22. Kapitel
Ruhe. Vollkommene, unerschütterliche Ruhe. Das war alles was Magery verspürte, als sie in der Dämmerung aus einem tranceartigen Schlaf erwachte. Ohne den Kopf zu bewegen, schaute sich das Mädchen um.
Sie lag im Gras einer Hügelkuppe. Vor ihr erstreckte sich Kattegatt und dahinter das Meer. Doch Magery war nicht alleine. An ihrem Kopf saß eine in Umhänge gehüllte Gestalt. Ein rascher Blick nach oben verriet der Engländerin, dass es Ivar war. Vor ihm brannte ein Feuer, dessen Schatten auf seinen Zügen tanzten und sein Gesicht unter der dunklen Kapuze in eine groteske Totenmaske verwandelten. Doch die Ruhe ließ kein Gefühl von Unbehagen zu. Dennoch nahm Magery wahr, wie ihr Körper zu schwitzen aufgehört hatte und das Zittern verschwunden war.
Wie lange war das Rennen schon her?
Und wie war sie hier her gekommen?
"W-warum bin ich hier?"
Als sie sprach klang ihre Stimme unnatürlich tonlos und steif.
"Die Luft hier oben ist besser. Sie hilft dir die Wirkung schneller zu bekämpfen. Und wir sind näher an den Göttern"
Magery hörte was er sagte. Dennoch nahm sie jedes seiner Worte wie durch einen Schleier wahr.
Mit zusammengniffenen Augen konnte sie erkennen, wie ein Pferd in Kattegatt auf ein Boot verladen wurde.
"Kann ich Kallkyra vor dem Julfest noch einmal sehen?"
Ihr Herz wurde schwer, als sie an ihre Stute und deren Zukunft dachte, falls sie beim Kampf fallen sollte.
"Nein. Wieso solltest du?", sagte Ivar kalt.
"A-aber ich-....ich möchte mich..."
"Es wird keine Verabschiedungen geben. Gewinn den Kampf, wenn du dein Pferd wiedersehen willst"
Der Wind heulte auf und das hätte wahrscheinlich auch Magery getan, doch der Sud wirkte Wunder.
Aber er vermochte nicht alle schmerzvollen Gedanken zu vertreiben.
"Ich konnte mich schon nicht von meinem Vater verabschieden", flüsterte sie leise. Doch Ivar hatte es gehört.
"Noch schlimmer ist die Ungewissheit. Ich weiß nicht, ob er geflohen ist, ich weiß nicht, ob er die Frauen und Kinder im Festsaal verteidigen konnte, ich weiß nicht, ob er gefallen ist..."
Ein seltsames Lächeln trat auf Ivars Lippen.
"Und doch weißt du so viel. Du weißt, dass dein Vater gekämpft hat, um dich zu beschützen, du weißt, dass er dich niemals aufgegeben hätte, du weißt, dass du wertvoll für ihn bist und geliebt wirst"
Magery schwieg.
"Wenn er geflohen ist, dann nur mit der Absicht für seine Tochter zu überleben und sie eines Tages aus den Fängen der Barbaren zu befreien. Wenn er die Frauen und Kinder beschützt hat, dann stets mit dem Gedanken, dass auch du an ihrer Stelle sein könntest und wenn er gefallen ist, dann mit deinem Gesicht vor Augen und dem Hauch deines Namens auf seinen Lippen"
Ivars Blick starrte ausdruckslos in die Flammen
"Wozu dann also Abschied nehmen, wenn du onehin weißt welche Worte gewechselt worden wären?", sagte er und schaute sie voller Verachtung an.
Unbehagen drohte sich trotz des immernoch bestehenden Schleiers in ihrem Inneren auszubreiten. Doch dann verstand Magery.
Nicht ihr galt die Verachtung. Sie galt ihm selbst. Ihm und jenen, die ihn in seinen Augen verraten hatten.
"Weißt du nicht, was dein Vater dir sagen würde?", flüsterte Magery ehe sie begriff, was sie gerade gefragt hatte.
Außer einigen Legenden, die ihre Amme bereits in England erzählt hatte, wusste sie nicht viel über den legendären Ragnar Lothbrok. Lediglich dass er nach einem gescheiterten Schlachtzug in Paris die Macht abgegeben und Kattegatt verlassen hatte. Dass Ivar darunter gelitten haben könnte, war ihr nie in den Sinn gekommen.
Für einen Augenblick war Magery sich sicher der Wikinger würde sie jeden Moment am Hals packen und zudrücken, bis der letzte Funke Wärme von ihr gewichen war.
Doch stattdessen veränderten sich etwas an ihm, das Magery das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Die Verachtung wich einem Ausdruck, den sie bei Ivar nicht kannte. Seine Iris war erfüllt von Schmerz.
Schnell schlug Magery die Augen nieder. Sie konnte die Qual in seinem Blick nicht ertragen.
"Setz dich auf"
Schnell kam Magery seinem Befehl nach.
"Gib mir deinen Arm"
Wie aus dem Nichts holte Ivar einen Silberreif aus seinem Ärmel hervor und steckte ihn der Engländerin an das Handgelenk.
Ungläubig betrachtete Magery das Schmuckstück. Es war fein gearbeitet und mündete in jeweils zwei Bärenköpfe, die bedrohlich ihre Zähne fletschten.
"I-ist das für mich?"
"Nein. Das ist für die Wallkyren"
"Für die Wallkyren? Weshalb?"
Nun war es Ivar, der ihrem Blick auswich. Die Sonne war mittelerweile gänzlich hinter dem Horizont verschwunden und Kattegatt war zu einem wilden Meer aus tanzenden Fackeln und Feuerflammen geworden.
"Die Wallkyren holen die gefallenen Krieger von den Schlachtfeldern nach Valhalla. Warst du schon mal auf einem?"
Sie schüttelte den Kopf. Dennoch waren Kriege der jungen Engländerin nicht fremd. Während Magerys Kindheit
war ihr Vater oft an den Hof von König Ecbert gerufen worden, um mit seinen Gefolgsleuten Schlachten für ihn zu schlagen. Natürlich war sie stets betend mit ihrer Mutter zurückgeblieben. Doch wenn ihr Vater heil zurückgekehrt war, hatte sie oft heimlich den Geschichten gelauscht, die ihr Vater ihrem Cousin im Kaminsaal erzählte.
"Aber ich kenne den Ablauf einer Schlacht und habe schon oft davon gelesen", fügte sie schnell hinzu, um nicht unwissend und dumm zu wirken.
Ivar lachte herablassen.
"Wenn man sich einbildet den Ablauf einer Schlacht zu kennen, hat man sie so gut wie verloren"
"Wieso? Jedes Kind kennt doch den Ablauf einer Schlacht. Zwei Streitmächte stehen sich gegenüber und kämpfen bis eine der Beiden siegt", beharrte Magery in der Hoffnung dem drohenden Gesichtsverlust doch noch entgehen zu können.
"So würdest du deine Männer also in die Schlacht führen? Und was würdest du machen, wenn der Feind dir nur einen Teil seiner Streitkraft gegenüber stellt und die Andere hinter dich führt?"
Fieberhaft bemühte sie sich um eine schlagfertige Antwort. Doch Ivar unterbrach sie.
"Ich sag dir was du machen würdest. Sterben"
Magery schluckte.
"Im Krieg geht es nicht darum den Ablauf zu kennen, sondern die Taktiken des Feindes zu durchschauen. Deswegen heißt es Kriegstaktiker und nicht Kriegsablaufskenner, Magery."
Die Engländerin konnte spüren wie sie rot anlief.
"In deinem Land bist du doch eine Herrscherin... Oder wärst es zumindest geworden, wenn die Götter keinen anderen Pfad für dich gewählt hätten. Wieso hast du keinen blassen Schimmer davon wie man Schlachten schlägt?"
"Wieso sollte ich etwas davon wissen? Ich bin adelig aber ich werde niemals regieren"
"Offensichtlich nicht. Du bist eine rotznasige Geisel fernab von deinen Landen. Deine Aussicht auf eine Herrschaft ist zur Zeit denkbar schlecht"
"Auch wenn ihr mich nicht geraubt hättet würde ich niemals herrschen. Ich bin eine Frau"
Ivar zog die Brauen hoch.
"Auch nicht, wenn du den vorherigen König umbringen würdest?", fragte er skeptisch.
Magery riss die Augen auf.
"Natürlich nicht!"
"Ihr Engländer seid ein komisches Völkchen", sagte der Wikinger und warf einen weiteren Scheit ins Feuer, sodass die Funken sprühten.
Doch Magery spürte, dass seine Gedanken an etwas anderem hingen.
Still blickte sie auf das kühle Eisen an ihrem Handgelenk.
"Ich werde es gut verwahren"
"Nein du wirst es tragen"
Magery erschrak vor dem Nachdruck seiner Worte. Ivars Blick bohrte sich in ihren.
"Du trägst es Magery. Immer"
"Wieso?", flüsterte sie ohne den Augenkontakt zu brechen.
Er antwortete nicht.
"Wieso Ivar?", wiederholte sie verzweifelt.
"Ich war acht, als ich das erste Mal auf einem Schlachtfeld war. Unsere Krieger hatten die Männer eines feindlichen Jarls geschlagen und wir Kinder gingen durch die Reihen der Gefallenen, um ihre Waffen und Schmuckstücke einzusammeln, bevor sie im Regen zu rosten begannen"
Ivars Blick richtete sich starr auf die Flammen.
"Aber das waren keine Männer mehr Magery. Das war Blut und Fleisch, zusammengehalten von Lederrüstungen. Ich kannte viele der Krieger, die in der Schlacht fielen....aber unter den Toten erkannte ich keinen Einzigen."
Er schwieg einen Moment, bevor er weitersprach.
"Die Wallkyren die die Krieger nach Walhalla geleiten, erkennen die Gefallenen an ihren Armringen. Nur so wissen die Botinnen, dass sie ein Kind Odins vor sich haben"
Magery gefror das Blut in den Adern.
"Also weißt du es doch....", flüsterte sie.
".....dass ich sterben werde"
"Die Götter holen jeden von uns zu sich Magery. Und die Nornen spinnen immer zu unser Schicksal neu. Wir können nicht wissen was passiert. Wichtig ist nur, dass wir bereit sind. Nur wenn man bereit ist, kann man dem Tod ins Auge blicken ohne Angst zu haben"
Das Mädchen schwieg.
"Magery?"
"Ja?", erwiderte sie mit einer Stimme, die ihr selbst fremd vorkam.
"Ich möchte, dass du morgen nach Sonnenuntergang in meine Kammer kommst."
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