3. Kapitel
Ein letztes mal warf Magery einen Blick über ihre Schulter. Die lichterloh brennenden Verteidigungstürme ihrer nun in Schutt und Asche liegenden Heimstätte waren in der Ferne noch gut zu sehen. Nachdem die Wikinger alles was sie an Beute machen konnten an sich genommen hatten, waren sie wie bei einem Siegeszug singend und grölent aus der Burg gezogen. Magery war nicht ihre einzige Gefangene. Flüchtig hatte sie gesehen, wie ein stämmiger Mann mit einem Morgenstern am Gürtel eine Gruppe Jungen zusammengekettet hatte. Doch bevor sie sich ein genaueres Bild hätte machen können, war sie von Hvitserk weiter geschliffen worden. Zu Magerys Erstaunen war er, obwohl er noch recht jung war, beritten. Normalerweise besaßen nur Männer von hohem Stand oder besonders große Krieger ein Pferd. Er sah weder aus wie ein alter erfahrener Kämpfer, noch war seine Rüstung mit besonderem Prunk verziert. Lediglich an seinen Armen prangten zwei silbrige Armreife.
Stillschweigend ging sie nun schon über zwei Stunden neben dem Falben her. Auch wenn man das Wasser von der Anhöhe der Burg aus sehen konnte, war es doch ein weiter Weg bis zum Ufer.
Ein kalter Schauer jagte Magery den Rücken hinunter. Die vom Regen durchnässte Gewandung klebte ihr kalt an der Haut. Selbst der wollende Mantel konnte die Nässe nicht mehr abhalten und hing der Grafentochter nun schwer von den Schultern. Am liebsten hätte Magery ihre Arme um sich geschlungen, damit wenigstens etwas vor der Kälte geschützt war, doch die Seile welche nach wie vor erbarmungslos in ihre Haut schnitten machten dies schier unmöglich. Doch nicht nur die Kälte, sondern auch der Marsch machten ihr zu schaffen. Immer wieder gab der durchweichte Boden unter ihr nach, sodass sie stolperte und einmal fast hinfiel. Mit der Zeit begann sich ein Brennen in Magerys Beinen auszubreiten. Die junge Grafentochter war es nicht gewohnt so weite Wege zu Fuß zurück zu legen. Wenn ihre Familie reiste, so taten sie dies stets in einer Kutsche. Mit jedem Schritt schwanden ihre Kräfte. Magery hatte das Gefühl, sie würde auf zwei dünnen Streichhölzern laufen, die jeden Moment wegbrechen könnten. Nie zuvor hatte sie ein so großes Verlangen verspürt sich niederzulassen. Doch der Strick um ihre Hände zog sie unermüdlich weiter.
Ein dünner Schrei entwich Magerys Lippen, als ihre Knie nachgaben und sie der Länge nach ins feuchte Gras stürtze. Reglos blieb sie am Boden liegen. Zu erschöpft um sich wieder aufzuraffen schloss sie die Augen, in der Hoffnung, man würde sie einfach zurück lassen.
Der stetige Klang der Hufe verstummte, als Hvitserk sein Pferd durchparierte. Eine Erschütterung im Boden verriet Magery, dass er Abgestiegen war. Jede Faser ihres Körpers spannte sich an.
Wortlos griff der junge Wikinger das zitternde Mädchen und warf es sich über die Schulter.
"Ivar. Varða.", rief Hvitsark dem Mann auf dem Einspänner zu, dessen Pferd in einiger Entfernung vor ihnen her trottete. Mit einem kurzen Rucken der Zügel gab Ivar dem Schimmel zu verstehen, dass er anhalten solle. Mit einem fragenden Blick wandte der Kämpfer sich auf dem Bock um. Die beiden wechselten ein paar Worte in ihrer Sprache, dann Schritt Hvitserk auf den Wagen zu und ließ Magery über seine Schulter auf ihn gleiten.
Ivar schnaltste zwei mal und der Hengst setzte sich erneut in Bewegung. Die junge Grafentochter saß nun zu Füßen des Kriegers und musterte ihn eingehend. Seine braunen Haare waren unter einem matten Silberhelm verborgen. Unter der zederbraunen Lederrüstung trug er ein fein geknüpftes Kettenhemd, dessen Ringe bei jeder Erschütterung des Wagen aneinander schlugen und ein leichtes Klimpern erzeugten.
Magery zuckte zusammen, als der Wikinger plötzlich seinen bislang weit schweifenden Blick vom Horizont abwandte und ihn mit all seiner Intensität auf sie richtete. Kurz hielt sie dem Blick stand, schlug ihre Augen dann jedoch ertappt zu Boden. Ein selbstgefälliges Lächeln umspielte Ivars Lippen.
"Wie ist dein Name, þræll?", fragte er mit einem markanten Akzent. Erst viele Monde später sollte Magery erfahren, dass "þræll" ein nordisches Wort für Sklavin war.
Um beim antworten nicht kontinuierlich hoch schauen zu müssen, umfasste das junge Mädchen die Kante des Einspänners und zog sich daran hoch. Es gab ihr ein besseres Gefühl mit dem Wikinger Auge in Auge zu sprechen.
"Magery Arrington"
"Du bist eine Adlige." Es war keine Frage, sondern viel mehr eine Feststellung. Die Grafentochter wusste nicht recht, was sie darauf erwidern sollte. War es klug seine Vermutung auch noch zu bestätigen? Vielleicht wäre sie von geringerem Nutzen, wenn sie bloß eine Bauerstochter wäre und die Plünderer würden sie zurück lassen... Doch bevor Magery diesen Gedankengang weiter führen konnte, sprach Ivar bereits weiter.
"Deine Gewandung hat dich verraten. Das Kleid was du trägst wurde aus feinstem Samt gefertigt. Nicht einmal ein reicher Händler wäre ansatzweise in der Lage sich so einen kostbaren Stoff leisten zu können. Geschweige denn das Goldkreuz, was da um deinen Hals hängt. Erstaunlich dass es dir noch keiner abgenommen hat. Du solltest es lieber verbergen, wenn du es behalten willst."
Unwillkürlich griff Magery nach der Kette, welche ihr Dekolleté zierte und schob es unter den Stoff. Doch Ivar war noch nicht fertig. Blitzschnell ergriff er ihre immernoch gefesselten Händ. Das Mädchen erschrak und probierte seinem Griff zu entkommen, doch all ihre Bemühungen blieben erfolglos.
"Oder deine Hände. Sieh dir nur diese makellose Haut an. Keine einzige Narbe...nicht einmal ein Riss lässt sich erkennen. Also..aus welchem Hause stammst du?"
Magery schluckte bevor sie antwortete. "Aus dem Hause Devon. Mein Vater ist Edward Arrington. Der Graf von Devon.", während sie sprach probierte sie all ihren Stolz und Anmut in ihre Stimme zu legen, doch sie versagte kläglich.
Ivar pfiff anerkennend durch die Zähne. "Soso...die zukünftige Gräfin von Devon. Da haben meine Brüder ja einen wahren Schatz gefunden."
Magery horchte bei dem Wort "Brüder" kurz auf, wunderte sich dann jedoch nicht weiter. Wenn man drauf achtete waren ihnen die Ähnlichkeiten ins Gesicht geschnitten.
Das junge Mädchen atmete tief ein, bevor sie all ihren Mut zusammen nahm und ebenfalls eine Frage stellte. "Wo bringt ihr mich hin?"
Ivar schaute sie nicht an als er antwortete. Er legte seinen Kopf schief und blickte in die Ferne, wo mittlerweile die lang ersehnten Ufer des Atlantiks zu sehen waren.
"Nun...eigentlich hätten wir dich wohl mit den anderen Sklaven auf das Schiff nach Frankreich zum nächsten Sklavenmarkt gebracht. Aber dein blaues Blut ändert die Lage. Du solltest weinen vor Freude. Ich nehme dich mit nach Kattegat." Etwas diabolisches klang in seiner Stimme mit.
Erneut lief Magery ein Schauer den Rücken hinunter. Doch diesmal lag es nicht an der Kälte.
'Dem Vater geraubt, dem Mutterland entrissen', kam ihr der Vers eines ihrer Lieblingsgedichte in den Sinn. Magery wollte weinen, doch sie konnte nicht. Zu sehr steckte ihr der Schrecken noch in den Knochen. Sie fühlte sich wie ein Geist. Ein Geist ohne Gefühle und Emotionen. Ein Geist der alles sah, aber doch nicht gesehen wurde. Ein Geist dem kein Leid zugefügt werden konnte, da er einfach durch alles und jeden hindurch glitt.
Doch das waren nur die Spiele ihrer Gedanken. Sie war kein Geist. Jeder sah sie. Magery spürte es. Die forschenden Blicke der Wikinger lagen schwer auf ihren Schultern. Und ihr konnte Leid zugefügt werden... Grauenvolles nie wieder ungeschehen zu machendes Leid.
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