II;
Ryoyu schlich in das Zimmer, um Kento nicht aus seinem Schlaf zu reißen. Er war in gewisser Hinsicht froh, dass dieser Tag endlich ein Ende nahm. Die Qualifikation war nicht besser als sein Trainingssprung verlaufen und hatte sich somit einen morgigen freien Tag geschaffen.
Sakuyama kroch aus seinem Bett, als hätte jemand jegliche Muskeln mit Kleber zum Erstarren gebracht und sah zu, wie Kobayashi seine Sachen in die Ecke warf. Auch seine Jacke wurde von seinem Körper gezerrt und irgendwie auf den Stuhl geworfen, der Teil der Einrichtung war. Ryoyu ließ sich mit dem Kopf voraus auf das Bett fallen und krallte seine Hände verdächtig an die Bettdecke. Es fehlte nur ein Zentimeter Schmerz um ihn zum Weinen zu bringen.
"Ryoyu?", fragte Kento mit heiserer Stimme und traute sich kaum seine Worte auszusprechen. In der Hand hielt er das Smartphone des jüngeren, welches vorhin einen Ton von sich gegeben und Sakuyama somit aus seinen Schlaf gerissen hat.
Das Trainingsspringen war vorbei und eigentlich würde nun die Qualifikation starten, doch Jonah und Mona mussten leider davor die Schanze verlassen. Sie haben versprochen, mit ihrer Mutter ihrer Großmutter einen Besuch abzustatten, da diese heute ihren 80. Geburtstag feierte. Sie warteten nun wieder an der Bushaltestelle und stiegen in den gerade angekommenen Bus ein, der sie zurück zum Bahnhof bringen würde. Währenddessen war ihr Bruder dabei, die nächste Zugverbindung nach Telfs abzuchecken.
Mona musste gestehen, dass das Springen interessanter gewesen war, als im Vorhinein angenommen. Und das Gespräch mit dem Japaner äußerst erheiternd. Auch wenn er nicht so fröhlich gewirkt hat, hat er sich dennoch bemüht, freundlich zu sein.
Sie drehte die Karte zwischen ihren Fingern, ihr einzig eingesammeltes Autogramm und musterte jeden noch so kleinen Punkt darauf. Auf der Vorderseite, neben dem Foto von ihm in der Luft fliegend, war seine Unterschrift. Ein paar Daten vom Springer sind auf der Rückseite aufgedruckt, sowie ganz klein in der linken unteren Ecke eine Zahlenkombination. Sie hielt sich die Karte etwas näher und las erneut diese Kombination. Zittrige zusammengefügte Strich mit schwarzen dicken Marker.
"Zeig' mir mal deine Karte von Ryoyu", forderte sie ihren Bruder auf, der Mona nur etwas verwirrt ansah. Er wusste nicht, was sie damit vorhatte und konnte nicht glauben, dass sie nun vergleichen wollte, welche der beiden Unterschriften schöner war.
"Warum?"
Als sie bemerkten, dass sie bereits am Bahnhof angekommen sind, sprangen sie auf und hasteten aus dem Bus. Jonah forderte Mona auch noch auf, zum Bahnsteig 4 zu sprinten, da der Zug in den nächsten zwei Minuten eintreffen würde. Und bis die beiden im Zug endlich einen Sitzplatz gefunden haben, hing die Frage noch in der Luft.
"Stehen bei auch Ziffern auf der Rückseite?"
Erneut lagen die Augen auf der Autogrammkarte mit dem Mysterium. Es könnte gut möglich sein, dass es Teil eines von Kobayashi selbst erstellten Systems war, um überprüfen zu können, wie viele Karten er bereits vergeben hat. Doch es war die Zahl zu lange, ihres Erachtens, dass er schon so viele Autogramme vergeben hat können.
Kopfschüttelnd, sah nun auch Jonah auf seine Karte und zeigte seiner Schwester die Rückseite.
Mit einem Kopfnicken nahm sie dies so hin und steckte die Karte in ihre Tasche, als wäre es nicht mehr wichtig.
In ihrem Kopf lief nur sein trauriger oder konzentrierter Blick auf und ab. Und was diese Zahlen zu bedeuten haben. Sie waren zu offensichtlich geschrieben worden und der Glanz des Markers noch erhalten, sah kaum abgenutzt aus. Und warum war dieses verdammte Lächeln auf ihren Lippen.
Jonah döste nun vor sich hin und Mona sah auf ihn, als würde er sie in den nächsten Minuten bei etwas Verbotenem erwischen. Sie zog ihr Smartphone und erneut die Karte aus ihrer Tasche und begann Google zu befragen. Es sprach deutlich viel für ihre Vermutung, die sich nun nach Einspeichern dieser Zahlenkombination auch bestätigte.
Der Benutzer dieser Nummer, besaß WhatsApp und zwar mit einem aussagekräftigen Profilbild. Und war am Morgen um halb 9 noch online gewesen.
Mona erstarrte und musste das ganze erst einmal realisieren.
Hat er es offensichtlich gezeigt?
Keineswegs. Niemals.
Hätte sie jemand gefragt, hätte sie sofort nein gesagt. Wie verzweigt hat er es in seinen Augen verborgen. Es war verblüffend. Mona kicherte kurz und sah immer noch auf den leeren Chat, der danach nur so verlangte, gefüllt zu werden. Dennoch war sie sich nicht sicher, ob sie dies wirklich tun sollte. Vielleicht war es gar nicht bewusst gewesen.
Ryoyu erhob seinen Kopf aus dem Kopfkissen, um zu zeigen, dass er zuhörte, scheute aber jeden Blick zu Kento. Er musste sein Schluchzen unterdrücken. Alles in ihrem begann einzubrechen, die Wände bröckelten schon.
"Ich will morgen zum Arzt gehen und wollte fragen, ob du..."
Ryoyu sah auf und visierte Sakuyama an, der in mitten seines Satzes aufgehört hatte zu reden. Er wollte es wohl nicht indirekt über die Lippen bringen, dass Ryoyu wegen seines Versagens morgen Zeit für die Begleitung hatte. Kobayashi nannte es bewusst Versagen, da er es anders nicht betiteln konnte. Es war Versagen gewesen, schlechter als schlecht und kaum mehr zu retten.
"Sicher doch", seufzte Ryoyu und ließ den Kopf sinken. Er legte sich auf die Seite und sah Kento immer noch an, als würde er der Sinn des Lebens sein und vielleicht auf ihn abfärben.
"Und das hier hat geklingelt", streckte er das eigentlich wichtigere Kobayashi entgegen, welches er sofort in die Hand nahm und das Display aufleuchten ließ. "Vor einer halben Stunde."
Wie ein kleines Kind sah Ryoyu auf die einzige Nachricht, die auch nur aus einem Wort und einem kleinen Fragezeichen bestand und spürte das leichte Lächeln auf seine beschwerte Miene huschen. Eine Träne streifte aus seinem Augenwinkel und floss über seine Schläfe. Er hätte nicht geglaubt, dass es ein Lebenszeichen geben würde.
Er glaubte nicht einmal, dies getan zu haben. Seine Hände haben von selbst gehandelt und er hat hilflos zusehen müssen, wie sie es getan haben. Einfach seine Nummer auf die Rückseite in die Ecke der Autogrammkarte geschrieben, als wäre es das einfachste der Welt. Die junge Frau scheint dies bemerkt zu haben.
Mit zitternden Hände entsperrte er das iPhone und las mehrere Male die Nachricht. Danach prüfte er, der Neugier zu verdanken, ihr Profilbild und den Status. Er legte normalerweise nie Wert auf dies, doch heute scheint es für ihn eine besondere Bedeutung zu tragen.
Schließlich überwand er sich, ein kurzes Hey zurückzuschreiben und zu warten, wie es sich entwickelte. Als würde er einer Blume beim Wachsen zusehen. Doch ob aus der einfachen Sonnenblume eine Rose oder ein Gänseblümchen wurde, würde die Zeit bringen.
"Wer ist das?", deutete Kento auf das Smartphone, welches neben Ryoyu auf dem Bett Platz gefunden hatte, der schon wieder den Kopf auf das Kopfkissen gelegt und durch dieses seine Antwort murmelte.
"Kennst du nicht."
Sakuyama verdrehte die Augen und legte sich ebenfalls wieder in das Bett zurück. Die Finger hinter dem Kopf auf dem Kopfpolster verschränkt, starrte er an die Decke und gab sich noch nicht recht geschlagen. Auch wenn er krank war, hieß dies noch lange nicht, dass er nicht genügend Kraft zum Diskutieren hätte.
"Hast du jemanden kennengelernt?"
Ryoyu schnaubte hörbar genervt und krallte seine Hände in das Kopfkissen, um somit seinen Frust zurückzuhalten. Kento hörte nur den Polster rascheln.
"Lass' mich in Ruhe."
Wo kam nun dieses Verlangen her, sich in Arme zu kuscheln und sich geborgen fühlen zu können. Es war äußerst kontraproduktiv, für das Zurückhalten seiner Gefühle, die er mit etwas Zeit wieder in den Käfig sperren konnte. Wie ein kleiner Zirkusartist vorzustellen, der einen hungrigen Löwen mit Peitsche und Hocker zurück in sein Gehege scheuchte.
"Bitte, lass' mich in Ruhe", schniefte Ryoyu und zog sich mit einer Hand, ohne aufzusehen, die Bettdecke über die noch getragene Skihose und den Anzug. Kento lag nur da und folgte dem Aufruf. Er wusste wie Ryoyu empfindlich in solchen Dingen war und dieser Ausfall bei der Qualifikation war für sein langsam schwindendes Selbstwertgefühl nicht wirklich positiv.
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