XXXV; [komoru]
"Mach doch auf Ryoyu!"
Er schreckte hoch.
Sein Herz pochte und seine Brust hob sich schnell.
Noch verschlafen, rieb er sich die Augen und versuchte sich zu orientieren.
Währenddessen klopfte es weiter an der Tür.
Wo bin ich?
Mit der Seite an sein Bett gelehnt und zusammengekrümmt, konnte er sich in seiner Wohnung wiederfinden.
Wie er hierher gefunden hat, war ihm ein Rätsel.
War ich doch nicht bei der Brücke?
Dennoch stemmte er sich auf, seine Knochen krachten und sein Kopf pochte. Überrascht vom Schwindel, torkelte er einen guten Meter zur Seite, um mit der Hüfte an die Küchenzeile zu krachen.
Er beugte sich etwas dem Schmerz, richtete sich dennoch auf, um dem nervenden Hämmern ein Ende zu geben.
Mit einer Hand riss er die Tür auf.
Yuka stand unter dem Türrahmen, eine Hand gehoben und zur Faust gemacht, war sie dabei gewesen erneut zu klopften. Doch vorerst wurde sie etwas bleich im Gesicht.
"Ach Gott", hauchte sie hervor und streckte ihre Hand langsam ihm entgegen.
"Wo warst du gestern", fuhren ihre Finger über die verkrusteten Stellen an seiner Wange und das eingetrocknete Blut.
"Ich weiß es nicht", kam es in gleicher Lautstärke hervor.
Ryoyu machte einen Schritt zur Seite, um Yuka Eintritt zu gewähren und zugleich wenig unhöflich ihre Hand von seiner Haut zu bekommen. Berührungen von einer Frau trugen einen bitteren Beigeschmack, da er sich zu sehr danach sehnte, jedoch sie von der falschen bekam.
Seine Schwester trat ein und schloss die Tür hinter sich.
Sie sah Ryoyu nach, wie er an der Spüle sich Wasser einschenkte.
Ihr Blick wirkte, als hätte sie einen Geist gesehen, war es lediglich Ryoyus abgemagerter Körper, der ihr Angst bereitete.
"Ich kann dir leider nicht viel anbieten", seufzte Ryoyu und stellte sein Glas zur Seite. Ein Berg Geschirr hatte sich angehäuft und sich noch niemand dazu bereit erklärt, es zu spülen.
"Das ist nicht so wichtig", versuchte sie endlich ein Lächeln aufzusetzen und stellte ihren schweren Rucksack in die Ecke.
"Was machst du eigentlich hier?", war Ryoyus Kopf noch langsam im Denken, während er sich verwundert über die Unterlippe fuhr, die zwei Schnitte mit Krusten trug.
Was zum Teufel hab' ich gemacht.
"Ich wollte nach dir sehen", entkam es ihr hastig, "du warst nicht beim Training, hab ich von Naoki erfahren."
Ryoyu kratzte sich am Hinterkopf, seine Augen zu kleinen Schlitzen zusammengekniffen, versuchte er scharf nachzudenken.
Warum weiß ich nichts mehr.
"Wann hätte ich zum Training sollen", sprach er seine Gedanken laut aus und setzte sich an den Tisch; Yuka ihm gegenüber.
Er konnte sich daran erinnern, dass Junshiro, als er mit Taku gestritten hat, gerade vom Teamurlaub zurückgekommen sein müsste.
Ryoyu hatte sich kein genaues Datum gemerkt, da ihn dieser Urlaub nicht gekümmert hat, doch er wusste, dass danach für einen Tag Trainingspause war; wie jedes Jahr.
"Gestern und heute?", versuchte Yuka seinen grauen Gehirnzellen nachzuhelfen, doch auch dies scheint nicht zu gelingen und sie versuchte endlich ihren verwunderten Blick abzulegen.
"Wo bist du gewesen, Ryoyu", sammelten sich langsam Tränen in ihren Augen, die er nicht verstand.
Doch sie fühlte sich grauenvoll, Naoki nicht geglaubt zu haben, dass etwas in Ryoyu vorging, was sie nicht außer Acht lassen sollten; dass er mit sich selbst trank.
Nun war sie selbst Zeuge. Es roch wie in einer Bar am Höhepunkt des Abends, der größte Teil des Alkohols am Boden verschüttet und Ryoyu saß vor ihr mit einem Filmriss so groß wie der Grand Canyon breit.
"Ich weiß es wirklich nicht", zuckte er mit den Augenbrauen. Ryoyu sah Yuka zu, wie sie sich hastig die Tränen weg strich und nun ein Lächeln aufsetzte.
"Also, ich wollte dir für ein paar Tage Gesellschaft leisten", lächelte sie breiter und Ryoyu zeigte skeptisch mit einem Finger auf sie.
"Du willst doch nur meine zweite Matratze testen", begann er zu schmunzeln und Yuka zuckte unschuldig mit den Schultern.
"Aber vorher brauchen wir noch was zu Mittag und da habe ich schon vorgesorgt."
Sie zeigte auf ihren Rucksack und Ryoyu nickte nur. Sein Kopfschmerz wurde mehr und langsam unerträglich.
Er hastete leicht humpelnd ins Badezimmer, während Yuka damit beschäftigt war, sich mit der Küche vertraut zu machen.
Wo bin ich wirklich gestern gewesen?
Kann ich mich einfach nicht erinnern?
Er schaltete das Wasser ein und begann sich dieses über dem Gesicht zu verteilen.
Als er seinen Kopf hob und sein Blick kurz den Spiegel streifte, erschauderte er.
Seine Hände an das Waschbecken geklammert, lehnte er sich weiter dem Spiegel entgegen und klapperte mit den Augen jeden noch so kleinen Punkt in seinem Gesicht an.
Ich sehe aus, als hätte ich mich mit jemanden geprügelt und eine Eisenstange an die Stirn bekommen.
"Was ist so schwer daran, sie zu vergessen, hm?!"
Er biss sich auf die Zähne und kniff die Augen zusammen. Sein Kiefer spannte sich mit dem immer stärker werdenden Pochen seines Kopfes im Wettrennen an.
Ich kenne diese Stimme.
Was ist nur passiert.
Ryoyu löste die Muskeln und schaltete das Wasser ab. Ein Schauer lief über seinen Rücken.
Als er sich erneut im Spiegelbild betrachtete, diesmal die Platzwunde an der Stirn und das daraus geflossene, an seiner rechten Gehirnhälfte getrocknete Blut, reaktivierte sich der nächste Fetzen in seinem Kopf.
"Wer bist du, dass du mir das verbieten kannst!"
Meine Stimme.
Etwas paralysiert kam er aus dem Badezimmer und seine Augen visierten langsam die Tür an. Sie zog ihn magisch an. Um seine innere Neugier zu beruhigen wusste er, dass er seinen Weg zurückverfolgen muss.
"Ryoyu?"
Er schreckte aus seinen Gedanken und spielte bereits mit den Händen.
"Mir ist gerade eingefallen, dass ich keine Sojasauce mehr habe", wanderte er auf seine Schuhe zu, in die er schlüpfte, verbiss sich den Schmerz, der von seinem Knie ausging.
Yuka sah etwas verwundert in die volle Flasche in ihrer Hand, schaffte es jedoch nicht, ein Wort hervorzubringen.
"Bis später", war die Tür hinter ihm zu; er verließ die Wohnung ohne Schlüssel, ohne Geld.
Langsam ging er über die Treppen nach unten. Der Hall im Treppenhaus schmerzte.
Doch es kamen Erinnerungen zurück.
Ich hatte Angst, furchtbare Angst.
Und ich hatte Schmerzen.
Als sein Blick auf sein zerkratztes Schienbein fiel, brachte es ihn erneut einen Teil zurück.
Ich bin über die Treppen nach oben gestolpert. Ich bin weggelaufen.
Aber vor wem?
Ryoyu hatte bereits zwei Stockwerke abgeklappert. Er bewältigte das nächste.
Aber was hat mir solch eine Angst eingejagt, dass ich weggelaufen bin.
Ich war doch betrunken, oder?
Aufschluss auf seine Frage bekam er selbst am Hausausgang nicht.
Er klammerte seine Hand an die Türklinke und verharrte.
Ich habe die Tür aufgerissen, als würde mich jemand umbringen wollen.
Aber wer?
Ryoyu überquerte die Straße und steuerte auf die Brücke zu. Vielleicht waren dort die verlorenen Puzzleteile.
Er irrte herum, wie ein verlorener Fremder.
"Lass mich tun was ich will!"
"Du hast keine Ahnung wie kompliziert das ist!"
Er kam zur Parkbank und als er dort die Flasche stehen sah, durchfuhr die Überkeit seinen Magen.
Von Shochu hab ich für lange Zeit genug.
Das Knistern von Scherben unter seinen Schuhsohlen ließ ihn aufhorchen.
Ich habe jemanden geschubst und er ist über die Scherben gerutscht. Das Knirschen klingt genau gleich.
Sein Blick drehte sich zum Fluss, wie er wieder höher stand und vor sich hin plätscherte.
"Was machst du da?!"
Ryoyu warf es beinahe von den Füßen, als die lebhafte Erinnerungen ihn an den Anfang brachte.
Junshiro hat mich von der Brücke gerissen. Er hat mich angeschrien, ob ich dumm wäre, ob ich sie nicht vergessen könnte.
Dann hab ich ihn geschubst.
Es war dieses Feuer in seinen Augen.
Und er hat geschrien, als würde er mich hassen.
Doch warum fehlt immer noch ein Teil. Er ist verschwommen, als würde ich ihn nicht sehen dürfen.
Sein Blick wendete sich vom Wasser unbewusst ab, als würde er die Erzählung hautnah miterleben.
Ach Gott, warum habe ich ihn geschlagen. Das wollte ich doch nicht.
Ryoyu schüttelte den Kopf verzweifelt, von sich enttäuscht, seinen Bruder eine kräftige Ohrfeige verpasst zu haben. Doch die Geschichte in seinem Kopf machte nicht Halt deswegen.
Er hat mich zurückgeschlagen...wir haben uns geprügelt wie dumme Schulkinder.
Ich habe Angst bekommen und bin...ich bin einfach weggelaufen.
"Ryoyu, bleib stehen!"
Ich bin in den Wohnblock gerannt, als würde Junshiro mich umbringen wollen. Mein Gemüt hat von Rachsucht auf Angst umgeschaltet.
Junshiro hat unberechenbar gewirkt...er hat auf mein Gesicht eingeschlagen...
Ich will das nicht mehr sehen.
Eine Träne kullerte über seine Wange, während er zu laufen begann. Er fühlte sich, als wäre er gerade in dieser Situation, vor zwei Tagen.
Und obwohl Junshiro nicht hier war, verspürte er diese Angst bis in die Knochen.
"Bleib stehen!"
Seine Stimme war durch das Stiegenhaus gehallt.
Ich habe nicht geantwortet...ich bin nur gelaufen...um mein Leben.
Und dann?
Wo kommt diese Platzwunde her?
Außer Puste kam er vor seiner Wohnungstür zum Stillstand. Er klopfte, nach Luft ringend, während Yuka hörbar angelaufen kam und ihm öffnete.
Er wäre sie beinahe zusammengelaufen, als er in seinen Kopf vertieft war. Yuka betrachtete alles still.
Ich hab die Tür zugeworfen...Junshiro hat daran gehämmert, wie ein Irrer.
Danach bin ich ins Badezimmer gelaufen und habe mich angesehen...doch...ich habe nicht viel gesehen. Tränen haben meine Sicht verschleiert.
Und wo ist der Rest?
Wo ist der verschwommene Teil, von wo kommt diese Wunde. Ich...
Ryoyu sah auf sein Bett und wanderte an die Stelle, an der er aufgewacht war. Am Bettgestell erinnerte nur ein roter Fleck das Aufkommen des jungen Mannes, der dadurch in die Bewusstlosigkeit befördert worden war.
Aber wo ist der verschwommene Teil, ich will ihn zurückhaben. Er scheint wichtig zu sein.
Ryoyu ließ sich auf dem Tisch nieder und schüttelte sich aus den Gedanken.
Er wird schon wiederkommen.
"Alles gut bei dir?"
Er hob den Kopf und nickte stumm, während ein wundervoller Duft in seine Nase stieg. Er hatte seit langem wieder Hunger.
"Was kochst du da?"
"Mamas Rezept für Ramen", lächelte sie stolz, doch veränderte sich ihre Miene als sie im Topf rührte, "Apropos Mama, sie hat gefragt, ob wir nicht in vier Wochen zu einem Familienessen kommen können. Wenn wir schon alle in Japan sind."
"Das ist kompliziert in unserer Familie und das will ich dir.....!"
Verwirrt kratzte Ryoyu sich am Hinterkopf, gab seinen Erinnerungen jedoch Zeit, sich zu entfalten.
Ob wichtig oder auch unwichtig, irgendwann werde ich den Anstoß schon bekommen.
"Warum eigentlich nicht", rieb er sich über sein rechtes Knie. Das Schienbein sah aus wie ein zerbombtes Schlachtfeld, doch er kannte diesen Schmerz. Es war wohl wieder Zeit, dass sein Knie, geschädigt von einem Sturz in seiner Jugendkarriere, eine kräftige Bandage bekam, damit die Enden seiner Bänder sich wieder zusammenrissen und er nicht unters Messer musste, jetzt, wo er keine Zeit dafür hatte.
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