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"Wo warst du", hastete Yuka ihm hinterher, während er nur missmutig den Weg vor seinen Füßen musterte, um nicht noch zu stolpern und den Fuß zu verdrehen.

Seine Bänder um das Knie schmerzten, brannten wie Feuer und er hinkte wie ein alter Mann der knapp vor seiner Hüft-OP stand und alles was seine Schwester schaffte war, ihm das Leben noch mehr zur Hölle zu machen, als es sowieso schon war.

"Irgendwo", murmelte er desinteressiert hervor und hatte Mühen sein Bein zu heben und das Knie so abzuwinkeln, dass er in die U-Bahn steigen konnte.

Doch wenigstens war Yuka verstummt, da es in der Bahn so leise war, dass man, wenn nicht die Bahn selbst durch den Luftsog im Tunnel so einen Lärm veranstaltete, eine Nadel fallen hören könnte.

Ryoyu wusste wo er gewesen war und dass es verdammt nochmal ein Fehler war, alleine den Gedanken daran zu verschwenden, dass er noch einen Hauch an Chance bei ihr hatte.

Warum bin ich so ein Idiot und habe geglaubt, dass sie mich mit offenen Händen empfängt.
Aber warum flucht sie dann Japanisch und so gut?
...
Ich versteh' die Welt nicht mehr.

Die beiden stiegen bei der übernächsten Haltestelle aus und Ryoyu hastete voraus, als wäre er einem Actionfilm entsprungen; aus dem vierten Stockwerk gefallen, angeschossen und suchte nach Rache und so nebenbei nach einem Krankenhaus.

Können sie mir dieses verfluchte Bein nicht amputieren?
...
Was würde Mona dazu sagen.

"Hast du deine Schiene nicht getragen, hm? Du humpelst ja wie Vater wenn er zu lange gesessen ist."

Ich hab aber keine Kalkablagerungen. Ich bin nur zu inkompetent über Treppen zu steigen.

"Vielleicht", hauchte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und sprang mit einem Bein auf die Rolltreppe.

Das wäre alles nicht passiert, wenn du Chiyoko vielleicht von mir abgehalten hättest.

"Warum sagst du mir nicht, wo du gewesen bist."

Ryoyu rannte nur stur weiter, als sie oben angekommen sind, in Richtung Wohnblock.

Am liebsten würde er Yuka einfach zurücklassen, doch in seinem Tempo und dem Zustand, war wenig möglich dies zu erreichen.

Und warum wirkt sie so, als würde sie sich Sorgen um mich machen.
Ich will das nicht.
Ich komme ganz gut allein zurecht.

Sie stiegen in den Aufzug.

Ryoyu hatte seinen Kopf gesenkt, Yuka hingegen klopfte gestresst an den Handlauf im Aufzug.

Warum bin ich eigentlich wieder nachhause?
Ich hätte es doch vielleicht nochmal versuchen sollen.
Aber offensichtlich wollte sie mich nicht mehr sehen...oder doch?

Er stürmte aus dem Aufzug und nahm seinen Rucksack vom Rücken. Wild darin herum krammend, wo er seinen Frust hinein packte, der gar nicht nötig war, fand er schließlich den Schlüssel, der klimpernd vor seinen Füßen zu Boden fiel.

Er schnaubte genervt und hatte die Zähne bereits knirschend aneinander gedrückt, beugte er sich nach vor – das geschiente Bein nach hinten gestreckt – und brauchte drei Anläufe, bis er mit dem Finger den Schlüsselring schnappte.

"Wo bist du gewesen, Ryoyu?", begann Yuka ihr Fragenrad von vorne.

Er warf die Tür auf, seinen Rucksack in eine Ecke und wollte nur mehr geradewegs auf das Bett, als er an der Küchenzeile streifte und etwas ruckeln hörte. Aus dem Instinkt drehte er sich zur Seite und wollte den Gegenstand am Sturz hindern.

Er griff nach dem Bilderrahmen und erstarrte, als er langsam zu realisieren begann, was er zwischen den Händen hielt.

Das Bild war dasselbe, nur der Bilderrahmen ausgetauscht, da er das Glas des Alten mit den Wurf an die Wand zerstört hat.

Naoki muss es repariert haben.

"Wir haben nach dir überall gesucht."

Ryoyu schaffte es noch nicht seinen Blick von diesem Gesicht auf dem Bild zu trennen, weder noch seine Hände vom Rahmen zu lösen, die sich festklammerten als würden sie dort kleben.

Die Tür stand immer noch sperrangelweit offen und Yuka in dieser, als jemand leise die Wohnung betrat.

"Warum redest du nicht mit mir", flehte Yuka ihn an, worauf Ryoyu seinen Kopf hob, dem sichtlich die Tränen in den Augen schwammen.

Sein Magen hat sich schon wieder zusammengezogen wie ein Gummiband, dass er die Krönung der Überkeit verspürte.

"Weil ich es einfach nicht will", knurrte er zwischen den Zähnen hervor und seine Augen visierten wieder das Bild an. Er konnte seine Augen davon nicht lassen.

"Bist du bei ihr gewesen?", meldete sich die zweite Person zu Wort, die Ryoyu erst jetzt bemerkte.

Sein Blick fiel in sich zusammen und er sah zu Junshiro, der im Türrahmen stand. Yuka schenkte auch ihm Aufmerksamkeit, doch wirkte zu überfahren von seiner Aussage, als ihn zurechtweisen zu können.

"Was geht dich das an", zischte Ryoyu bedrohlich hervor. Seine Augen blitzen scharf, als würde er Junshiro damit umbringen wollen.

"Wir haben ein Recht zu erfahren, wo du gewesen bist", sprach er, als würde ihr Vater leibhaftig vor ihnen stehen.

"Ich habe dir keine Rechenschaft abzulegen."

"Also bist du bei ihr gewesen", schnaubte er leicht abwertend wirkend seine Strähnen aus der Stirn, "Habe ich dir nicht gesagt, dass du die Finger von ihr lassen sollst!"

"Lass mich doch in Ruhe!"

Yukas Hand klammerte sich an Ryoyus Handgelenk, der drauf und dran gewesen war, das Bild zu werfen.

"Mach das nicht", versuchte sie leise ihm gut zuzureden, doch als Ryoyu nur beim kleinsten Blick seinen Bruder streifte, gingen seine Nerven mit ihm durch.

Er riss sich von Yuka los und im nächsten Moment hörte man auch schon das Glas an der Wand zerschellen. Ryoyu schrie sich die Seele aus dem Leib.

Es klang, als wäre es den ganzen Sommer aufgestaut, bevor er zu einem kleinen Häufchen Elend zusamnensackte und zu weinen begann.

"Lasst mich alle in Ruhe! Ich will euch nie wieder sehen! Ich hasse euch!!!"

Jemand stieg über die Scherben und bat höflichst, der Aufforderung zu folgen. Yuka war vorerst noch etwas skeptisch, verließ jedoch nach Junshiro die Wohnung, die nun verschlossen wurde.

Ryoyu hob leicht seinen Kopf und erkannte Nakamura, der mit seinem leichten Lachen die Sorgen unterdrückte, die ihm Ryoyu machte.

"Tut mir leid, dass ich das Bild vorbeigebracht habe", seufzte er und sah zum Scherbenmeer am Boden, unter seinen Schuhen, "aber ich dachte, es würde dir vielleicht helfen."

Er zog sich den Rahmen näher und holte das Foto zwischen den zerbrochenen Glasscherben hervor, bevor er es kurz betrachtete.

"Und auch wenn Junshiro sagt, du sollst deine Finger von Mona lassen", seufzte Naoki, "würde ich mich mit ihr so lange treffen, bis ich der Überzeugung bin, dass ich alles menschenmögliche getan habe, um mit mir eins zu sein."

Ryoyu senkte den Kopf und weinte. Seine Hand krallte sich an den Ärmel von Nakamura, der ihm unterstützend eine Hand auf die Schulter gelegt hatte.

Und Ryoyu weinte das erste Mal aus Erleichterung, da er sich nicht missverstanden fühlte.

"Ich weiß nicht was ich denken soll", schluchzte Ryoyu nach einer erdrückenden Ewigkeit, nebenbei leicht nach Luft ringend, "ich verstehe nichts mehr."

"Dann hab' ich ja jede Menge Zeit dir zu helfen", erhob sich Naoki und zog Ryoyu auf seine Füße, damit dieser endlich seinem Knie eine Pause gönnen konnte.

"Hast du überhaupt Erfahrung bei sowas?", stand ein leicht schelmisches Lächeln auf den Lippen von Kobayashi, der sich die Tränen aus dem Gesicht wischte und zum Bett hüpfte.

"Ich hab ziemlich viele Dramen gesehen, also theoretisch ja", ging Nakamura zur Spüle und schenkte für beide ein Glas Wasser ein. Doch er verharrte, inmitten des zweiten Glases, welches er nur bis zu Hälfte füllte.

Naokis Blick war lange auf den Wasserhahn gerichtet bis er es schlussendlich schaffte, ihn zu heben und Ryoyu anzusehen.

Dessen vorhin aufgekommene Fröhlichkeit war schon längst verflogen und er kaute nachdenklich an seinem Daumennagel herum. Dicke Tränen tropften von seinen Wangen, während er zum Fenster starrte, hinter dem gerade die Sonne unterging

"Sie ist wunderschön", begann Naoki wie aus dem Nichts.

Ryoyu riss den Kopf in Richtung Nakamura, doch alles, was die Aussage seines Freundes losbrach, waren noch mehr Tränen; Tränen aus tiefster Verzweiflung.

Ryoyu sah seine Chancen wie mit einem Bach wegschwimmend, doch sanft wiegend und dennoch von den Strömen mitreißend; keine Möglichkeit sich zu befreien.

"Ich kann verstehen, dass du sie nicht einfach so gehen lassen willst", scheint Naoki es noch irgendwie retten zu wollen, doch er traf damit nur den wundesten Gedanken ihn ihm.

"Aber sie will mich nicht mehr sehen", hauchend, vergrub Ryoyu die untere Hälfte seines Gesichts hinter der rechten Hand, mit dem linken Fuß brachte er sein ganzes Bein nervös zum zittern.

"Sie hasst mich!", schrie er den Fußboden vor ihm an, die Hände nun an die Matratze geklammert, "Dabei weiß ich nicht einmal was ich falsch gemacht habe!"

Es wurde still in der Wohnung. Lediglich ein Wassertropfen tropfte in die Spüle, worauf Ryoyu erneut zu weinen begann; stärker als bisher.

Als eine kalte Hand Ryoyus linke am Handrücken berührte, lockerte er seinen weinverkrampften Blick und sah darauf ein paar dicken Tropfen zu, wie sie fielen, über sein Schienbein säuselten und in seinem Sockenstoff aufgefangen wurden. Sein Schluchzen durchbebte ihn immer noch, auch wenn er noch so sehr versuchte, es zu unterdrücken.

"Erzähl mir, wo dieses Bild entstanden ist", bewegte es Naoki in Ryoyus Blickfeld und seine Augen fixierten ihr Gesicht sofort.

Er wusste es doch selbst nicht. Der einzige, dem er den Schnappschuss zutraute und der eine Kamera in der Grimming Therme mitgehabt hatte, war Kento gewesen. Er hat Noriaki versprochen, diesen ehrenvollen Moment für seine Frau und seine Familie festzuhalten; so gut er konnte. Dabei muss ihm wohl Mona und Ryoyu auch vor die Linse gekommen sein.

Ryoyu selbst hatte ihm den Rücken gekehrt, während Mona an seiner Seite, beide Hände – nur mit jeweils einem Finger verbunden – über ihre Schulter zur Seite sah. Kento hatte damit ihr wunderschönes Seitenprofil und ihr fliegendes dunkles Haar erwischt.

Und dieses sanfte Lächeln, welches auf ihren Lippen gestanden war, wenn sie sich einmal nicht um ihn gesorgt hatte.

Sie hatte sich um ihn gesorgt, Gedanken gemacht. Er hatte nur versucht den Balanceakt zwischen werdender Beziehung und Bruder zu halten, während er den Keim des Werdenden damit erstickte.

Er hat Mona verletzt mit einem kalten Wiedersehen, nur um seinem Bruder zu zeigen, dass Ryoyu mit Mona abrechnete; inoffiziell.

"Wenn ich", hauchte Ryoyu hervor ohne das Bild aus den Augen zu lassen, "wenn ich sie doch vor der Therme geküsst hätte."

Er sah zu Naoki auf und spürte ein leichtes Lächeln, das mit jedem einzelnen Wort immer weniger wurde.

"Dann hätte ich ihr gezeigt, wie wichtig sie mir doch ist."

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