihren Eltern... Er konnte gut verstehen, wenn sie heute erschöpft war. Ein sanftes Mitgefühl durchzog ihn und er nahm sich vor, ihr deswegen keinen Vorwurf zu machen. Jeder Mensch hatte solche Tage, an denen die Müdigkeit einfach überhandnahm. Besonders nach einem so aufwühlenden Tag.
Während die Schulglocke die Pause einläutete, dauerte es nicht lange, bis sich eine Traube von Schülern um ihn herum versammelte. Stimmen murmelten durcheinander, Fragen und Bemerkungen wurden ihm von allen Seiten entgegengeschleudert, als ob jeder etwas von ihm wollte. Aber er war es gewohnt. So war es schon immer gewesen. Trotzdem spürte er eine gewisse Anspannung in sich aufsteigen, ein leises Unwohlsein, das er nicht so recht abschütteln konnte. Es war nicht nur er, der im Mittelpunkt stand – auch der neue Lehrer zog die Aufmerksamkeit einiger Schülerinnen auf sich und sie umringten ihn genauso schnell wie Shinichi.
Shinichi ließ sich nicht lange von der Menge um sich herum ablenken. Anstatt auf die Fragen und Bemerkungen der anderen zu reagieren, stand er plötzlich auf und wandte sich stumm ab. Sein Blick wanderte erneut zu Zoé. Eine leise Sorge schlich sich in seine Gedanken. Sie wirkte so erschöpft und er konnte nicht umhin, sich zu fragen, wie es ihr wirklich ging. Was ihr wohl durch den Kopf ging? Doch seine Sorge war nicht die einzige Emotion, die in ihm aufstieg. Ein anderes, weitaus unangenehmeres Gefühl kroch in ihm hoch – Eifersucht. Es war absurd und doch konnte er es nicht ignorieren. Jedes Mal, wenn er an den neuen Lehrer dachte und daran, wie er Zoé gegenübertrat, verspürte er diesen Stich.
Seine Lippen presste er für einen Moment zusammen. Er wusste, dass er sich da nicht einmischen sollte. Es war nicht seine Sache. Schließlich war dies Zoés Welt, ihre Realität. Hier war sie zu Hause und wenn sie den Lehrer mochte... nun ja, was konnte er dagegen tun? Was durfte er überhaupt tun? Er war nur ein Teil eines Mangas, nichts weiter. Und doch, der Gedanke, dass sie sich zu jemand anderem hingezogen fühlen könnte, ließ ihn unruhig werden.
Plötzlich zuckte Zoé zusammen und richtete sich verschlafen auf. Ihre Augen wanderten schläfrig durch den Raum, als ob sie sich erst orientieren musste. Shinichi beobachtete sie aufmerksam und es entging ihm nicht, wie niedlich sie mit ihrem verschlafenen Gesicht aussah, genauso wie am Morgen zuvor. Es hatte etwas beinahe Unschuldiges, das ihn unweigerlich rührte. Doch dann passierte es. Ihre Blicke trafen sich, nur für einen kurzen Moment und sofort senkte sie verlegen den Kopf, als würde sie sich ertappt fühlen.
Shinichi blinzelte verwirrt. Was war das denn jetzt gewesen? Hatte sie etwas geträumt, das sie verunsicherte? Oder war es immer noch dieser verdammte Lehrer, der in ihren Gedanken herumspukte? Er konnte es nicht wissen, aber das Gefühl der Ungewissheit ließ ihn noch länger über diesen kurzen, flüchtigen Moment nachdenken. Was auch immer in Zoé vorging, es war mehr als offensichtlich, dass sie ihn nicht an ihren Gedanken teilhaben lassen wollte und das nagte an ihm
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Zoé fuhr derart heftig aus ihrem Traum hoch, dass sie einen Moment lang gar nicht wusste, wo sie war. Ihr Herz raste, ihr Atem ging flach und unregelmäßig, als ob sie aus einem Albtraum gerissen worden wäre. Sie blinzelte verwirrt und stellte fest, dass sie in der Schule war – Pause. Doch wann war sie eingeschlafen? Und vor allem, wie konnte sie so tief weggedriftet sein, dass sie sich nun völlig desorientiert fühlte? Unsicher biss sie sich auf die Lippe, ein nervöser Reflex, doch sofort hielt sie inne. Das Pflaster an ihrer Lippe erinnerte sie daran, dass sie die Wunde nicht noch schlimmer machen durfte. Nervosität packte sie, als sie sich hektisch im Raum umsah. Es war nur ein Traum gewesen und doch hatte er sich so schrecklich real angefühlt!Der Schock saß noch tief und während sie versuchte, die verworrenen Gedanken zu ordnen, glitt ihr Blick wie von selbst zu Shinichi. Doch als sie bemerkte, dass er ebenfalls zu ihr herüberschaute, schoss ihr das Blut heiß ins Gesicht. Schnell wandte sie sich ab, die Verlegenheit brodelte in ihr hoch. Was war nur los mit ihr? War sie wirklich dabei, für ihn Gefühle zu entwickeln? Das durfte nicht sein! Entschlossen schüttelte sie den Kopf, doch die Unsicherheit nagte weiter an ihr.
Mit einem leisen Seufzen ließ sie ihren Kopf auf die Tischplatte sinken. Die Müdigkeit und die Verwirrung wogen schwer auf ihr und sie fühlte sich plötzlich völlig überfordert. Shinichi war ihr wirklich wichtig, das konnte sie nicht leugnen. Sie mochte ihn sehr, vielleicht sogar zu sehr. Früher als junges Mädchen, hatte sie eine harmlose Schwärmerei für ihn entwickelt – schließlich war er damals nur eine Mangafigur gewesen. Aber jetzt? Jetzt stand er leibhaftig vor ihr, sprach mit ihr, schaute sie an, als wäre sie jemand von Bedeutung. Es war alles zu viel.
Sie schloss verzweifelt die Augen und versuchte, die Erinnerung an ihren Traum zu verdrängen. Es war ihr so unangenehm, so peinlich. Wie konnte sie nur so etwas träumen? Ihr Herz begann wieder unruhig in ihrer Brust zu schlagen, und sie spürte, wie die Unsicherheit in ihr wuchs. Doch dann schlich sich ein neuer Gedanke in ihren Kopf – vielleicht war das alles gar nicht so schlecht? Vielleicht sollte sie Shinichi doch einweihen? Aber wie? Und was, wenn es alles nur noch schlimmer machte?
Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr, als die Überforderung erneut zuschlug. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, die aufkommende Panik zu unterdrücken. Es fühlte sich einfach nicht an wie etwas, das sie bewältigen konnte. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis und die Angst, dass ihre Idee alles noch schlimmer machen könnte, lähmte sie. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als diesen Tag einfach hinter sich zu bringen. Am liebsten würde sie gleich mehrere Tage überspringen, denn der Gedanke an alles, was noch kommen könnte, bereitete ihr Bauchweh.
Der Rest des Tages zog zäh und unangenehm an Zoé vorbei. Sie war angespannt, unruhig und vor allem vermied sie den Kontakt mit Shinichi so gut es ging. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, durchfuhr sie ein Schauer von Schuldgefühlen und Unsicherheit. Nicht nur wegen des Traums – nein, da war auch noch die Sache mit den Mädchen vom Vortag, die sie bedrängt hatten. Sie hatte Shinichi nichts davon erzählt. Zwei Geheimnisse lasteten nun auf ihr, obwohl sie sich gestern noch gegenseitig versprochen hatten, keine Geheimnisse voreinander zu haben. Und jetzt? Jetzt schien alles nur komplizierter und schwerer zu werden.
Hastig begann Zoé, ihre Sachen zusammenzupacken. Ihr Herz raste und sie wollte nur noch weg – so schnell und unauffällig wie möglich. Ihre einzige Absicht war es, sich in sicherer Entfernung zu verstecken und auf Shinichi zu warten. Doch kaum hatte sie ein paar Schritte gemacht, fiel ihr plötzlich ein, dass sie ihr Handy noch beim Lehrer vergessen hatte. Sie blieb abrupt stehen, während die Panik in ihr aufstieg. Am besten wäre es, wenn niemand sie zusammen mit Shinichi sehen würde, besonders nicht diese Mädchen, die ihr schon einmal aufgelauert hatten. Der Gedanke daran, dass sie erneut in Schwierigkeiten geraten könnte, nagte an ihr, ließ ihr Herz schneller schlagen und ihre Schritte stocken.
Doch bevor sie weiter überlegen konnte, was sie als Nächstes tun sollte, spürte sie plötzlich eine Hand an ihrem Handgelenk. Sie wurde sanft, aber bestimmt herumgedreht und weitergezogen. Verwirrt sah sie auf und blickte direkt in Shinichis Augen. Sein Ausdruck war ernst, fast schon besorgt und es war offensichtlich, dass er mit ihr reden wollte. Ohne ein Wort zog er sie in eine abgelegene Ecke, weit weg von den anderen Schülern, wo sie in Ruhe reden konnten. Doch obwohl sie nun allein waren, spähte Zoé nervös umher, als könnte jeden Moment jemand auftauchen, der sie beobachtete.
„Was ist heute mit dir los?" Shinichis Stimme durchbrach die Stille und er seufzte tief, als er merkte, dass Zoé trotz allem immer noch unsicher um sich blickte. „Die meisten sind schon weg. Wir können ganz in Ruhe reden." Doch seine Worte halfen nicht. Das ungute Gefühl in Zoé blieb bestehen und sie konnte sich nicht entspannen. „Es ist nichts", antwortete sie knapp, fast schon eingeschnappt und versuchte, das Gespräch sofort abzublocken. Sie wollte nicht darüber reden. Nicht jetzt, nicht hier.
„Ach, und deswegen kannst du mich nicht richtig anschauen? Oder gehst mir die ganze Zeit aus dem Weg?" Shinichis Stimme wurde schärfer und er trat einen Schritt näher. Zoé kniff die Augen zusammen. Dieses Gespräch war anders als das in ihrem Traum, aber es fühlte sich dennoch unangenehm vertraut an. Sie wollte nicht in diese peinliche Situation geraten, in der sie Dinge erklären musste, die sie selbst kaum verstand.
„Was hast du gemacht?" Shinichis Stimme wurde sanfter, fast besorgt, als er noch einen Schritt nähertrat. Sein Blick wanderte zu ihrer Lippe und er wollte sich das Pflaster genauer ansehen. Doch bevor er dazu kam, wich Zoé panisch zurück. Nein, das durfte nicht passieren. Sie wollte nicht, dass er sich Sorgen machte oder mehr hinter ihrer Verletzung suchte, als da wirklich war. „Es ist nichts, was der Rede wert ist, Shinichi." Sie versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten, doch das Seufzen verriet ihre Unsicherheit.
Shinichi schien nicht überzeugt. „Achso, aber dein Lehrer darf sich drum kümmern, was?" Er betrachtete sie mit einem misstrauischen Blick, die plötzliche Distanz zwischen ihnen beunruhigte ihn. Warum wich sie ihm aus? Was hatte das alles zu bedeuten? „Er hat mir nur geholfen. Nicht mehr und nicht weniger. Mach dir keinen Kopf." Zoés Stimme war jetzt leise, fast flüsternd, als sie ihn wieder ansah. Sie wollte die Situation beruhigen, das Gespräch beenden, bevor es weiter eskalierte. „Er hat mir auch mein Handy abgenommen. Das muss ich noch holen." Mit diesen Worten versuchte sie, an ihm vorbeizugehen, in der Hoffnung, dem Gespräch zu entkommen.
Doch Shinichi ließ sie nicht so einfach ziehen. Er griff erneut nach ihrem Arm und hielt sie auf. „Du benimmst dich heute so seltsam. Haben wir nicht gestern erst..." Doch weiter kam er nicht, denn Zoé drehte sich abrupt um. Sie wirkte aufgebracht, ihre Augen funkelten vor unterdrückten Emotionen. „Ja, ich weiß, was wir gesagt haben!" rief sie, ihre Stimme scharf und voller Anspannung. Sie atmete tief durch, als ob sie sich selbst zur Ruhe zwingen wollte. „Aber wenn ich dir doch sage... Es ist einfach alles zu viel... glaubst du mir das?" Ihre Worte hingen in der Luft, und Shinichi spürte, dass dies der Moment war, in dem er besser nicht weiter nachhaken sollte. Er konnte den Schmerz und die Erschöpfung in ihren Augen sehen und das reichte, um ihn zum Schweigen zu bringen.
Langsam ließ er ihre Hand los und Zoé drehte sich ohne ein weiteres Wort um. Sie ging mit schnellen Schritten in Richtung Lehrerzimmer, während Shinichi regungslos zurückblieb, an die Wand gelehnt, seine Augen auf sie gerichtet. Vor dem Lehrerzimmer angekommen, blieb Zoé kurz stehen, um tief durchzuatmen. Sie klopfte zögerlich an die Tür und trat ein, nachdem sie die Erlaubnis bekommen hatte. Das Stimmengewirr der Lehrer umgab sie sofort und sie sah sich suchend nach Yukio um. Sie wollte schnell sein, unauffällig, niemand sollte ihr mehr Beachtung schenken als nötig. Schließlich war das ihre Abmachung, sich so normal wie möglich zu verhalten, als wäre nichts Außergewöhnliches geschehen, egal ob sie ihren Lehrer flüchtig kannte oder nicht.
Endlich fand sie Yukio und ging mit gesenktem Blick auf ihn zu. Kurz verbeugte sie sich respektvoll, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Ihre Gedanken waren wirr, die Situation fühlte sich surreal an. Shinichi, der ihr bis zur Tür gefolgt war, blieb draußen stehen, beobachtete alles aus der Distanz, ohne seine Miene zu verziehen. Er sagte nichts, doch in seinem Inneren brodelte es vor Fragen, die er nicht zu stellen wagte. Er wusste, dass da irgendwas war. Aber sie wollte nicht darüber reden, was ihn schon nervte.
„Ich wollte nur mein Handy holen", sagte Zoé leise noch während sie in der Verbeugung war und hoffte, dass es höflich und unauffällig genug war.
Er blickte von einem aufgeschlagenen Gesetzbuch auf, legte den Stift beiseite und zog eine Schublade auf, um Zoés Handy herauszuholen. „Achte darauf, dass das nicht noch einmal passiert, Asui," sagte er mit einem kaum merklichen Lächeln, das kurz seine Lippen umspielte.„Und wenn du jemanden zum Reden brauchst, weißt du, dass du nicht allein bist," fügte er knapp hinzu, während er ihr das Handy reichte. Ohne weiter auf eine Reaktion zu warten, wandte er sich wieder seinem Buch zu, wobei er bewusst darauf achtete, genügend persönlichen Abstand zu ihr zu wahren, wie er es zuvor angedeutet hatte.
„Danke", bedankte sich Zoé direkt bei ihm und verbeugte sich nochmal anständig. „Ich werde es mir merken... Danke", sagte sie noch leise, hob kurz ihren Kopf und lächelte ihn an, dann trat sie zur Seite, drehte sich um und lief zurück zur Tür. Da bemerkte sie auch, dass Shinichi dort stand und auf sie wartete. Sie drückte sich gekonnt an ihm vorbei, steckte ihr Handy in die Tasche und lief voran. Shinichi schloss mit einem kurzen Blick zum Lehrer die Tür und folgte ihr dann.
Der Weg verlief schweigend, Zoé versuchte intensiv sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie sie es schaffte, Shinichi wieder zurück in den Manga zu schicken und ihr normales Leben wieder zurückzubekommen. Doch eine Antwort darauf, ließ ihr Gehirn nicht zu. Stattdessen wanderten ihre Gedanken immer wieder zum Traum.
Diese Gedanken wollten ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Es war, als würden sie sich in ihrem Bewusstsein festkrallen, ohne dass sie eine Chance hatte, sie abzuschütteln. Seufzend kam Zoé schließlich zu Hause an. Mit fahrigen Bewegungen kramte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, während sie versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Eine Lösung für ihr Problem zu finden. Das war jetzt das Wichtigste, doch die Unruhe in ihr machte es fast unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Plötzlich riss sie das schrille Klingeln ihres Handys aus ihren wirren Überlegungen. Erschrocken zuckte sie zusammen, als hätte sie einen elektrischen Schlag gespürt.
Schnell trat sie ins Haus, zog Shinichi dabei hektisch hinter sich her und schloss die Tür mit einem lauten Knall, als ob sie damit die Außenwelt aussperren könnte. Ihr Herz klopfte wild in ihrer Brust und mit zittrigen Fingern griff sie in ihre Tasche, um das Handy herauszuholen. Sie blickte auf das Display und erkannte die Nummer ihres Vaters. Für einen Moment atmete sie erleichtert auf. Es war nichts Ungewöhnliches, dass er sie von der Arbeit aus anrief. Ohne groß darüber nachzudenken, nahm sie den Anruf an, während sie sich gleichzeitig die Schuhe auszog. „Hallo Papa, ich bin gerade nach Hause gekommen", sagte sie in einem bemüht fröhlichen Tonfall, während Shinichi ebenfalls still seine Schuhe auszog und wortlos die Treppe nach oben ging.
„Wie ist die Arbeit? Bestimmt anstrengend, oder?" Zoé versuchte, das Gespräch in Gang zu halten, doch plötzlich wurde sie stutzig. Es herrschte absolute Stille auf der anderen Seite der Leitung. Kein vertrautes Brummen oder leises Rascheln. Nur Stille. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus und sie blinzelte überrascht. „Papa? Hallo?" Ihre Stimme klang jetzt unsicher, fast flehend.
Und dann hörte sie es. Diese unheimliche Stimme. Wie aus dem Nichts tauchten die Wörter plötzlich vor ihren Augen auf, als ob sie direkt in die Luft geschrieben wären: „Wo bist du? Zu Hause? Wo ist das? Ist er auch bei dir?" Die Worte drangen in ihren Verstand, wie scharfe Nadeln, die sich tief in ihr Bewusstsein bohrten.
Das Handy entglitt ihren Fingern und fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden, doch Zoé nahm es kaum wahr. Wie erstarrt stand sie da, unfähig sich zu rühren, als die unheimliche Stimme weiterhin in ihr Ohr und direkt in ihren Kopf drang. Sie fühlte sich, als wäre sie in eine Falle getappt, aus der es kein Entkommen gab. Panisch hob sie die Hände, presste sie fest gegen ihre Ohren, als könnte sie sich so vor der Stimme schützen. Doch es half nichts. Es war, als würde die Stimme nicht von außen kommen, sondern tief in ihrem Kopf widerhallen, wo sie nicht entkommen konnte.
Mit fest zusammengekniffenen Augen und einem verzweifelten Ausdruck auf ihrem Gesicht stand sie da, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Zoé wollte einfach nur, dass das alles aufhörte. Diese überwältigende Angst, die wie eine Welle über sie hereinbrach, ließ sie fast ersticken. Es fühlte sich an, als würde die Situation von einer Sekunde auf die andere viel bedrohlicher werden, als könnte jede Entscheidung, die sie traf, fatale Folgen haben. Was, wenn ihrem Vater wirklich etwas zugestoßen war? Was, wenn er in Gefahr war und sie nichts tun konnte? Diese Gedanken kreisten immer schneller in ihrem Kopf und mit jedem Mal, dass sie daran dachte, wurde das Gefühl der Ohnmacht stärker. Sie fühlte sich wie gelähmt, ihr Körper war vor Panik erstarrt.
Ihre Hände zitterten, ihr Atem ging flach und unregelmäßig und ihr Herz schlug so heftig, dass es fast wehtat. Alles um sie herum verschwamm, wurde undeutlich, als ob sie in einen Tunnel gezogen wurde, aus dem es keinen Ausweg gab. Die Gedanken über ihren Vater und die unheimliche Stimme fraßen sich tiefer in ihren Verstand, als wäre sie in einem Albtraum gefangen, aus dem sie nicht aufwachen konnte. Sie wollte schreien, wollte rennen, aber ihre Beine fühlten sich schwer an, wie aus Blei. Ihr war übel und das Gefühl der Bedrohung schlich sich immer weiter in ihr Bewusstsein, bis es ihr fast unmöglich war, noch klar zu denken.
Dann, plötzlich, spürte sie etwas. Zunächst nahm sie es gar nicht richtig wahr, so tief war sie in ihrer Angst gefangen. Doch allmählich drang das Gefühl einer sanften Umarmung zu ihr durch, als ob sie von unsichtbaren Armen gehalten würde. Es war warm und schützend, fast beruhigend, aber es dauerte eine Weile, bis Zoé überhaupt realisierte, dass jemand sie festhielt. Ihr Herz raste immer noch, der Adrenalinschub ließ sie zittern, aber nach und nach begann sie, die Berührung zu spüren. Das sanfte Streicheln über ihren Rücken, das ihr signalisierte, dass sie nicht allein war.
„Alles ist gut...", flüsterte eine tiefe, beruhigende Stimme an ihrem Ohr, leise, aber bestimmt, als wollte sie die Panik aus ihrem Inneren vertreiben. Die Worte drangen langsam durch die dichten Schleier ihrer Angst, während das Streicheln auf ihrem Rücken weiterging. „Keine Angst, Zoé, du bist nicht allein."
Langsam, fast wie in Trance, begann Zoé, wieder in die Realität zurückzufinden. Doch ihre Gedanken waren noch immer ein Chaos und das Zittern hörte nicht auf. Ihr Verstand kämpfte immer noch gegen die Panik, gegen das beängstigende Gefühl, dass sie die Kontrolle völlig verlor. Es fühlte sich an, als würde sie in einem tiefen Ozean treiben, unfähig, die Oberfläche zu erreichen, doch diese Stimme und die sanfte Umarmung halfen ihr, sich an etwas Festem zu halten.
Als sie schließlich genug Klarheit zurückgewann, um zu realisieren, was gerade geschah, drückte sie sich langsam aus der Umarmung heraus. Verwirrt und mit einem flauen Gefühl im Magen hob sie den Blick und sah direkt in Shinichis besorgte Augen. Sein Blick war ruhig, aber voller Sorge. Er beobachtete sie genau, als versuche er, zu verstehen, was in ihr vorging. Er hatte sie noch nie so gesehen, so verletzlich, so außer Kontrolle.
Zoé sah das Handy auf dem Boden liegen. Der Bildschirm war dunkel, der Anruf beendet. Natürlich war er beendet. Die schreckliche Stimme war verschwunden, aber die Bedrohung, die sie gespürt hatte, hing immer noch wie ein unsichtbarer Schatten über ihr. Sie konnte kaum fassen, was gerade passiert war. Ihre Gedanken rasten. War sie wirklich in Sicherheit? Hatte ihr Vater tatsächlich angerufen? Oder war das alles ein Trick, ein Teil dieses Albtraums, der sie umgab? Wusste die unheimliche Stimme, wo sie zu Hause war? Wo sie lebte? Wo sie zur Schule ging? War sie überhaupt irgendwo in Sicherheit?
Shinichi stand dicht neben ihr, beobachtete sie weiterhin mit seinen scharfen Augen, aber in seinem Gesicht spiegelte sich die Unsicherheit wider. Er wollte helfen, wollte sie beruhigen, aber er wusste nicht, wie. Die Situation war längst außer Kontrolle geraten und er konnte das Ausmaß dessen, was gerade vor sich ging, nicht mehr einschätzen. Es war, als ob ein unsichtbarer Feind im Schatten lauerte, einer, den er nicht greifen konnte. Zoé spürte, dass auch Shinichi die Kontrolle über die Lage verlor, und das machte alles noch schlimmer. Die Panik, die sie eben noch gespürt hatte, war nicht verschwunden, sie hatte sich nur zurückgezogen, lauernd, bereit, beim kleinsten Auslöser wieder zuzuschlagen. Die Situation war gefährlicher geworden, als sie es sich je hätte vorstellen können, und sie hatte keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte. Shinichi wirkte entschlossen, doch sie konnte die Unsicherheit in seinen Augen sehen. Sie wusste, dass er handeln wollte, doch selbst er schien an seine Grenzen zu stoßen. „Wir müssen etwas tun..." Zoé flüsterte die Worte, ihre Stimme brüchig und voller Angst. Doch sie wusste nicht, was sie eigentlich tun sollten.
Als Zoé später in ihrem Bett lag, schien die Erschöpfung keine Chance gegen die Flut von Gedanken in ihrem Kopf zu haben. Sie drehte sich immer wieder hin und her, unfähig, Ruhe zu finden. Ihr Vater war schließlich wohlbehalten nach Hause gekommen, nur wenige Minuten nach dem unheimlichen Vorfall. Shinichi und Zoé hatten in ihrem Zimmer gesessen, beide still, nachdenklich, als wären sie in einem Strudel aus Sorgen gefangen. Auch ihre Mutter, Satsuki, war am frühen Abend zurückgekehrt und hatte etwas für die Familie gekocht. Doch all das konnte Zoé nicht beruhigen. Diese bohrende Unruhe wollte einfach nicht weichen, als würde ein unsichtbarer Schatten über ihr schweben.
Jetzt, in der Dunkelheit ihres Zimmers, bemühte sie sich verzweifelt, in den Schlaf zu finden. Neben ihr hörte sie das gleichmäßige, ruhige Atmen von Shinichi. Er schien bereits in den Schlaf gefunden zu haben, während Zoé das Gefühl hatte, als ob ihre Gedanken sie gefangen hielten und sie keinen Ausweg finden konnte.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Schlaf sie endlich übermannte. Doch als Zoé am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich alles andere als erholt. Sie blinzelte in das schwache Morgenlicht, das durch das Fenster fiel und ließ ihren müden Blick über das Zimmer wandern. Ihr erster Gedanke galt Shinichi. Sie sah zum Gästefuton hinunter, nur um festzustellen, dass er leer war. Ein Gefühl der Verwirrung durchzog sie. Wo war er? Vielleicht war er einfach nur im Bad, dachte sie, doch ihr Geist war noch zu müde, um wirklich zu verarbeiten, was los war. Langsam setzte sie sich auf und stand schließlich auf, um sich zu strecken. Ihr Blick fiel auf einen kleinen Spiegel, und als sie darin ihr zerzaustes Haar und das müde Gesicht sah, erschrak sie kurz. Scheinbar hatte sie sich im Schlaf wild hin und her gewälzt, was angesichts der chaotischen Ereignisse des Vortages kaum verwunderlich war. Doch etwas anderes zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Als sie noch einmal zum Futon hinuntersah, entdeckte sie etwas, das sie vorher übersehen hatte. Sofort bückte sie sich und hob es auf. Ein Brief. Auf dem Umschlag stand ihr Name, sorgfältig geschrieben. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, ein kaltes Kribbeln, das ihre Nackenhaare aufstellte. Hastig riss sie den Umschlag auf und begann, den Inhalt zu lesen.
„Liebe Zoé,normalerweise würde ich solche Dinge nicht in einem Brief schreiben. Du kennst mich schließlich gut genug, um das zu wissen. Aber diese Entscheidung fiel mir nicht leicht. Du bist mir in dieser kurzen Zeit so unglaublich wichtig geworden, dass es mich fast erschreckt. Ich möchte, dass du weißt, diese Entscheidung ist allein meine. Ich will dich und deine Welt beschützen. Du solltest nicht die Last all dessen tragen müssen, nur weil es meine Schuld ist. Deshalb ist dies ein Abschied – für immer. Danke für die Zeit, die wir hatten und für die Gefühle, die du in mir geweckt hast. Leb wohl, Zoé.Shinichi."
Als Zoé die letzten Worte des Briefes las, spürte sie, wie ihr die Luft wegblieb. Ihr Herz setzte für einen Moment aus, und ihr Mund stand ungläubig offen. Ein Abschied? Für immer? Das durfte einfach nicht wahr sein. Nicht jetzt. Nicht so. Eine Welle aus Panik erfasste sie, ein Sturm aus Verzweiflung und Fassungslosigkeit tobte in ihrem Inneren. Was wollte er damit sagen? Was zum Teufel beabsichtigte er mit diesem Brief? Dieser verdammte Idiot!
Mit zitternden Händen griff Zoé nach ihrem Handy. Ihre Finger flogen über den Bildschirm, als sie bemerkte, dass ein neues Kapitel des Mangas veröffentlicht worden war. Es hatte bereits tausende Aufrufe und Kommentare. Ohne zu zögern, öffnete sie es und begann zu lesen, während sie sich auf ihr Bett setzte. Seite um Seite verfolgte sie die Geschichte, und mit jeder gelesenen Zeile wuchs der Schock in ihr. Was sie las, traf sie tief ins Herz. Er hatte ihr diesen Brief geschrieben, und dann... dann hatte er sie liebevoll angesehen, während sie geschlafen hatte. Allein diese Beschreibung brachte ihren Brustkorb schmerzlich zum Brennen.
Zoé scrollte weiter, in der Hoffnung, dass alles nur ein Missverständnis war, dass er doch nicht einfach verschwunden war. Doch dann las sie die furchtbare Wahrheit. Er hatte inmitten der Nacht eine Brücke aufgesucht, die kalte Herbstluft hatte ihn umgeben und ohne zu zögern war er gesprungen. Sie konnte sich förmlich vorstellen, wie der eisige Wind ihm um die Ohren pfiff, als er diesen endgültigen Schritt tat. Zoé spürte, wie Tränen in ihre Augen stiegen. Mit einem scharfen Atemzug scrollte sie weiter, doch der Manga... endete einfach. Ohne Vorwarnung, ohne Auflösung. Es war vorbei. Ungläubig starrte sie auf den Bildschirm. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, während sich Schuldgefühle wie ein dichter Nebel um sie legten. Hatte er sich für sie geopfert? Hatte er sich das Leben genommen, nur um sie zu beschützen? Ihre Hände begannen unkontrolliert zu zittern und Panik griff nach ihrem Verstand. Mit einem leisen Schluchzen ließ sie das Handy zur Seite fallen und versuchte, das alles zu begreifen. Shinichi war für sie gestorben – und das machte ihr mehr Angst, als sie sich jemals hätte vorstellen können. Die Tragweite seiner Entscheidung lastete schwer auf ihr, und sie konnte kaum fassen, was das für ihr Leben und ihre Welt bedeutete.
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