S.O.S
Ich konnte nicht glauben, was geschehen war. Es war so unwirklich, so unglaublich, so zerstörerisch.
James war tot. Autounfall, hatte die Polizei gesagt. Ich sagte nichts. Ich wusste, was geschehen war.
Mein bester Freund hatte sich umgebracht.
Ich seufzte gebrochen, vergrub meinen Kopf in meinen Händen. Eine Schultoilette war nun wirklich nicht der beste Ort, um zu trauern, aber alles erinnerte mich an ihn.
Meine Hände zitterten, als ich den Stoff meines, nein, seines Hoodies betrachtete. Die dunkelgrauen Fasern waren ein starker Kontrast zu meiner schneeweißen, mit Schuppen bedeckten Haut. Ihm hatte er immer unglaublich gut gestanden.
Schon wieder kamen mir die Tränen, doch ich versuchte, stark zu bleiben. Ich hatte es gewusst, ich hatte von all dem Mobbing gewusst, das er durchmachen musste. Ich hatte versucht, es den Lehrern zu sagen, es irgendwem zu sagen.
Es ist mir egal. Das waren ihre Reaktionen gewesen, sie hatten mich ignoriert, hatten James' Probleme ignoriert. Und ich konnte sie alle nur dafür hassen.
Wie oft hatte ich ihn zum Psychologen geschleppt, wie oft war er dort voller Wut und Selbsthass wieder herausgekommen, ich wusste es nicht mehr.
Es ist mir egal. Nie zuvor hatte dieser eine, kleine, unscheinbare Satz mehr Gewicht gehabt.
Diese Worte hatten ihn umgebracht. Nur, weil er ein Elf war.
Spitze Ohren, was war schon dabei? Ich verstand es nicht. Er war gehänselt, vermöbelt, krankenhausreif geschlagen worden.
Nur, weil er keine Hörner auf dem Kopf sitzen hatte, keine neun Schweife herumpeitschen konnte, kein Blut saugte. Einem Menschen, unseren Erzfeinden, zu ähnlich sah.
Er war anders gewesen. Blutige Tränen rollten über meine Handflächen und ich schluchzte auf.
Es ist mir egal.
Ich war zu unserem Lehrer, Herr Seide, gegangen. Ihm war es egal gewesen, er war zu bedacht auf das viele Gold, das ihm Mircos Eltern monatlich auf sein Konto überwiesen.
Es ist mir egal.
Ich hatte Mirco angefleht, James in Ruhe zu lassen, hatte ihm meinen eigenen Körper verkauft, nur damit er aufhörte.
Es ist mir egal.
Meinen Eltern war es egal gewesen, James' Eltern war es egal gewesen. Ich hatte sie gewarnt, hatte sie angefleht, James zu helfen.
Und nun saß ich hier, auf dem Jungsklo in einem Schulhaus voller Blinder, Ignoranter, die alles taten, um James zu vergessen.
Es war ein Unfall gewesen, hatten sie gesagt.
Wut flutete meinen Körper und ich sprang auf, schlug mit meiner Faust auf die dicke Backsteinmauer ein, in der verzweifelten Hoffnung, mich würde irgendwer davon abhalten, mir käme irgendwer zur Hilfe.
Ich war der schwule Typ, der auf seinen seltsamen besten Freund stand, das wusste jeder.
Und es wusste jeder, dieser seltsame beste Freund war nun tot.
James war tot.
Ich konnte es immer noch nicht fassen. Seine Beerdigung war zwei Tage her und doch war die Wunde noch so frisch wie in den Stunden, in denen ich an seinem Krankenhausbett saß, in denen sein Körper um sein Leben kämpfte.
Dieser wundervolle, lebensfrohe Typ, der er gewesen war, hatte sich tief in sein Herz zurückgezogen, war nur bei seltenen Abenden zu zweit zum Vorschein gekommen.
Schon wieder liefen mir Tränen über mein Gesicht.
Ich hatte ihn geliebt, abgöttisch geliebt. Ich liebte ihn immer noch.
Und doch hatte der Tod ihn fortgerissen, hatte mein Herz zerfetzt. Ich würde nie wieder lieben können, das wusste ich.
Und es war mir egal.
Mir war es egal, dass er ein Elf gewesen war, mir war es egal, dass sich niemand um ihn zu kümmern schien.
Ich würde für ihn da sein. Auf ewig.
Serpens konnten sich ihre Bestimmung nicht aussuchen. Und doch würde ich genau das tun. Ich würde die Regeln brechen, mich auflehnen gegen die, die James' Trauma und Depressionen ignoriert hatten.
Es war ihnen egal gewesen.
„Merian? Alter, alles in Ordnung?"
Okran konnte nichts dafür, dass es mir so beschissen ging, sagte ich mir. Mein Sitznachbar hatte nie irgendetwas getan, er war der typische Streber, der sich nur auf die Schule konzentrierte und nicht sonderlich viele soziale Kontakte hatte.
Der junge Dämon schien seine Hand auf meine Schulter legen zu wollen, stockte dann jedoch und zog sie wieder zurück.
„Du warst mit James befreundet, oder?"
Dieser eine Satz riss den Boden unter meinen Füßen auf, ließ mich hinabstürzen in das schwarze Loch, das sich dort aufgetan hatte.
Erinnerungen fluteten meinen Kopf.
„Merian! Komm doch auch mit rein, das Wasser ist nicht so kalt, glaub mir!"
James steht vor mir im Wasser, seine dunkle Haut strahlt mit seinem Grinsen um die Wette.
Ich versuche, meine geröteten Wangen mit Sonnencreme zu verbergen. Sein Lachen schallt über den See.
Die Szene veränderte sich.
James kommt im Schulhaus auf mich zu, seine Kleidung zerrissen, seine Arme blutig. Ich renne zu ihm, umarme ihn, trockne seine Tränen. Mirco hat ihn mit seiner Gang verprügelt, wie ich später erfahre.
Wieder veränderte sich das Bild.
Kräftige, schmutzige Hände fassen mich an der Taille, ziehen mich in ein leeres Klassenzimmer, als ich am Abend nach einer Bandprobe nach Hause gehen will. Ich bezahle bei Mirco mit meiner Unschuld, um James zu schützen.
Meine Selbstaufgabe wirkt nicht einmal 24 Stunden.
Salzige Flüsse strömten über meine Wangen, als ich aus meinen Erinnerungen wieder auftauchte.
„Ich habe ihn geliebt, Okran. Ich habe ihn mehr als alles andere geliebt", schrie ich und schlug voller Wut und Trauer gegen die Wand. Ich spürte, wie das Blut meine aufgerissenen Fingerknöchel bedeckte, schenkte ihm jedoch keinerlei Beachtung.
Ich konnte Okran nicht in die Augen sehen, sackte in mich zusammen wie ein geplatzter Luftballon.
„Du hast ihn geliebt? Das ist doch nicht natürlich!"
Die Hoffnung, einen Verbündeten gefunden zu haben, wurde mit einem Satz zerstört.
Dämonen waren hetero, das hätte ich eigentlich bedenken müssen. Natürlich würde er es nicht verstehen oder auch nur akzeptieren.
Eine kräftige Hand packte mich am Hals, drückte mich gegen die Wand. Mein Gesicht wurde in die kalten Backsteine gepresst, mein Arm unangenehm auf meinen Rücken gebogen.
„Merian, der Elfenlover, plötzlich so redselig?"
Es schien, als hätte ich die Basisregeln von Iszaria vergessen.
Aussehen kann täuschen. Stimme auch.
Mirco prügelte auf mich ein, doch ich spürte die Schmerzen kaum. James war der einzige, an den ich denken konnte. Was hätte ich dafür gegeben, wenn jetzt mein Elfenfreund neben mir gestanden hätte und mich aufgefangen hätte.
Als Mirco endlich von mir abließ, war es kurz vor der Pause.
Er verschwand so schnell, wie er gekommen war und ich sammelte meine Klamotten ein, die er hoffnungslos zerrissen hatte. Dann schleppte ich mich in eine der Kabinen.
Mit wackligen Beinen versuchte ich, mich hinzusetzen, doch mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Alles tat weh.
Und ich weinte.
Es ist mir egal. Nie zuvor hatten diese Worte so viel Gewicht.
~ 1101 Wörter
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