5. Blinde Schafe

Das alte Gemäuer des New York City Treasury Bureau verursachte Ruby eine Gänsehaut. Die kühlen Steinmauern erstickten jeden Strahl der schwachen Frühlingssonne. Schade, dass Clarissa nicht als Gärtnerin gearbeitet hatte. Ruby hätte es vorgezogen die Landschaftsbauer zu befragen, die auf der anderen Straßenseite ein frisches Beet im City Hall Park anlegten

„Was wissen wir über den Job und die Kollegen des sechsten Opfers?" Fredericks ließ sich beim Treppensteigen Zeit.

„Sie war für Ermittlungs- und Feststellungsverfahren zuständig." Ruby musste nicht auf ihr Smartphone sehen, um alles parat zu haben, was sie für die Vernehmung benötigte. „Drei von fünf Tagen war sie im Homeoffice, aber sie hat zwei Kollegen, mit denen sie sich intensiv ausgetauscht hat. Laut den Mails gelegentlich sogar privat. Sie haben ..."

„Oh, Sie sind die Leute von S.O.P.H.I., oder? Sie sind aber früh dran!" Die schrille Stimme entsprang einer zierlichen Dame mit strengem Dutt und eng verschränkten faltigen Händen. Das Persönchen kam ihnen vom Empfang her entgegen und warf einen fahrigen Blick auf die beiden Ausweise. „Ms. Harris und Mr. Roderick sind gerade in einer Besprechung und nicht vor elf Uhr fertig!"

„Meine Kollegin, Ms. Sunell, ist von der Polizei, ja. Ich bin vom FBI und befürchte, uns fehlt die Zeit, Ms. Trubnikova. Würden Sie die beiden bitte unmittelbar herbringen? Und mit dem Abteilungsleiter müssen wir ebenfalls sprechen." Auch wenn Fredericks eine Bitte formuliert hatte, zögerte die Empfangsdame nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie mit einem ruckartigen Nicken nachgab und durch einen langen Flur davoneilte.

Diese FBI-Marke war beeindruckend. Ruby zwang sich, den Kiefer zu lockern und den Agenten nicht mit Blicken aufzuspießen, als er sie wieder einsteckte. Er trug keine Schuld daran, dass Alexander dafür gesorgt hatte, dass sie nie eine tragen würde.

Sobald Ms. Trubnikova genug Vorsprung hatte, setzte Ruby sich in Bewegung und folgte ihr. Sie würde dem FBI zeigen, was sie verpasst hatten! Ihre Augen glitten über die Namen an den meist offenen Türen der Mehrpersonenbüros. So sehr man sich bemüht hatte, die steife Atmosphäre mit Pflanzen und Bildern aufzulockern, so sehr erinnerten die Cubes an kleine Gefängnisse. Oder einen Zoo.

„Was wird das?"

Ruby hatte die Gummisohlen auf Stein wahrgenommen, bevor Fredericks die Frage ausgestoßen hatte.

„Ich sehe mich um. Es müsste ..."

Lopez. Martin. Miller. Nein. Bestimmt im Nächsten.

Noch bevor sie das Schild am hölzernen Türrahmen überflogen hatte, verriet ein Blick in das Zimmer mit acht Schreibtischen, dass sie hier richtig war. Die Köpfe der Männer und Frauen wurden gereckt und Ruby blieb sofort an dem unverkennbaren graublauen Augenpaar hängen, das sie hasserfüllt anblitzte.

„Mr. Hellenbrandt!" Ruby betrat das Zimmer mit einem zu breiten Lächeln. „Wer hätte gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen? Haben Sie eine Ahnung, warum ich heute hier bin?"

„Ich ... ich vermute ... Man hat uns erzählt, dass eine Kollegin ..."

„Ermordet wurde?" Ruby legte den Kopf leicht schief und verschränkte die Arme. Fredericks hielt sich im Hintergrund. Er wusste was gut für ihn war!

„Ja. Das haben sie gesagt. Dass Clarissa gestorben ist." Der helle, sorgsam gestutzte Bart des schlanken Mannes tanze auf dem Spiel der Kiefermuskulatur.

„Wollen Sie uns bekannt machen?" Fredericks klang unverbindlich, doch sie spürte, wie sich die Blicke des FBI-Agenten in ihren Rücken bohrten.

„Sicher. Mr. Hellenbrandt und ich sind uns im Zuge der Ermittlungen begegnet. In der Kirche der Nation of Men, wo er eine führende Rolle bekleidet."

Eine Finanzbeamtin schlug entsetzt die Hand vor den lippenstiftroten Mund und starrte ihren Kollegen mit geweiteten Augen an. Eine wasserstoffblonde Dame wich einen halben Meter zurück und ballte die Hände zu Fäusten.

„Sie haben kein Recht hier aufzutauchen und private Informationen rumzuposaunen!" Mr. Hellenbrandt wusste genau, in welche Lage Ruby ihn gebracht hatte.

„Privat? Oh. Ich hatte bei unserer letzten Begegnung den Eindruck, dass Sie Ihre Mitgliedschaft voller Stolz nach außen tragen! Oder gilt das nur, wenn Sie von einem Dutzend Männer ihrer Gesinnung umgeben sind?"

„Das ist Diffamierung!" Er schlug mit den flachen Händen auf den Tisch und sprang auf. Seine Wangen liefern purpurn an und eine lange verästelte Ader auf seiner Stirn pochte wild.Ruby unterdrückt das breite Grinsen, das sich auf ihr Gesicht zu schleichen versuchte.

„Statt mich anzuschreien, wollen Sie uns ein bisschen was darüber erzählen, wie ihr Verhältnis zu der Toten war? Wusste Clarissa, was Sie in ihrer Freizeit machen? Wollte sie sich deswegen nie mit Ihnen auf einen Cappuccino treffen?" Sie spitze die Lippen und zog mitleidig die Augenbrauen zusammen.

„Ich hab sie nicht umgebracht!"

Die Blondine hatte sich ihre Kaffeetasse geschnappt und zur Tür zurückgezogen, die übrigen Kollegen machten Anstalten ihr zu folgen.

„Was ist hier ...?" Ms Trubnikova war mit drei Personen zurückgekehrt und blieb im Türrahmen stehen.

Ruby ließ sich von der Unruhe nicht stören und lief weiter auf ihr Opfer zu. „Das behauptet ja auch niemand, um Himmels Willen. Ich möchte nur ihr Verhältnis zueinander verstehen. Ob sie mit ihr darüber gesprochen haben, wen sie trifft, da sie es mit Ihnen ja nicht versuchen wollte. Hat sie Ihnen von einem anderen Mann erzählt? Wie ging es Ihnen damit, dass ..."

„BULLSHIT! Das ist Diskriminierung! Mobbing! Ihr kommt her, um .. um uns weiter zu unterdrücken! Das ist eine Schmutzkampagne gegen alle, die mutig die Wahrheit sagen!" Er krallte sich an den Rand seines Cubes, dass die Knöchel weiß hervortraten. „Wir sind die Einzigen, die mutig gegen das System aufstehen! Die Einzigen mit offenen Augen, die versuchen euch blinde Schafe zu retten!" Er stieß seinen ausgestreckten Zeigefinger in Rubys Richtung. Nur wenige Zentimeter von ihrer Brust entfernt verharrte er zitternd in der Luft.

„Blinde Schafe? Meinen Sie damit uns Frauen? Wollen sie mir zum Beispiel zeigen, wo es langgeht?" Sie wusste genau, welche Knöpfe sie bei Typen wie ihm drücken musste. Es überraschte sie nicht, dass der letzte Funke Selbstbeherrschung in seinen Augen erlosch.

„DU bist genau so eine FEMINISTENDRECKSCHLAMPE, wie die, die den Vorfall feiern! Die durch die scheiß Welt laufen, als würde sie euch gehören! Aber sie gehört UNS! Sie ..." Noch bevor er heran war und seine Hände um ihren Hals legen konnte, wich Ruby aus, packte sein rechtes Handgelenk und drehte es mit seinem eigenen Schwung nach oben. Er ließ sich mit einem Japsen auf die Knie fallen, um den grausamen Schmerz zu vermeiden, den die Jui-Juits-Technik in den Gelenken auslöste.

Ruby vernahm wie durch Watte Schreie vom Gang her. Sie griff nach ihren elektronischen Handschellen, doch Fredericks kam ihr zuvor. Er entriss Ruby das Handgelenk, drehte dem Fanatiker die Arme auf den Rücken und legte ihm ein Paar an.

„Das reicht. Wir unterhalten uns auf der Wache weiter!" Der FBI-Agent wandte sich an die Security-Beamten, die sich hektisch an den Steuerfachleuten vorbei drängten. „Verwahren Sie ihn, bis die Kollegen kommen." Er schob den rotangelaufenen Mr. Hellenbrandt einem muskelbepackten Hünen in dunkelgrüner Uniform in die Arme. Mit einem brutalen Ruck riss der Riese den quietschenden Verdächtigen hinter sich her.

„Okay." Ruby stieß zischend Luft aus, die sie instinktiv angehalten hatte und schüttelte die Hände aus. Ihr Puls hatte sich schon fast wieder normalisiert. „Da das geklärt wäre, Sie müssen der Abteilungsleiter für Ermittlungs- und Feststellungsverfahren sein? Mr. Thomas, oder?" Ruby trat an den hageren Mann hinter der Empfangsdame heran und zwang ihre Mundwinkel nach oben. Die Kollegen von Mr. Hellenbrandt zogen sich aufgeregt schnatternd an ihre Plätze zurück.

„J... ja. Mr. Thomas. Der bin ich." Der graue Schnauzer bebte und der leitende Beamte konnte nicht aufhören, seine Brille zurechtzurücken. Als hoffte er, dass seine Augen ihn getrogen hätten und nicht eben einer seiner Leute wegen Angriffs auf eine Ermittlerin abgeführt werden würde.

„Wunderbar. Dann lassen sie uns loslegen! Gibt es einen Besprechungsraum, in dem wir uns ungestört unterhalten können?" Sie sah Ms. Trubnikova an, die sich mit geweiteten Augen umdrehte und mit Mr. Thomas im Schlepptau auf die Milchglastür am Ende des Flurs zuging.

Ruby strich ihr Jackett glatt und setzte sich in Bewegung. Mit einem unauffälligen Schritt verstellte Fredericks ihr den Weg und beugte sich nach unten, dass ihre Nasenspitzen sich fast berührten.

„Wenn Sie so einen Scheiß nochmal abziehen, fahren Sie in Zukunft nicht mal mehr Streife!" Die geflüsterten Worte erreichten kaum Rubys Ohr, doch sie ließen keinen Zweifel, dass der Agent kurz vor der Explosion stand. Ohne sichtbare Regung drehte er sich um und folgte den Finanzbeamten.

Ruby schüttelte den Kopf, um das beklemmende Gefühl loszuwerden. Sie hatte nicht versagt! Sie hatte die losen Enden verknüpft und einen Verdächtigen einkassiert. Dieser FBI-Wichser kam schlicht nicht damit klar, dass sie etwas von ihrem Job verstand. Schnell hob sie die Hand, bevor ihr die sich schließende Milchglastür ins Gesicht knallen konnte. Mit Schwung pfefferte sie das Ding so fest hinter sich zu, dass die Scheibe schepperte und Mr. Thomas einen kleinen Satz machte.


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