9. Kapitel
"Magery!"
Jetzt erkannte die junge Engländerin, wer dort rief. Es war Ava. Fast im gleichen Moment kam die braunhaarige Sklavin in die Schmiede gestolpert. Völlig außer Atem stützte sie ihre Hände auf die Knie und versuchte ihren Atem zu beruhigen.
"Magery! Wieso in aller Götter Namen warst du nicht in unserer Kammer? Ich hab dich überall gesucht."
Nun verschnellerte sich auch Magerys Atmung schlagartig. Allein der Gedanke daran, was Ivar mit ihr anstellen würde, wenn sie von ihrer nächtlichen Begegnung erzählte, ließ ihr einen Schauer über den Rücken jagen.
"Ich wollte heute früher mit der Arbeit beginnen", log Magery dürftig. Doch Ava schenkte ihrer Antwort kaum Beachtung und zog sie auf die Straßen Kattegats hinaus, die ungewöhnlich leer waren.
"Wo sind denn alle?", fragte Magery verwundert, während sie durch die schlammigen Gassen hetzten.
"Beim Tempel. Heute ist Midwinteropferfest."
Magery nickte und tat so, als wären nun alle Fragen beseitigt. Natürlich hatte sie nicht den blassesten Schimmer einer Ahnung, was auf sie zukam.
Umso unruhiger wurde die Engländerin, als sie Kattegatt verließen und einem schmalen Pfad in die Berge folgten, die die Siedlung säumten. Schon einige Male hatte Magery mit dem Gedanken gespielt, sich irgendwo zwischen den Felsen zu verstecken und so lange auszuharren, bis die Männer ihres Vaters übers Meer kommen und sie finden würden. Jedoch folgten diesem Gedankengang jedes mal Ubbes Drohungen und die Vorstellung, was mit ihr geschehen würde, falls sie tatsächlich versuchen würde zu fliehen. Magery schluckte.
Schweiß benetzte die Haut der Engländerin, als sie endlich das hoch ragende Tempelgebäude erreichten, das zwischen zwei kahlen Erlen nahe einer Felsklippe stand.
Ava hielt die Luft an, als sie die massive Eichenholztür aufstieß. Doch zu ihrer Erleichterung, hatte die Zeremonie noch nicht angefangen. In der Halle drängten sich viele Wikinger zusammen. Sie alle schauten gebannt an die Stirnseite des Tempels, wo ihre Königin in einem massiven Holzstuhl saß, der mit geschnitzen Figuren und Ungeheuern geschmückt war.
Ava packte Magery am Ärmel, die noch immer staunend im Raum stand.
"Komm! Wir müssen nach vorne zu den anderen Unfreihen."
Mit diesen Worten zog das Wikingermädchen die Engländerin durch die Masse, bis sie direkt vor Aslaugs Thron standen, wo Sklaven in mehreren Reihen vor der Königin knieten. Gerade noch rechtzeitig. Denn im nächsten Moment erhob sich die Herrscherin und der Raum verstummte.
"Gemeinde Kattegats! Wir haben uns heute hier eingefunden, um die Götter zu ehren und ihnen Dankbarkeit zu erweisen, indem wir ihnen die Stärke opfern, die sie einst für uns opferten.
Vor vielen Jahren kämpfte Thor zur selben Jahreszeit gegen die Eisriesen, die unser Land mit Frost bedeckten und unbewohnbar machten. Der Kampf war erbittert und dauerte drei Mond-Zyklen lang. Doch zuletzt siegte Thor über die Riesen und brach ihre Macht. Seither besiedeln wir sein Land und machen es fruchtbar. Doch das wäre niemals möglich, hätte er die Schlacht nicht für uns geschlagen."
Während die Königin sprach, näherten sich zwei Dienerinnen, die einen langen Leib Brot auf einem Tablett trugen.
"Also ehren wir ihn, indem wir die Götter zwei Mitglieder aus unserer Gemeinschaft wählen lassen, die sich ebenfalls wie Thor und die Eisriesen in einem Kampf auf Leben und Tod miteinander messen werden."
Zu den Dienerinnen traten zwei Priester. Ihre Köpfe waren kahl geschoren und mit schwarzer Farbe bemahlt. Der Größere von ihnen tunkte zwei Finger in einen goldenen Kelch und zeichnete eine Rune auf die Stirn des ersten Kniehenden. Zur selben Zeit brach der andere Priester das Brot und reichte ein Stücke dem Sklaven, der es umgehend aß. Bei der nächsten Unfreihen vollzogen sie dieses Ritual erneut. Auf Magerys Stirn bildeten sich falten. So wollten sie ihren Göttern danken? Indem sie sich gegenseitig bemalten und Brot fütterten? Das Mädchen ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Königin Aslaug beobachtete die Prozedur mit wachsamen Augen. Von ihren Söhnen konnte man das jedoch nicht behaupten. Erst jetzt hatte die Engländerin ihre Anwesenheit überhaupt erst zur Kenntnis genommen. Sie saßen in ähnlich prunkvollen Stühlen an den Seitenwänden und erinnerten Magery an ihren Vater, kurz bevor er betrunken einschlief. Doch sie konnte es ihnen nicht verübeln. Es waren unglaublich viele Unfreie, die sich diesem Brauch unterzogen und es dauerte eine Ewigkeit. Zudem taten ihre Kniehe langsam weh und ihr Fuß war eingeschlafen. Umso erschrockener war das Mädchen, als sie plötzlich eine feuchte Berührung auf ihrer Haut spürte. Die Christin hatte die Priester nicht kommen hören. So sehr war sie in ihre eigenen Gedanken vertieft gewesen.
"Iss", sagte der kleinere und reichte ihr das Stück Brot.
Unsicher schaute Magery zu Ava, die nur nickte, woraufhin sie es sich zögernd in den Mund schob. Der Geschmack war berauschend. Die äußere Kruste war knusprig warm und der ehemalige Teig hatte eine geradezu luftige Konsistenz angenommen. Allerdings war das nicht alles. Plötzlich erfühlte Magerys Gaumen ein kleines Korn, das nicht zermahlen worden war. Der Grafentochter war entgangen, dass Ava, die sie bei all ihren Bewegungen beobachtet hatte, nun unmerklich den Kopf schüttelte. Allerdings war die Engländerin zu vertieft das Körnchen loszuwerden, um das versteckte Zeichen zu verstehen. Denn als sie es ausspuckte, kam kein Getreiderest, sondern ein kleiner Edelstein, der blau in ihrer Handfläche funkelte zum Vorschein. Ava schluckte und schaute betreten zu Boden. Die Augen der Priester hingegen wurden größer als sie erkannten, was die Christin in dem Brotleib gefunden hatte. Einer der Beiden zog Magery am Arm hoch und drehte sie zum Volk.
"Hier steht sie. Diejenige der die Ehre zuteil wird, sich im Namen der Götter zu messen.", verkündete er mit prophetischer Stimme. Doch anstatt in Jubel auszubrechen, hefteten sich alle Blicke an die Herrscherfamilie Kattegats. Ubbe sprang auf.
"Ich verlange, dass die Auswahl erneut getroffen wird. Um die Zukunft Kattegats zu sichern, darf der Engländerin nichts zustoßen. Wir brauchen sie.", sagte er durchdringend und machte Anstalten sich wieder zu setzen, als ein Mann mit langem Zopf und tätowiertem Gesicht aus dem Volk nach vorn trat.
"Prinz Ubbe, ihr fordert dass die Auswahl erneut getroffen wird, obwohl ihr damit deutlich machen würdet, dass ihr an dem Urteil der Götter zweifelt oder sie gar verfälschen wollt? Ihr stellt eure persönlichen Vorhaben über die von Odin und Thor?", fragte der Mann herausfordernd und ließ seine Stimme mit jedem Wort anschwellen, sodass ihn selbst die Krüppel und Alten in den letzten Reihen hören konnten. Magery blinzelte ein paar Mal und probierte zu begreifen, was der Priester dort eben gesagt hatte. Sie sollte gegen jemanden kämpfen? Im Namen wildfremder Götter, an die sie nicht einmal glaubte? Der bloße Gedanke daran raubte ihr jegliche Luft zum atmen.
"König Harald-", wandte sich nun Aslaug an den Mann.
"Die Engländerin verleugnet als Christin die Götter und kann damit keinen Teil unserer Rituale inne haben.", sprach sie mit herrischer Stimme und durchbohrte Harald mit ihren Blicken.
"Königin ihr meint also, dass unsere Götter an so viel Macht verloren haben, dass sie nur noch über die herrschen, die sie auch als die wahren Götter anerkennen? Es sind schwere Zeiten Volk von Kattegat, in denen es keinen Platz für Zweifler gibt. Also leugnet das Urteil nicht und lasst die Christin kämpfen. Es ist der Wille der Götter!"
Zustimmende Rufe schallten durch den Tempel. Zerschnitten von einzelnen Klatschern und gemurmel.
Aslaug stockte und schluckte unmerklich.
"Ich erkläre die heutigen Ritualabläufe für beendet. Der zweite Auserwählte wird zur nächsten Wende bestimmt werden."
Die Königin lehnte sich zu ihrem ältesten Sohn hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr, bevor sie anmutig von ihrem Thron stieg und den Tempel verließ.
______________________________________
"Verlasst die Halle und stellt Wachen vor das Tor. Wir wünschen nicht gestört zu werden.", sagte Ubbe, als die Dienerinnen die Tafel zuende gedeckt hatten. Wie aufgeschreckte Gänseküken wuselten sie durcheinander und machten sich daran, die Halle schleunigst zu verlassen. Dann wandte er sich an seine Brüder, die zusammen mit seiner Mutter um den Tisch herum saßen und ausdruckslos ins Leere blickten.
"Ich sage es zum letzten Mal! Wenn wir die Adelige verlieren, verlieren wir gleichzeitig an Macht in England."
"Bruder ich kann nicht ganz nachvollziehen, weshalb du so viel Wert auf die Geisel legst. Wir haben keinen Grund um unsere Macht in England zu bangen. Unsere Männer sind dabei die gesamte Insel einzunehmen. Schon bei unserer nächsten Reise in den Westen wird sie ganz uns gehören.", sagte Hvitserk gönnerisch und begann mit einem Brotmesser den Dreck unter seinen Fingernägeln zu entfernen.
Ubbe schnaubte.
"Wenn Björn nicht gerade auf Reisen wäre, dann würde er dich jetzt so lange mit dem Kopf in deine Suppe drücken, bis du wieder klar denken kannst. Die Engländer haben einen bedeutenden Vorteil. Sie kennen die Gegenden genau und bekommen Kinder, die schon bald zu einer starken Armee heran wachsen werden. Ein friedliches Zusammenleben zwischen ihnen und uns wird nie möglich sein, solange wir keine Abkommen mit ihren Oberhäuptern, also dem Adel schließen können. Und genau dafür brauchen wir die kleine Christin. Bei unserem nächsten Beutezug führen wir sie dem Adel vor und verlangen kein Gold, sondern Länder und Titel, die uns zu legitimen Herrschern machen."
Nun mischte sich auch Aslaug in die Diskussion ihrer beiden Söhne ein.
"Ubbe ich denke wir alle verstehen was du meinst, aber du übersiehst etwas...oder um genauer zu sein Jemanden, der eine viel größere Gefahr darstellt als die Vertreibung aus England. König Harald. Er hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er danach strebt der König von ganz Norwegen zu werden. Trotzdem brauchen wir die Unterstützung seiner Männer im Krieg gegen die Engländer. Aber nur weil er mit uns kämpft heißt das nicht, dass wir ihm trauen können. Harald weiß, dass Kattegats Streitkräfte zu mächtig sind, um uns im Feld zu besiegen. Also muss er es auf anderen Wegen versuchen. Wie die Schlange probiert er mit gespaltener Zunge das Volk auf uns zu hetzen und zu spalten. König Schönhaar selbst hat hier keine Macht, also beruft er sich auf die Götter und behauptet, ich wäre eine schlechte Herrscherin, weil ich gegen ihren Willen handle oder meinen über ihren stelle. Natürlich sind seine Worte nur Sand und Staub, doch es ist erstaunlich, wie schnell aus Sand und Staub ein gewaltiger Dornenbusch wachsen kann. Und genau aus dem Grund, haben wir keine andere Wahl als das Mädchen kämpfen zu lassen. Würden wir es nicht tun, hätte Harald einen Beweis dafür, dass wir an den Göttern zweifeln und würde es ruchlos gegen uns verwenden."
Ubbe hatte seine Finger zur Faust geballt und starrte auf das Schattenspiel einer Kerze, die im Dunkeln ihren flackernden Tanz vollführte.
"Dann muss sie gewinnen", sagte Sigurd während er beiden Ellenbogen auf den Tisch stützte.
Hvitserks lachte spöttisch auf.
"Weißt du eigentlich über welches Mädchen wir reden Sigurd? Die englischen Weiber sind nicht zum kämpfen ausgebildet. Das einzige was sie haben um sich zu schützen sind ihre hübschen Gesichter, was der Christin im Kampf allerdings auch nicht viel helfen wird. Hast du sie dir mal angesehen? Sie ist dünn und blass. Selbst die Greise Kattegats wären stärker als diese Grafentochter. Die Engländerin ist von Grund auf anders als die Frauen aus unserer Sippe. Deswegen ist sie schwach und wird den Kampf niemals überstehen."
"Nicht wenn ich sie ausbilde", sagte Ivar plötzlich, der bis jetzt geschwiegen hatte.
"Ivar das ist lächerlich. Du hast nur drei Monde. In dieser kurzen Zeit kannst du keine Kämpferin aus ihr machen", schnaubte Hvitserk.
"Vielleicht...aber was haben wir zu verlieren? Alle anderen Wege würden einen Machtverlust mit sich ziehen", entgegnete Ivar überlegt.
Die Königin schwieg eine Zeit und sah ihren Sohn durchdringend an, bis sie schließlich ein fast unmerkliches Nicken von sich gab.
_____________________________________
Magery wusste nicht wie lange sie nun schon in der dunklen Tempelkammer saß, in die man sie gebracht hatte, sobald die Königin die Halle verlassen hatte. Die Wände waren mit schwarzen und weißen Runen bemahlt worden, die immer wieder von roter Farbe gesprenkelt waren, von der das Mädchen inständig hoffte, dass es kein Blut war. Außer einer löchrigen Strohmatte, war der Raum ansonsten leer. Das vermutete sie zumindest, da der schmahle Spalt in der Eichentür gerade mal so viel Mondlicht zu ihr herein ließ, dass rund die Hälfte der Kammer beleuchtet war. Doch das kümmerte Magery nicht, denn ihre Tränen hatten ihr ohnehin schon die klare Sicht genommen.
'Welche grausame Sünde muss ich begangen haben, dass Gott mich so straft? Zuerst kommen die Heiden, zerstören meine Heimat und machen mich in einem schroffen Land zur Sklavin, nur um mich danach in einem Kampf für falsche Götter sterben zu lassen? Kann das Gottes Wille sein?'
Magery musste schluchtzen, als sie plötzlich Stimmen vor der Eichentür vernahm. Schnell wischte sie sich die Tränen von der Wange und lauschte angestrengt.
"Mach die Zelle auf Oban. Ich bürge für ihr Erscheinen zum Kampf"
"Ich kann die Christin nicht freigeben. Der Brauch verlangt, dass die Auserwählten bis zum Ritualkampf in den Räumen bleiben, um in Kontakt mit den Göttern treten zu können", entgegnete der niedrige Priester, der für ihre Bewachung zuständig zu sein schien. Doch in seiner Stimme klang eine Unsicherheit mit, die Magery selbst in nordisch nicht überhört hatte.
"Sie ist eine Christin verflucht! Sie wird nicht in Kontakt mit unseren Göttern treten!", herrschte die Stimme nun lauter.
"Aber der Brauch verlangt dass-.."
"Ich habe auch einen Brauch Oban. Und mein Brauch verlangt, dass ich jedem der mir in die Quere kommt die Kniescheiben zertrümmere, um sie daran zu erinnern, dass sich mir besser keiner in den Weg stellen sollte"
Danach war nur noch das Klimpern eines Schlüssels zu hören, der in das Schloss einrastete und es nach zwei Umdrehungen zum aufspringen brachte.
Magery spürte, wie ihr Herz zu rasen begann, als die Tür aufschwang und Ivar auf Schwellenhöhe erschien.
"Es scheint ja fast so als würde es zur Gewohnheit werden, dass wir uns nachts unverhofft in dunklen Räumen begegnen."
Magery schluckte, unfähig über seine Worte zu lachen.
"Komm her Christin. Ich habe einen neuen Platz für dich."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top