1.1 Hamsterlutschen ist ein No-Go

„Scheiße!" Ruby bremste abrupt, nachdem sie die ersten drei Stufen der Treppe hinabgesprungen war, und machte kehrt. Hektisch zog sie den Wohnungsschlüssel hervor und schaffte es beim zweiten Anlauf, die Tür zu ihrer Wohnung zu öffnen. Wollmäuse stoben auf, als die schwarze Tasche aus Lederimitat neben dem Schuhschrank zu Boden fiel. Nach zwei Schritten stieß sie die Badezimmertür auf und das Krachen von Klinke auf Fliese mahnte zur Ruhe. Wenn sie hier auszog, wollte sie ihre Kaution wieder haben. Ungeduldig drückte die 36-jährige Zahnpasta auf die Bürste und ignorierte den schmutzigen Kaffeebecher neben dem Wasserhahn ein weiteres Mal.

Ohne Haarewaschen konnte Ruby den Tag überstehen, aber wenn sie die Zähne nicht gründlich abschrubbte, hätte sie den ganzen Tag das Gefühl an einem Hamster zu lutschen. Pelzigkeit im Mund war ein absolutes No-Go und zerstörte die Konzentration, die sie so dringend brauchte!

Nervös sah sie auf die Uhr. Der Anruf war kaum fünfzehn Minuten her. Lennard hatte sie aus dem Schlaf geklingelt. 'Er hat wieder zugeschlagen. Ich schick dir die Adresse. Ruf mich an, wenn du unterwegs bist.' Ohne ihr die Chance zu geben eine Frage oder Antwort loszuwerden, hatte ihr Kollege aufgelegt.

Er. Der Mann, der ihr schlaflose Nächte bereitete. Nicht auf die gute Weise. Gedankenverloren strich sie sich eine glatte dunkelbraune Haarsträhne aus dem blassen Gesicht. Mit heute waren es sechs Frauen, die er innerhalb von knapp zwei Jahren auf dem Gewissen hatte. Sechs von denen sie wussten. Und er hatte ihnen weit mehr als das Leben genommen.

Sie sammelte ihre Tasche auf dem Weg nach draußen auf und sprintete die drei Treppen hinunter ins Erdgeschoss.

„Das Taxi wartet schon auf dich." Die Pförtnerin nickte ihr freundlich zu. Ruby erwiderte den Gruß wortlos. Sie mochte Chloé, aber ihr war nicht nach Smalltalk. In Gedanken war sie schon bei dem Leichnam und grübelte, wie er ihn dieses Mal entstellt hatte.

„Anruf Lennard Gruner!", befahl sie, sobald sie die gelbe Tür hinter sich zugeknallt hatte und die Beschleunigung sie in den Sitz drückte. Die Elektronik koppelte sich sofort mit ihrem Smartphone und nach wenigen Sekunden ertönte seine Stimme aus den Lautsprechern des selbstfahrenden Autos.

„Das war selbst für deine Verhältnisse schnell. Ich bin eben erst zur Tür raus."

Bremsen quietschten und Ruby wurde nach vorne gerissen. Eine Gestalt in grauem Regenmantel war ohne hinzusehen über die Straße gerannt und hatte das Auto zu einer Vollbremsung gezwungen. Langsam setzte es sich wieder in Bewegung.

„Ich biege grad in die Lexington ein." Ruby blickte die wenig befahrene Straße entlang und dem großen Mann hinterher. Sie liebte die Turtle Bay. Normalerweise war es hier so ruhig, dass man fast vergessen konnte, wie nah der ganze New Yorker Trubel war. „Wie hast du so schnell einen Sitter für Sophie und Lizzy herbekommen? Ist es nicht zu früh für die Schule?" 

„Meine Mum ist eingesprungen. Sie ist eh jeden morgen um vier Uhr wach."

„Gut. Wer ist das Opfer? Wie wurde sie gefunden?"

„Clarissa Spencer." Etwas raschelte in der Nähe seines Mikrofons. Der alte Mann konnte sich diese seltsame Marotte, Akten auszudrucken, offenbar nicht ablegen. „Ihre Nachbarin hat um drei Uhr früh einen Mann das Haus verlassen sehen und ..."

„ER WURDE GESEHEN?"

„Beruhig dich! Nur durch einen Vorhang und von hinten. Auf den ersten Blick nichts, was wir nicht schon wissen. Wenn sie ihm wirklich begegnet wäre, würde sie jetzt neben ihrer Nachbarin liegen."

„Fuck!" Ruby sackte auf ihrem Sitz zusammen.

„Das Opfer hatte nie Männer zu Besuch. Deswegen hat Ms. Leach geklingelt und ist mit dem Schlüssel für Notfälle rein."

„Hat sie den Tatort verunreinigt?"

„Das müssen wir sie fragen, aber es hat sich so angehört, als wäre sie rückwärts wieder rausgestürmt und hätte die ganze Nachbarschaft und unsere Zentrale zusammengebrüllt."

„Shit. Ist die Spurensicherung schon vor Ort und haben ..."

„Ruby, ich hab' keinen Schimmer! Ich will nur das Vorgehen klären!", unterbrach er sie scharf. Ihre Hände ballten sich automatisch zu Fäusten. „Das FBI ist involviert. Der Jet ist gerade in Washington gestartet. Du hast deine Profiler-Fortbildung da gemacht und weißt, wie sie ticken. Ich möchte, dass du die Zusammenarbeit mit der Verstärkung koordinierst und die Informationen zusammenführst. Es darf keine Reibung geben! Die Geschwindigkeit, mit der er zuschlägt, nimmt rasend zu. Wir können keine weitere Frau verlieren! Schon gar nicht auf diese Weise! Die Medien schüren Angst und der Druck wird mit jeder Toten größer. Wir müssen ihn kriegen! JETZT!"

Sie lauschte dem schweren Atmen ihres Partners. Wie lange er diesen Job wohl noch machen konnte, wenn er in jedem Opfer seine bei dem Vorfall verstorbene Frau sah? Und in jedem Täter ihren Mörder.

„Das werden wir. Ich schwöre, wir kriegen ihn!" Ruby schluckte eine pampige Erwiderung herunter. „Ich kümmere mich um die Feds und sehe zu, dass es keine Reibung zu unseren Leuten gibt."

„Okay, danke. Bis gleich." Seine Stimme klang belegt und Ruby trennte die Verbindung.

Gedankenverloren scrollte sie über den kleinen Bildschirm. Auf dem Dienst-Account ihres Handys waren alle Fotos, Scans Videos, Notizen und Memos zum aktuellen Fall. Sie kannte jedes Dokument auswendig. Jeden der unendlich vielen Krümel, die in beliebige Richtungen führten.

Ob er auf seinem Weg zu den Opfern in die öffentlichen Mülleimer griff und Getränkedosen schnappte, um ihnen fremde DNA unterzujubeln? Nahm er auf der Straße gezielt Flyer entgegen, um sie auf die Spur von Sekten, politischen Organisationen oder Verschwörungstheoretikern zu lenken? An jedem Tatort hatten sie ein Sammelsurium von willkürlich zusammengewürfelten Gegenständen gefunden und fanatisch waren sie jedem Hinweis gefolgt. Doch, so tief sie auch gruben, es führte alles in Leere.

Gerade hatte sie den Central Park durchquert, als Ruby erstarrte. Das Auto steuerte die Staatsstraße 9a an, die sie am schnellsten aus dem Zentrum bringen würde. Sie hatte nicht daran gedacht die Instruktion, den Broadway zu meiden, an das Auto weiterzugeben. Unfähig den Blick abzuwenden, starrte sie die Straße entlang, auf der ihre Schwester zucken zusammengebrochen und vor ihren Augen gestorben war.

Hilflos packte Ruby den herzförmigen Anhänger ihrer Halskette. Bohrte den kleinen spitzen Rubin tief in ihre Handfläche. Wie immer, wenn die Verzweiflung sie zu überwältigen drohte. Das Schmuckstück war das letzte Geschenk von Lucy. Zum einunddreißigsten Geburtstag. 'Ein Rubin für Ruby.' Sie verzog die Lippen zu einer Grimasse zwischen Lachen und Weinen, bei der Erinnerung, wie schelmisch ihre Schwester bei dem dummen Spruch gegrinst hatte.

Es war fast fünf Jahre her, doch ihr Tod hatte nichts von seinem Schrecken verloren. Wie der Bus führungslos in ihre Lieblingsbuchhandlung Barnes & Nobles gekracht war. Wie sie und Lucy hingerannt waren, um zu helfen. Wie ihre große Schwerster die Passagiere aus dem Bus gezogen hatte und ihr kurz darauf selbst Blut aus Augen und Ohren gelaufen war.

Früher hatten die Leute sich eifrig gegenseitig gefragt, was sie getan hatten, als die Atombombe auf Hiroschima gefallen war. Oder in jüngerer Zeit ‚wo warst du am 11. September?'. Diese Monumente des Schreckens hatten sich tief in das Bewusstsein der Menschen eingegraben.

Doch, obwohl jede Person auf diesem Planeten wusste, was sie am 10. April 2027 getan hatte, wurde man nie danach gefragt. Als hätte man eine kollektive, weltumspannende, nonverbale Vereinbarung getroffen ihn nicht zu erwähnen. Den Vorfall. Die apokalyptische Katastrophe, die im Lauf einer Woche die halbe Menschheit ausgelöscht hatte.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top