IV;
Vor knapp einer halben Stunde hat sie sich auf dem Weg zum Arbeitsplatz ihrer Mutter gemacht, vor einer Minute hat der Bildschirm nur noch schwarz angezeigt. Mona hat darauf die Platine in ihrer Hülle aus der Manteltasche gezogen und bei den beiden leuchtenden LEDs bemerkt, dass das ganze System gecrashed war. Als sie die Hülle geöffnet und den Lüfter entfernt hat, war ihr schon die heiße Luft entgegengekommen und sie tippte auf Überhitzung. Die war mit Vorsicht zu genießen.
Und von der einen Sekunde auf die andere, als sie auf der Eisplatte unter ihren Füßen leicht zur Seite gerutscht war, glitt aus ihrer Hand die kleine Platine und drohte zu Boden zu fallen. Wochenlange Arbeit wird ins Nichts zersplittern, wenn die Speicherkarte den Sturz nicht überleben würde. Alleine bei dem Gedanken, stiegen ihr schon Tränen in die Augen.
Eine Hand an ihrer Schulter, eine andere, die in die Luft griff und ein Körper ganz nahe an ihrem. Es ging alles zu schnell, um reagieren zu können, weder noch zu realisieren, was vor sich ging.
Leicht lächelnd, hob nun der junge Mann die vorerst noch gefallene Platine auf seiner Handfläche. Mit der anderen Hand hatte er sich an Mona festgehalten, um nicht selbst zu fallen und sie außerdem vor dem Sturz zu bewahren.
"Bitteschön, Mi..."
Während seines Satzes bemerkte er nun, wie heiß der kleine Computer auf seiner Haut war und er hielt den Atem an. Mona realisierte nun erst einmal, wer vor ihr stand und befahl ihm, die Platine fallen zu lassen, doch er schüttelte den Kopf. Immer wieder redete sie auf ihm ein, bis er schlussendlich die primitive Legohülle aus ihrer Handfläche nahm und die Platine kopfüber hineinlegte. Er schüttelte die rechte Hand, die nur so brannte vom heißen Plastik.
"Bist du verrückt?!", klang ihre Stimme zugleich wütend, wenn auch besorgt und ohne nach der ihr entgegengestreckten Platine im sicheren Behälter zu greifen, nahm sie seine Hand. Vorsichtig legte sie beide ihrer Hände sanft um seine und musterte den leicht rechteckigen Brandfleck zwischen Daumen und Zeigefinger. Wenn er es sich einbildete, war dort sogar das kleine Zeichen des Platinenherstellers vertreten.
"Anata wa osoraku kanojo o okora semasu", murmelte Kento hinter Ryoyu, der alles nur beobachtete. Die beiden scheinen wohl vertraut, anders würde er sich diese Geste seines Zimmerkollegen nicht erklären können, wo er sonst der schüchternste des ganzen Teams war.
"Hontōni?", schmunzelte Kobayashi über die Schulter und zog eine Augenbraue nach oben. Diese Kommentare konnte Sakuyama sich wirklich sparen. Ryoyu war einfach nur froh, dass Mona kein Japanisch verstand, somit konnte sein Freund unendlich lange in der Muttersprache reden und nur Ryoyu würde es auf den Wecker gehen. Mona lag ihm irgendwie am Herzen und Ryoyu glaubte, dass es ihre fröhliche, angenehme Art war, offen auf Menschen zuzugehen. Eine Sache, die er nicht konnte.
Außerdem hatte er sich für etwas noch nicht bedankt.
"Entschuldige, ich...", stotterte er hervor und wurde bei dem kurzen Schniefen aufmerksam. Er beugte sich etwas ihr entgegen, um in ihre Augen sehen zu können, die sie tief auf die Verletzung gesenkt hielt, verweigerte den Blickkontakt.
"Mona?"
Sie begann leicht zu kichern und spürte nur die Tränen über ihre Wangen kullern, die sie eigentlich zurückhalten wollte. Doch seine Aussprache ihres Namens klang zu einzigartig, als es unkommentiert zu lassen.
"Der Tag ist zu schön um zu weinen", stopfte er die Platine in der Legohülle nun in seine Jackentasche, um seine Hand auf ihre beiden legen zu können, die sie schützend um seine Hand gelegt hatte. Als würde sie damit Fehler versuchen, rückgängig zu machen, für die sie sich die Schuld zuschrieb. Sie war zu besorgt um ihn, für seinen Geschmack.
Als hätte Kento sich verschluckt, brach er in einem Hustenreiz los und murmelte ein Hareruya dazwischen hervor, worauf er einen geschickten Tritt ins Schienbein, von Ryoyu ausgeteilt, kassierte. Auch wenn Sakuyama der ältere war, lag es an Kobayashi ihn ein wenig zu erziehen. Ihm war es immer noch ein Rätsel, wie Kento eine Freundin gefunden hat, bei diesem manchmal kindischen Verhalten.
"Warum hast du sie nicht fallen gelassen Ryoyu."
Mona sah auf und lächelte, wenn auch etwas gebrochen, ihm entgegen. Ihr Kopfschütteln war sanft und sie fragte sich innerlich, was ihn dazu getrieben hat, den Taschencomputer einfach zu fangen. Doch woher sollte er wissen, dass die Platine knappe 90° Celsius heiß werden konnte. Und ihr fiel erst jetzt auf, wie ungemein nahe sie sich standen.
"Hätte ich denn?", fragte er lächelnd und legte den Kopf leicht schief, als würden somit die einzelnen fragwürdigen Segmenten in seinen Gedanken zu einer sinnvollen Antwort zusammenfließen. Nie im Leben hätte er geglaubt, dass dieses kleine Stück Plastik so heiß sein würde. Doch auch wenn es schmerzte und die Verbrennung nicht wirklich unversorgt bleiben konnte, zeigte er sein starkes Scheinbild. Er konnte es nicht ertragen, sie wegen ihm traurig zu sehen.
Langsam begann er in ihren schimmernden Augen zu verfallen, als gäbe es kein Halten mehr und strich ihr unbewusst die Tränen von den Wangen. Ihre Haut war warm, im Gegensatz zu seiner kalten Hand.
Wie auf ein Stichwort, räusperte sich Kento, sodass es Ryoyus Großmutter die 9500 Kilometer bis nach Japan auch noch gehört haben müsste und veranlasste den jüngeren dazu, zusammenzuzucken. Seine Hand hatte selbst gehandelt, mit Befehlen aus seinem Herzen, die er offensichtlich für richtig empfand.
Dennoch ließ er es sich nicht nehmen, ihr die dunkle Strähne hinter das Ohr zu streichen und danach mit einem übertrieben freundlichen Lächeln Kento auf Japanisch zum Gehen aufzufordern. Dieser dachte keinesfalls daran, sich dies entgehen zu lassen.
Kobayashi seufzte kurz und versuchte seinen Hintermann so gut wie möglich zu ignorieren, der immer wieder feine japanische Nadelstiche seinem Freund versetzte.
"Ist alles in Ordnung bei dir?", fragte Ryoyu nun einmal Mona, die vor Blässe sich kaum vom am Boden liegenden Schnee abheben konnte. Doch sie nickte stumm und erneut flossen Tränen über ihre Wangen. Eine Hand legte sich nun an ihre Schulter und krallte sich dort leicht in den Mantelstoff. Doch ihr Nicken wurde zu einem leichten Kopfschütteln und Ryoyu erstarrte. Kento hatte sein Geflüster im Hintergrund immer noch nicht aufgegeben und langsam die Grenze bei Kobayashi erreicht, die es auszureizen gab.
Ryoyu blendete dies aus. Wie er es schaffte, war ihm selbst ein Rätsel.
"Habe ich dir weh getan?"
Auf diese Frage bekam er wieder ein kurzes Lachen und Kopfschütteln. Langsam verstand der Springer die Welt um sich herum nicht mehr. Wie verwirrend konnte alles sein, wenn es auch einfach ging.
"Es ist nicht wegen dir", murmelte sie hauchend hervor und scheute jeden Blick zu Ryoyu, der aber in ihre Augen sehen wollte. Dort konnte er mehr deuten, als von für ihm noch unbekannten Gesten. "Sondern wegen..."
"Yamero, Kento!", fuhr er mit zusammengebissenen Zähnen Sakuyama an und unterbrach unbewusst Mona, deren Worte ihr ohnehin schon schwer gefallen sind. Kento zuckte erschrocken zusammen und hob unschuldig die Hände; sein schelmisches Lächeln aber nicht verschwand. Ryoyu seufzte und murmelte an Kento gewandt, sich endlich auf den Weg zu machen. Sakuyama folgte dem Aufruf und verabschiedete sich höflichst, bevor er verschwand.
Kobayashi sah noch mehrere Sekunden Kento hinterher, bis er sich wieder an Mona wandte, die eine deutlich bessere Gesichtsfarbe trug.
"Wir sollten das von einem Arzt ansehen lassen. Könnte eine Verbrennung zweiten bis dritten Grades sein."
Auch wenn sie nicht viel von Medizin verstand, hat Mona zuhause die ein oder anderen Diagnosen aufgeschnappt, die ihre Mutter nachhause getragen hat. Und auch wenn Ryoyu versuchte vorzuspielen, schmerzfrei zu sein, konnte Mona ihm dies nicht glauben. Seine Augen waren aussagekräftiger als alles andere.
Sie deutete auf das Krankenhaus und Ryoyu hielt sie noch fest, bis sie von der vereisten Stelle gegangen war. Er könnte es sich nicht verzeihen, wenn sie neben ihm ausrutschen würden.
Und ihm wurde langsam bewusst, was er eigentlich angerichtet hat. Kento einfach alleine ins Hotel zurückzuschicken, war die Todesstrafe für Ryoyu. In einer guten halben Stunde wusste jeder was hier auf der Straße passiert war und das sich Kobayashi mit einer weiblichen Person vertraut gut unterhalten hat. Er wollte nicht schon wieder die Standpauken seines Bruders, der ihm immer wieder einbläuen wollte, wie hirnrissig eine Fernbeziehung war. Seit dem letzten Gerücht um eine Freundin, die Ryoyu angeblich bei einem Springen aufgegabelt haben sollte, war der jüngste Kobayashi doppelt vorsichtig. Und außerdem war Mona nicht mehr, als eine gute Bekannte, mit der er jede Menge Blödsinn treiben konnte, wenn er richtig lag. Auf dem Weg durch die Welt, immer auf dem neuesten Adrenalinkick sich mit Menschen zu verständigen und anzufreunden, war doch nichts Schlimmes.
"Wohnst du hier in der Nähe?", fragte er nun aus Neugier und brach die Stille, die die gesamten fünf Minuten bis zum Krankenhaus geherrscht haben. Sie betraten das große Gebäude.
Kopfschütteln kam ihm entgegen und er konnte ihre Stummheit nicht wirklich deuten. Hatte er sie nicht doch verletzt, vielleicht innerlich?
Ryoyus Füße blockierten nur beim Lesen des Schildes, in die Richtung, die sie gingen und er hielt. Mona machte noch zwei Schritte und bemerkte nun, dass ihre Begleitung stehengeblieben war. Mit einem verwunderten Blick sah sie zu ihm zurück und erkannte, wie die Farbe in Lichtgeschwindigkeit aus seinem Gesicht entwich; seine Augen auf das Schild mit der Aufschrift Notaufnahme starrten.
"Alles in Ordnung?", machte sie einen Schritt auf ihn zu und schaffte es immer noch nicht, seinen Blick von dem Schild, welches von der Decke an zwei Metallschnüren baumelte, zu lösen. Wie paralysiert starrte er darauf.
Er schloss nun die Augen und atmete tief durch. Ein kalter Schauer fuhr über seinen Rücken und seine Hände begannen zu zittern. Er spürte die leichte Panikattacke, die in seiner Brust aufblühte. Doch dies alles wurde nun verhindert durch eine sanfte Berührung zarter Fingerspitzen auf seiner unverletzten Hand. Ihre schlang sich um seine und nahm diese in einen lockeren Griff, während sie nach vor sah; den Flur entlang, der zur Notaufnahme führte. Ihr Ziel war vor Augen aber schwer zu erreichen.
"Du musst schlechte Erfahrungen haben, nicht wahr?"
Ohne ihn anzusehen, sprach sie diese Worte aus sich heraus und Kobayashi war nur still; lauschte ihrer angenehmen Stimme und ließ sich von dem Kribbeln seiner Haut betäuben.
"Seit meinem ersten Sturz im Sommer letzten Jahres, kann ich kein Blut sehen und in keine Notaufnahme mehr gehen", seufzte er bedrückt und spürte, wie die kleine Hand sich etwas fester an seine klammerte. Sie wollte ihm signalisieren, dass er nicht allein war.
"Dann habe ich eine Idee", kicherte Mona und sah Ryoyu an, der sich noch nicht wirklich zusammenreimen konnte, was der jungen Frau in den Sinn gekommen war.
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Anata wa osoraku kanojo o okora semasu - Du machst sie anscheinend wütend.
Hontōni? - Wirklich?
Yamero - Hör' damit auf
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