15. Kapitel
Die Wachskerzen der großen Halle waren fast gänzlich herunter gebrannt, als Magery durch den Türspalt hinein huschte. Lediglich ein Tisch nahe des hölzernen Thrones war mit glimmendem Licht erhellt. Die Wachen die daran saßen donnerten reihum Krüge und Würfelbecher auf das massive Holz, während sie sich quer über die Tafel abwechselnd schmutzig beleidigten und in grölendes Lachen ausbrachen. Es schien um einen hohen Einsatz zu gehen. Denn kein einziger Wachmann machte Anstalten seine Augen vom Spielbrett abzuwenden, als Magery durch die Schatten der Halle schlich. Vorsichtig tastete sie sich ihren Weg an der Wand entlang, bis ihre Finger auf eine eiserne Kante stießen. Obwohl der Rahmen der kleinen Tür durch die man sie ein paar Tage zuvor noch in den Thing geführt hatte gut im Dunkeln verborgen war, schaffte Magery es den Knauf hinter einem Fischernetz zu ertasten und mit einem Ruck zu öffnen. Kurz zögerte sie und lauschte, ob ihr Vorhaben unbemerkt geblieben war. Dann schlüpfte sie durch den engen Spalt in die kühle Nachtluft Kattegatts.
Brynnas Gut lag rund zwei Meilen östlich des Marktplatzes. Magery hatte das vor ein paar Tagen durch einen glücklichen Zufall erfahren, als Askur einem mit frisch geschmiedeten Äxten und Speeren beladenen Knecht den Weg beschrieben hatte. Jedoch wäre die detailreiche Beschreibung wohl nicht von Nöten gewesen. Lediglich die Himmelsrichtung hätte genügt. Denn Brynnas Gut war nicht zu übersehen. Es befand sich auf einem mit Gras bewachsenen Hügel, von dessen Spitze aus man eine weitläufige Aussicht auf ganz Kattegatt hatte.
Im Zentrum der Anhöhe erhob sich eine imposante Halle, die von zwei weiteren Gebäuden umrahmt wurde. Eine Palisade zog sich an der Rückseite des Hügels entlang und machte das herannahen von den Bergen aus unmöglich.
Geräuschlos ließ sich die junge Engländerin zwischen zwei Pappelstämmen auf den Bauch fallen. Der Hain verbarg ihre Umrisse vor möglichen Blicken der Wachposten. Erst jetzt spürte Magery, wie ihr Herz unnatürlich stark und schnell gegen den erdigen Untergrund schlug. Die kühle Nachtluft hatte alle anfänglichen Schwaden der Wut gelichtet. In der Ferne konnte sie erspähen, wie ein Bewaffneter vor der Halle auf und ab schritt. Magery schluckte. Noch konnte sie umkehren, sich davor bewahren einen riesigen Fehler zu begehen.
Sie haderte. Ein Steinkautz segelte über die Baumgruppe hinweg. Sein Schatten glitt lautlos über den erleuchteten Platz, bevor er wieder mit der Dunkelheit verschmolz.
Trotz seiner seidigen Schwingen, war der Raubvogel nicht unbemerkt geblieben. Einer der Wachmänner hatte ihn ebenfalls erspäht. Gebannt blickte er nun in die Dunkelheit, die durch die Umrisse der Berge, wie eine schwarze Festung vor ihm aufragte.
'Und wenn die Ängste nach mir greifen-....', flüsterte Magery die Anfänge eines ihrer Lieblingsgedichte.
'lähmend wie ein Gift sich schürt,
Und die Zweifel um dich streifen,'
Langsam richtete sie sich auf.
'Dir alles nehmen was dir gebührt-.."
Mit einer energischen Bewegung löste Magery ihre Mantelschnalle, woraufhin der Umhang zu Boden fiel.
'Dann raff dich auf aus deinem Elend,
Entfache eine lodernd Glut,
Denn wenn kein Retter mehr am Leben
Ist alles was dir bleibt der Mut.'
Während die Worte noch in ihrem Bewusstsein wiederhallten, stieß sich das junge Mädchen vom Boden ab und rannte los.
Der Wachmann hatte Magery nach wie vor den Rücken zugekehrt, als sie den Abhang hinab hetzte und sich mit einem Hechtsprung hinter einer Heuwagendeichsel verbarg. Unruhig suchten ihre braunen Augen die Gebäude ab.
Die großspeichigen Räder boten keinen guten Blickschutz und die Fackeln warfen ihre eigenen Umrisse flackernd auf den Platz. Der Wagen war mit schief gedrehter Achse, lieblos vor einem der flankierenden Gebäude abgestellt worden. Rund zehn Schritte trennten sie noch von dem Tor, das mit angelehnten Flügeln an der Stirnseite des Gebäudes prangte. Noch war der Wachmann abgewandt. Mit etwas Geschick könnte sie das Gebäude mit vier Sätzen erreichen und sich durch den Türspalt ins Innere retten. Aber was machte sie überhaupt so sicher, dass dies die Stallungen waren? Vielleicht befanden sich hier auch die Unterkünfte von Brynnas Lehnsmännern und sie würde geradewegs in einen Haufen betrunkener Wikinger stolpern.
Leise kroch Magery bis zur Hinterachse des Heuwagens, um einen Blick auf das andere Gebäude erhaschen zu können. Doch bevor sie die Umrisse hinter dem Schein der Platzfackeln ausmachen konnte, fiel ihr Auge auf etwas anderes. Rund zehn Schritte neben ihr ragte die Silhouette eines Kornspeichers in die Nacht. Sie hatte ihn vorher nicht bemerkt, da er fast gänzlich in der Dunkelheit zu verschwinden schien. Keine einzige Fackel erhellte seine Umgebung. Magery war der Grund bekannt. In ihrer Heimat wurde es nicht anders gehandhabt. Denn ein einziger Funken genügte, um das Getreide wie Zunder in Flammen aufgehen zu lassen.
Kein Jarl der Welt würde den Kornturm neben den Unterkünften seiner Männer bauen lassen, wo regelmäßige Handgreiflichkeiten und Brände keine Unüblichkeit waren. Sie musste sich also unmittelbar vor den Stallungen befinden.
Magery warf noch rasch einen Blick über die Schulter, bevor sie zu den Torflügeln hetzte und durch den Spalt schlüpfte. Erleichterung überkam sie, als der vertraute Geruch von Leder, Heu und Pferdeschweiß an ihre Nase drängte. Die meisten Pferde standen dösend in ihren Boxen und hoben nur kurz den Kopf, als Magery die Stallgasse entlang schritt. Sie hatte eine Kerze von der Halterung genommen, die als einzige Lichtquelle über den Tränken prangte. Ihr Herz machte einen Satz, als sie Kallkyra in einer der hinteren Boxen erspähte. Die Stute sah im spärlichen Kerzenschein noch magerer aus, als die Engländerin sie vom Marktplatz in Erinnerung hatte. Ein leises Schnauben etwich den Nüstern der Stute, als sie ihren Kopf über den hölzernen Balken streckte und sich von Magery am Kopf berühren ließ. Eine einzelne Träne ran über ihre Wange, als sie in die Augen ihres Pferdes blickte und ein Stück Heimat darin erkannte.
Hastig wischte Magery sie fort, schlang Kallkyra einen Strick um den Hals und führte sie auf die Stallgasse hinaus. Sie fluchte innerlich. Warum nur hatte sie in England nie geübt sich ohne Steigbügel und Treppchen auf ein Pferd zu schwingen? Als sie noch jünger war hatte sie ihren Cousin einmal dabei beobachtet, wie er mit einem Satz auf seinen Rappen gesprungen war. Aber als Magery dann ihren Rittmeister gefragt hatte, ob sie dies auch probieren dürfte, war er entsetzt gewesen und hatte ihr einen Vortrag über Damenhaftigkeit gehalten.
Ein kehliges Knurren riss sie aus ihren Gedanken und die Augen der jungen Adeligen weiteten sich im Schock. Aus der hintersten Box war ein hüfthoher Kettenhund auf die Stallgasse getreten. Durchsichtige Speichelfäden tropften aus seinen Leftzen, als das Biest die Zähne fletschte und sich mit einem weiteren Knurren näherte.
Magery löste sich aus ihrer Starre. Es war nicht ungewöhnlich, dass Stallungen von Gänsen oder Hunden bewacht wurden, um sich vor Pferdedieben zu schützen.
So schnell sie konnte kletterte die Engländerin auf den Querbalken und schwang sich auf Kallkyras Rücken. Mit einer Hand hielt sie noch immer die flackernde Kerze. Die andere war krampfhaft in die Mähne der Stute geklammert. Die schnellen Bewegungen hatten den Hund scharf gemacht, sodass er nun zum Sprung ansetzte. Panisch stieß Magery ihrem Pferd die Hacken in die Flanken, woraufhin es sich aufbäumte und die Stallgasse entlang preschte. Bellend setzte der Hund ihnen nach.
Das Tor flog krachend auf, als Kallkyra in Panik hindurch brach und auf den Hof galoppierte. Männliche Stimmen und das Klirren von Eisen drangen an Magerys Ohr. Der Hund hatte sie mittlerweile mit wenigen Sprüngen erreicht und setzte erneut zum Sprung an. Hektisch wirbelte Magery herum und warf die Kerze nach dem wolfsartigen Ungetüm. Sie verfehlte um Längen. Anstelle des Hundes, prallte das flackernde Licht gegen eine Innenwand des Kornspeichers, der umgehend Flammen schlug. Eine Gruppe Männer war, alarmiert durch das Bellen, aus der Halle gestürmt. Einer schrie etwas über den Platz, was den Wachhund irritierte, wodurch er seinen Sprung abbrach und knapp vier Schritte neben Kallkyra landete. Die Stute machte einen Satz zur Seite und Magery hatte Mühe sich auf dem scheuenden Pferd zu halten. Mittlerweile erfüllten Schreie die Luft über dem Platz. Sechs Männer die ihren Schock als erstes überwunden hatten rannten brüllend auf die Engländerin zu. Erneut drückte das Mädchen ihrer Stute die Hacken in die Flanken.
Doch sie kam nicht weit. Ein harter Gegenstand prallte mit solcher Wucht zwischen Magerys Schulterblätter, dass sie wie tot vom Pferd sackte. Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihre Schulter, als sie hart auf den Boden aufschlug. Verschwommen sah sie die Umrisse der Gestalten, die im roten Schein der Flammen auf die zu gerannt kamen. Jemand packte sie unsanft an der schmerzenden Schulter und zog sie hoch. Langsam begann die Engländerin ihr Umfeld wieder klar wahrzunehmen. Es hatte sich ein Pulk von Männern um sie gebildet, die sie teils mit Verachtung und teils mit Verwunderung musterten. Zu Magerys Erleichterung war nur ein anwesender Wachmann bewaffnet. Die restlichen Krieger mussten unmittelbar aus der Halle gestürmt sein, in der das Tragen von Waffen als Beleidigung empfunden wurde. Neben ihr am Boden lag ein leerer Holzkrug, mit dem ein junger Nordmann sie am Rücken getroffen hatte.
Der Herzschlag des Mädchens verdoppelte sich, als die Wache eingeschüchtert zur Seite trat um Brynna passieren zu lassen. Anders als auf dem Boot trug sie nun ein ledernes Korsett, das ihre Taille unnatürlich schmal im Vergleich zu der restlichen Fülle ihres Körpers wirken ließ. Als sie Magery sah, funkelten ihre Augen in Verachtung. Der Schein des Feuers ließ ihre Haut unnatürlich rot glänzen, sodass sie einem Dämon ähnelte, der vom Blutdurst gepackt wurde.
"Das ist die Pferdediebin. Sie wollte das neue Pferd stehlen, während wir feiern. Zur Ablenkung hat sie unsere Ernte angesteckt", polterte ein kleiner Wikinger mit kahl rasiertem Kopf drauf los.
Brynnas Augen bohrte sich in Magerys, die unter den Anschuldigungen immer kleiner zu werden schien.
"Ich hab nicht-..", begann sie. Doch die Schildmaid hatte mit zwei Schritten die Distanz zwischen ihnen überwunden und die Engländerin unsanft im Gesicht gepackt.
"Schweig þræll! Du denkst vielleicht du kannst dir alles nehmen was du willst, weil dein Vater ein Stück Metall auf dem Schädel getragen hat, bevor wir kamen und es ihm vom Kopf gepflückt haben. Aber lass mich dich eines besseren belehren. Hier bist du keinen Deut besser als der Köter der dich vorhin fast in Stücke gerissen hat. Du wirst für deine Taten bezahlen. Sieh hin!"
Grob verdrehte Brynna den Kopf der Engländerin zu Seite, wo die Flammen des Kornspeichers bis an die Turmspitze schlugen. Die Männer hatten jegliche Löschversuche aufgegeben und nässten nur noch den Sand, damit die Flammen nicht auf den Stall übergreifen würden.
Brynna spuckte deftig aus.
"Weißt du was wir mit Brandstiftern machen? Wir spießen sie auf einen Pflock und zünden ihn von unten an, sodass sie brennend in den Tod gehen. Ohne eine Klinge in der Hand! Aber das ist für dich ja ohne Bedeutung, nicht wahr Christin?"
"Töte mich und die Lothbrokbrüder spießen dich daneben.", brachte Magery hervor, wobei ihre Stimme sicherer klang als sie es eigentlich war.
Eine behandschuhte Rückhand zog schmerzhaft über ihre Wange, sodass ihr Kopf zur Seite flog.
"Da hast du recht. Dein Leben bleibt verschont Engländerin. Aber bezahlen musst du trotzdem. Holt mir ein Beil!", zischte Brynna ihren Männern zu, die ihrem Befehl umgehend nach kamen.
Magery schrie und trat um sich, als ihr Handgelenk gegriffen wurde und jemand sie zu Boden drückte. Ein stämmiger Mann mit einer Augenklappe war vor sie getreten. Die Schneide des Beils in seiner Hand glänzte hell im Feuerschein. Zwei Wachen hatten sich zu ihr gekniet und fixierten ihren Arm so fest am Grund, dass sich kleine Steine in ihre Haut bohrten. Die Männer im Pulk hatten begonnen im Takt auf Oberschenkel und Arme zu schlagen, während der Einäugige Brynna fragend ansah.
Sie nickte.
Magery sah nicht, wie ihr Richter das Beil hob. Sie sah nicht, wie sich die Tättowierungen auf seinem Oberarm zu bewegen schienen. Sie sah nur die Flammen, die hinter Brynna allmählich zu versiegen begannen.
"Halt!", dröhnte eine Stimme über den melodischen Takt der Schläge.
Das Beil stockte in der Luft. Zögernd wandte Magery sich um.
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