4. Kapitel

Krampfhaft drückte Magery ihre Handflächen auf die Holzplanken des Schiffes. Ihre letze Seefahrt lag eine Ewigkeit zurück. Der Regen hatte zu fallen aufgehört. Doch dafür war ein starker Wind aufgekommen, der Magerys braunen Haare wild um ihren Kopf wirbeln ließ. Die Wikinger liefen quer übers Deck, um das Gewicht der Beute zu verteilen, taue fest zu zurren oder die Pferde zu beruhigen. Unter ihnen war auch Ivars Schimmel. Bis eben saß er noch auf dem Bock und tätschelte dem Hengst seinen Hals. Doch nun machte er Anstalten abzusteigen, fiel jedoch hin und kam mit einem Krachen auf den Holzboden auf. Allerdings erhob er sich nicht wieder. Der junge Kämpfer musste sich bei dem Sturz eine schwerste Verletzung zugezogen haben. Gespannt wartend schaute Magery von ihrem Posten am Mast, wann seine Waffenbrüder ihm zu Hilfe eilen würden. Doch niemand rührte sich. Sie beachteten ihn nicht einmal. Bei genauerer Betrachtung konnte das junge Mädchen auch keine Anzeichen von Schmerz in den Augen des Wikingers entdecken. Er fasste lediglich an seinen Gürtel und holte zwei spitze Eisenstangen hervor. Abwechselnd stieß er sie in das Eichenholz und zog sich so über den Boden. Erst jetzt bemerkte Magery die lederne Halterung um seine Knie. Mit goldenen Schnallen waren sie verbunden und hielten seine Beine zusammen. Er konnte nicht gehen. Er war ein Krüppel. Schockiert starrte sie Ivar an. Sein Gebrechen passte nicht in das Bild, was sie bis vor kurzem von ihm gewonnen hatte. Etwas einschüchterndes umgab ihn. Sie war sich nicht sicher ob es seine Augen waren, die einem das Gefühl gaben an Ort und Stelle festgenagelt zu werden oder ob es die Art und Weise war, wie er sprach. Obwohl das Mädchen nicht verstand was Ivar zu den Kämpfern sagte, erkannte sie das Unbehagen in den Augen der Männer. Sie fürchteten ihn. Und das konnte sie ihnen nicht verdenken. Denn irgendwas hatte der junge Wikinger an sich, dass ihn unberechenbar machte. Schaudernd wandte sie sich ab.
Als sie sich streckte um über den Bootsrand zu spähen sah sie ihre Heimat in der Ferne kleiner werden. Wie zwei Magnetpunkte hefteten sich ihre minzgrünen Augen auf das kleine Fleckchen Land, welches sie zuvor nie verlassen hatte.
Die Grafentochter schaffte es erst ihren Blick zu lösen, als ihre Heimat hinter dem Horizont verschwunden war.

Als es dämmerte war der Wind bereits abgeflaut. Die Wikinger hatten die Segel eingeholt und fuhren mit den anderen Booten im Schulterschluss. Wie viele mochten es wohl sein? Zwanzig? Dreißig? vielleicht sogar 40?

Ein roothaariger Nordmann mit einem perlenbesetzen Bart machte sich daran in einem eisernen Korb ein Feuer zu entzünden. Darüber befestigte er einen Spieß, an dem kurze Zeit später ein Schwein in den Flammen gewendet wurde. Die Männer hatten sich darum versammelt und tranken auf ihren gelungenen Beutezug. Unterstützt vom Klang aufeinanderkrachender Krüge machten gellende Lacher die Runde. Ein Kribbeln durchfuhr Magerys Körper, als sie den warmen Schein des Feuers auf ihrer Haut spürte. Unmerklich und so weit es ihre, an den Mast gefesselten, Hände eben zuließen, rückte sie ein Stückchen näher an die Flammensäule heran und schloss die Augen.
Umso erschrockener war Magery, als sie spürte wie sich jemand direkt neben sie fallen ließ. Wie das Mädchen es befürchtet hatte, handelte es sich um einen Wikinger. Sein fettiges Haar glänzte im Schein des Feuers und seine linke Gesichtshälfte war von einem verschlungenen Tattoo geprägt, welches sich seine gesamte Wange entlang zog.
"Ich begrüße euch an Bord meine Schöne.", während er sprach lehnte der Unbekannte sich nach vorne und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

"Ich bin Harald Schönhaar.", raunte er ihr ins Ohr. "Und dir wird die unfassbare Ehre zu Teil, mir heute Nacht zu Diensten zu sein." Mit einem schmierigen Lächeln legte er seine beringte Hand auf ihren Oberschenkel und ließ sie langsam höher wandern.
Ein plötzlicher Knall gebot ihm inne zu halten. Eine mit Runen verschnörkelte Axt war unmittelbar neben seinem Kopf in den Mast eingeschlagen. Erschrocken und verärgert zugleich wendete Harald sich ab, um das Wort an den Werfer zu richten. Doch dieser kam ihm zuvor. Es war Ubbe, der Größere der beiden Männer die Magery in ihrem Versteck entdeckt hatten. Wie sie vermutete, war er der dritte Bruder im Bunde.
"Hört mir zu!" Mit einem Mal wurde es still an Deck. Nur noch das Knistern und Knacken des Holzes war zu vernehmen.
"Das dort-", er wieß mit dem Kinn auf Magery.
"ist nicht bloß eine gewöhnliche Sklavin. Sie ist die Tochter des Grafen von Devon. Wir brauchen sie, um ein hohes Lösegeld zu erpressen oder sie in unseren zukünftigen Raubzügen als Druckmittel einzusetzen. Doch das geht nur, solange sie von Wert ist. Die Tatsache dass sie eine Frau ist, schmälert ihre Wichtigkeit ohnehin schon genug. Sollte sich herausstellen, dass sie geschändet wurde, so würde sie nicht mehr vermählt werden können und demnach politisch belanglos für ihren Vater werden. Das Mädchen steht also unter meinem persönlichen Schutz. Ist das klar?"
Ein untergründiges Murmeln und Köpfe nicken folgte auf die Stille. Harald warf Ubbe einen giftigen Blick zu. Er erinnerte Magery flüchtig an einen erbosten Jungen, dem sein neues Spielzeug weggenommen wurde. Kurz sah es so aus als ob er sich widersetzen wolle, doch der drohende Blick des jungen Kriegers ließ ihn letzendlich doch aufstehen und auf die andere Seite des Schiffes gehen.
Die Grafentochter zitterte am ganzen Leib. Magerys Lippe bebte, als die ersten Tränen über ihre Wangen rollten. Es war das erste mal, dass sie weinte, seitdem die Wikinger ihr altes Leben geraubt hatten. Denn nun erst realisierte das Mädchen, wie knapp sie einer Schändung entgangen war. So saß sie eine Weile da. Schluchzend und frierend, bis sich erneut jemand neben sie niederließ. Es war Ubbe. Er hielt einen Fellmantel in der einen und eine Schale mit Fleisch in der anderen Hand.
"Hier", er machte Anstalten ihr die Schale zu reichen, zog sie jedoch erneut zurück als sein Blick auf ihre gefesselten Hände fiel. Ein flüchtiger Ausdruck von Mitleid huschte über sein Gesicht. In einer fließenden Bewegung zog er einen silbrigen Dolch von seinem Gürtel und schnitt die Seile durch.
Die Haut um ihre Handgelenke war von der groben Faser aufgescheuert und brannte bei jeder Bewegung. Dennoch verlieh es Magery ein erleichterndes Gefühl, wenigstens einen kleinen Teil ihrer Freiheit wiedererlangt zu haben. Ubbe legte ihr den braunen Fellmantel um die Schultern und reichte ihr die Schale. Dankbar nahm das englische Mädchen beides entgegen. Es gab kein Besteck, also begann sie alles mit den Fingern in sich hinein zu stürzen. Erst jetzt bemerkte die Grafentochter, wie viel Hunger sie gehabt hatte. Schmunzelt hielt ihr Ubbe ein Horn hin, dass bis vor kurzem noch an seinem Gürtel gehangen hatte. Mit noch etwas klammen Händen griff sie nach dem Krug und führte ihn an die Lippen. Es war Met. Die nach gegorenem Honig schmeckende Flüssigkeit verursachte in ihrem Hals eine wohltuende Wärme.

"Danke"
Ubbe nickte nur, bevor er die Schale wieder an sich nahm und zurück zu dem mittlerweile hoch lodernden Feuer schritt.

Magery hatte sich vorgenommen nicht zu schlafen. Wenn sie den Heiden bei Bewustsein schon so ausgeliefert war, wie schutzlos war sie dann erst im Schlaf? Doch mit dem Drehen des Windes änderte auch der Rauch des Feuers die Richtung und zwang das junge Mädchen ihre Augen zu schließen. Von der Erschöpfung übermannt richtete sie sich noch ein paar mal auf, sank dann jedoch in einen tiefen Schlaf.

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