~Kapitel 15~
Nach dem durchaus anstrengendem und nervenaufreibendem, aber auch absolut befreiendem Training ließ Shawn mir ein Badewasser ein und nachdem wir meine Verletzungen sauber gemacht und eine Kleinigkeit gegessen hatten, stieg ich schließlich in das heiße Wasser, dankbar darüber, dass er mir nach all dem trotzdem meinen Freiraum lassen konnte.
Mein Kreislauf brauchte einen Moment, bis er sich an den Umschwung gewöhnt hatte, doch nach ein paar Sekunden, ließ ich meinen Kopf gegen den Rand der Wanne sinken und atmete tief aus.
Ich ließ meine Hand durch das Wasser gleiten, schob den Schaum von der einen auf die andere Seite und fixierte meinen Blick letztlich auf mein Handgelenk. Ich hob es mir näher vors Gesicht und musterte jede feine Linie der kleinen Schwalbe, ignorierte meine demolierten Knöchel.
Ist der Mensch ein Magnet? Ziehe ich das an, was ich erfahre?
Mein Leben lang war ich auf das vorbereitet, was mir blühte. Ich wusste was geschah, wenn ich nicht auf das hörte, was mein Vater von mir verlangte. Ich war genau so aufgewachsen.
Hatte ich all das mit meiner inneren Einstellung angezogen?
Den ersten Lichtblick hatte ich erfahren, als Connor entschieden hatte nicht weiter zu laufen, sondern nach mir zu sehen, als ich am Boden neben der Mülltonne landete. Er war meine Hoffnunf und ich hatte angefangen daran zu glauben, es gäbe andere Menschen da draußen und dass es Liebe und eine Zukunft für mich gab.
Darauf folgte eine Reihe an guten Ereignissen.
War ich also selbst schuld, jetzt wieder an diesem Punkt zu sein? War ich dafür verantwortlich, dass der Plan schief gegangen ist? Weil ich nicht genug daran geglaubt hatte, dass Alles gut gehen würde?
War es meine Einstellung, die mich nun wieder an den Boden gezogen hatte?
War dies eine unaufhörliche Kettenreaktion, die nur ich selbst durchbrechen konnte?
Erst die Sache mit Benton, der Test der schlecht gelaufen ist, die dummen Bemerkungen meiner Mitschüler. Was kam als nächstes? Tauchte mein Vater hier auf und brachte uns Alle um?
Shawn hatte recht, mit einem Ereignis stand ich wieder am Anfang. Bewegte er sich schnell oder hob die Stimme gegen mich, zog sich mein Herz ängstlich zusammen, ich biss mir auf die Lippe, entschuldigte mich und konnte seinen Blickkontakt nicht halten.
Ich zerstörte mich selbst, musste mich ständig übergeben und tat mir schwer, etwas zu essen.
Doch andererseits bin ich gestern und heute Morgen aufgestanden, obwohl es schwer war. Ich habe die Tests geschrieben. Noch dazu konnte ich mich gegen meine Mitschüler wehren. Ich hatte ihre Worte nicht einfach auf mir sitzen lassen, ich hatte das Mädchen auf dem Pausenhof stehen lassen, ihr gar nicht die Chance gegeben mir weiter weh zu tun. Ich kam nach Hause und hab meine Wut aus mir heraus trainiert. Ich hatte mich Shawn gegenüber geöffnet, obwohl es schwer war und hatte meine Gefühle rausgelassen.
Vielleicht war ich nicht wieder am Anfang.
Ich krallte meine Hände in die Ränder der Badewanne und ließ mich immer weiter hinunter sinken, bis sich mein Kopf schließlich unter Wasser befand.
Und mit einem Mal war es still um mich herum. Keine Stimmen, keine Geräusche, keine Gedanken die auf mich einprasselten. Nur die Stille und mit ihr ein Gefühl von Nichts. Kein Schmerz, keine Angst, keine Last, die mich runter drücken konnte.
Das angenehme Nichts umgab mich und entspannte jeden meiner Muskeln.
Es war als würde die Zeit für einen Moment stehen bleiben, als würde die Welt sich aufhören zu drehen.
Nur für diesen einen Moment absoluter Ruhe, für den Moment in dem ich Kraft tanken konnte und die Welt, das Leben und den Schmerz hinter mir lassen konnte. Es fühlte sich magisch an, besonders und schwerelos. Als würden die Kräfte der Natur anders funktionieren unter Wasser, als wäre ich in einer komplett anderen Welt.
Fernab von all dem Bösen, das da draußen lungerte.
Doch die Ruhe war nur temporär. Ich spürte eine immer größere Anspannung meines Kopfes, meine Lungen zogen sich zusammen und die Luft wurde knapp. Mir blieb keine andere Wahl, ich musste wieder auftauchen. Ich konnte nicht unter Wasser bleiben. Ich würde sterben.
Und so war das mit dem Leben doch auch, oder nicht? Man durfte sich eine Auszeit nehmen, es war okay vorzeitig den Kopf in den Sand zu stecken, doch das Leben fand an der Oberfläche statt.
Würde ich mich verkriechen und Benton, mein Dad oder die Leute aus der Schule gewinnen lassen und zulassen, dass sie mich unter die Oberfläche drückten, würde ich früher oder später sterben.
Es war okay, ich durfte mich verstecken und für einen Moment all das da draußen vergessen, doch ich musste wieder auftauchen.
Denn das Leben war die Luft und das Leben war nie einfach, doch es wird es eines Tages Alles wert sein. Der Schmerz, die Stimmen, die Gedanken werden es Wert sein.
Ich musste auftauchen, um zu leben, ich musste atmen, um zu leben. Ich musste weitermachen. Und ich werde wieder untertauchen, ich werde mich verfluchen jemals wieder aufgetaucht zu sein. Doch so wie die Ruhe, so war auch der Schmerz temporär. Meine Güte, wie vorübergehend der Schmerz doch war.
Deswegen vergaßen wir das Gefühl des Schmerzes immer wieder. Deswegen vergaß eine Mutter die Schmerzen einer Geburt, wenn sie ihr Kind im Arm hielt. Deswegen vergaß ich, wie sich die Nadel in meiner Haut anfühlte, als Trevor mir die kleine Schwalbe geschenkt hatte. Deshalb fühlten sich die Narben auf meinem Rücken härter und robuster an, als der Rest meiner Haut.
Weil Schmerz so verflucht temporär war in diesem Leben. Und wenn ich ehrlich sein soll, hatte mich Shawn in den letzten Monaten bereits all die Schmerzen der letzten Jahre vergessen lassen.
Das Wasser war meine Ruhe, doch er war meine Luft zum Atmen. Er war der Grund wofür ich atmete. Und auch wenn ich immer dachte, dass es Umstände im Leben gab, die man nur schwer ändern konnte, war er jedes Risiko wert.
Er wird jeden Schmerz dieser Welt wert sein. Er ist mein Schicksal, die Antwort auf all meine ungeklärten Fragen, die Linderung meiner Schmerzen, mein Herzschlag und Alles was ich je gebraucht hatte.
Ruckartig setzte ich mich in der Badewanne auf und atmete hektisch die Luft ein, die zuvor knapp geworden war.
Noch immer umgab mich Ruhe, ich konnte nur meine eigene Atmung hören, konnte sehen wie sich mein Brustkorb hob und senkte.
Ich funktionierte, ich war dazu im Stande zu leben.
Ich hätte gar nicht unter Wasser bleiben können, denn mein Überlebensinstinkt hätte mich immer und immer wieder an die Oberfläche gezogen. So war es und so wird es immer sein. Ich war hier um zu leben, zu atmen und zu gewinnen.
Denn die Oberfläche gehörte mir. Ab heute gehörte die Oberfläche mir.
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Nova startet mit neuem Lebensmut in die nächsten Kapitel. Was denkt ihr, wie es weitergeht?
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