12. Kapitel
Fast geräuschlos kamen die Räder auf dem Waldboden zum stehen, als Ivar seinen Schimmel parierte. Eine Weile hatte Magery vermutet, er würde sie wieder zum Tempel bringen. Doch nun standen sie inmitten einer kleinen Lichtung, umgeben von Pappeln, Kiefern und vielen weiteren Bäumen, dessen Namen ihr unbekannt waren.
"Von hier aus müssen wir ohne den Wagen weiter.",während er sprach ließ er seinen kupferbraunen Mantel von den Schultern gleiten und warf ihn der etwas verloren dahstehenden Engländerin zu.
"Zieh dir das über. Mit dem roten Wams würde dich jeder Elch aus einer Entfernung von sechshundert Ellen bemerken."
Schweigend legte Magery den Mantel über ihre Schultern und folgte dem langsam im Dickicht verschwindenden Krüppel.
'Wo bringt er mich hin? Warum soll ich ihm in den Wald folgen?'
Unwillkürlich schoss ihr die Geschichte des Rotkäpchens in den Sinn. Ein weiteres Märchen ihrer Amme, in dem ein junges Mädchen von einem Wolf gefressen wird. Auch Rotkäpchen hatte sich in einen tiefen Wald locken lassen...
Doch Magerys Gedankengang endete abrupt, als sich die Dornen einer Himbeerranke in den Stoff ihrer Hose verbissen und sie zum anhalten zwangen. Sie fluchte und zog an dem Trieb, was den gesamten Strauch zum rascheln brachte und eine aufgeschreckte Amsel schimpfend zwitschernd aufschoben ließ.
Sie konnte Ivar laut ausatmen hören, bevor er sich umdrehte und sie aus gereitzten Augen anfunkelte.
"Ob du wohl die Freundlichkeit besitzen würdest dich ein bisschen leiser zu verhalten?"
Magery nickte rasch.
"Hätte ich gewusst wie du dich anstellst, dann wäre es womöglich genauso dienlich gewesen, sich mit dem Wagen eine Spur durchs Unterholz zu pflügen", murmelte er, nachdem er sich wieder umgedreht hatte.
Die nächste halbe Stunde verbrachte Magery also damit, Dornenbüschen auszuweichen und den Vogelstimmen zu lauschen, die sie seit Anfang des Weges begleiteten. Erst als Ivar die Hand hob, hielt sie inne und schaute sich um. Vor ihnen spaltete ein schmaler Flusslauf den mosigen Boden. Unmittelbar davor war eine Trauerweide aus dem Grund geschlagen, dessen lange Triebe bis in den Fluss hinunter reichten und kleine Furchen in die Wasseroberfläche zogen. Ein paar Ellen über den Wurzeln hatte der Stamm sich gegabelt, sodass eine kleine Mulde entstanden war. Sie schien Ivars Ziel zu sein, als er sich bis vor den hohen Baum hievte und Magery zu sich wunk. Gespannt darauf, was die Astgabel verbogen hielt trat sie heran. Zwischen den gespaltenen Trieben hatte ein Blaumeisenpaar ihr mit Wolle und Federn ausgekleidetes Nest gebaut, in dem drei kleine Küken verschlafen in die Sonne blinzelten. Als Ivar sich über sie beugte und eines der aufgeplusterten Bündel heraus nahm, piepte es verzückt. Magerys Augen funkelten. Lange hatte sie nichts derart herzerwärmendes mehr zu Gesicht bekommen. Ohne zu zögern ließ sie sich mit dem Rücken zur Weide neben den Wikinger sinken und fuhr dem Meisenküken mit dem Zeigefinger über den schon leicht bläulich gefärbten Kopf. Ihr Gefieder war so fein, dass die Fingerkuppen der Adeligen fast keine Berührung wahrnahmen. Das Küken legte den Kopf schief und piepte erneut.
"Möchtest du es halten?", fragte Ivar schmunzelnd und rückte näher an Magery heran, die ihre Hände bereits unter seine hielt. Als der Wikinger seine beiden Handflächen wie eine Falltür zur Seite schnellen ließ, plumpste das piepende Federbündel auf Magerys Hand, wo es sich instinktiv an ihrem Daumen festklammerte. Erst jetzt bemerkte die Engländerin, dass der Meise eine Kralle fehlte. Doch das schien ihr nichts auszumachen, denn sie schlug erstaunlich munter mit den kleinen Flügelchen und putzte sich an der Brust.
"Gefällt es dir?"
Dieser Frage musste die Engländerin nicht antworten. Er kannte sie schon, als das Mädchen sich umgehend wieder dem kleinen Wesen in ihrer Hand widmete. Ivar lächelte. Doch hätte Magery genauer hingeschaut, dann hätte sie gesehen, dass das Lächeln seine Augen nicht erreichte.
"Töte es."
Ihre Hand erstarrte auf dem Kopf des Kükens.
"W-was?", stotterte sie, nicht im Stande zu verstehen, was sie gerade gehört hatte.
"Dein Kampfstil wird besser. Aber welchen Nutzen hat der beste Krieger aus allen Welten, wenn er nicht töten kann?"
Seine Stimme klang trocken. Fort geweht die anfängliche Sinnlichkeit.
Langsam und wie betäubt, legte Magery ihre zitternden Finger um den Nacken des jungen Singvogels. Sie hatte schon einmal gesehen, wie menschliche Hände das Leben eines so anmutigen Tieres beendet hatten. Damals war sie der zurückkehrenden Jagdgesellschaft ihres Vaters entgegen gelaufen. Unter ihnen befand sich ein Falkner, der seinem Bussard die Blindenkappe erneut aufsetzen wollte, als er sich losriss und seinem Herren im aufsteigenden Flug das Gesicht zerkratzte. Dieser hatte den Raubvogel jedoch noch am Lederriemen zufassen bekommen und brach ihm in blinder Wut das Genick. Schon damal hatte Magery bitterlich um das majestätische Tier geweint.
Nun spürte sie das wärmende Gefieder des Vogels an ihren Fingern, sein schnell schlagendes Herz unter ihrer Haut. Fast unmerklich schüttelte die Engländerin den Kopf.
"Magery töte den Vogel!"
Ivar Stimme klang unbeherrschter, als sich seine Augen wie scharfe Pfeilspitzen in ihre bohrten. Wie eine lauernde Bestie aus den alten Büchern kauerte er vor ihr im Gras und ließ sie durch seinen bloßen Anblick in sich zusammen sinken. Der Zeitpunkt war gekommen, vor dem sich die Adelige seit ihrer Ankunft in Kattegat gefürchtet hatte. Der Moment, in dem sie sich ihm offen widersetzen musste.
Magery konnte den Wikinger laut ausatmen hören, spürte wie seine Geduld schwand und dennoch konnte sie das so zierliche Genick des Kükens nicht zerbrechen. Nun fühlte sie nicht nur den Herzschlag des Jungvogels, sondern auch ihren eigenen, der weiteres Adrenalin durch ihre Venen pumpte.
Obwohl die Sonne das Flussbett in hellem Licht badete, schienen Ivars Augen fast gänzlich schwarz, was ihm ein raubtierähnliches Aussehen verlieh. Magery wandte den Blick ab, in der Hoffnung ihre stetig anwachsende Furcht lindern zu können. Und dennoch hielt sich das Gefühl, als würden seine Augen sie festnageln, ohne überhaupt eine Hand an sie zu legen. Seine Präsenz legte sich wie ein dunkler Schleier um das junge Mädchen und raubte ihr die Luft zum atmen. Mittlerweile hatte Magery aufgegeben sich von ihrer Furcht befreien zu wollen. Denn ihre Gedanken schienen nur noch von einem Wort beherrscht zu werden. 'Flieh'
Und dann tat Magery das, wonach ihr Körper bereits geschrien hatte, seit Ivar das erste mal zu ihr gesprochen hatte. Sie ließ den piepsenden Vogel ins Moos fallen, wirbelte herum und lief los. Im Umdrehen konnte sie noch das Schnauben des Wikingers vernehmen, konnte hören, wie er ihr etwas hinterher brüllte. Doch die Worte gingen im Rauschen ihrer Ohren unter. Sie lief blind, von Angst getrieben, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen. Alles was sie wollte, war dem Krüppel zu entkommen. Dornenranken schlugen sich in ihren Stoff und zerrissen das Gewand. Der felsige Boden war uneben und steinig, weshalb Magery ein paar mal umknickte und einmal sogar von den Beinen gerissen wurde, als sie über eine Eichenwurzel stolperte. Der Aufschlag war hart, doch die Engländerin konnte nicht stehen bleiben. Sie raffte sich auf und bahnte sich ihren Weg weiter durchs Unterholz. Erst als sie die Dächer Kattegats erblickte, hörte sie auf zu rennen. Die Straßen waren wie gewöhnlich voll mit Menschen und Karren, die sich ihren Weg durch die schlammigen Straßen bahnten. Ihr Atem ging immernoch flach, als sie die Schmiede erreichte. Der Schmiedemeister stand wie üblich am großen Ofen und hielt etwas in die glühenden Kohlen. Als Magery eintrat nickte er ihr kurz zu. Askur stellte jedoch keine Fragen, weshalb die Engländerin ihm sehr dankbar war. Der Schmied sprach nicht viel und wenn dann nur das Nötigste. Aber dennoch war ihr seine Gesellschaft angenehm. Leicht humpelnd durchquerte sie den Raum und setzte sich auf die eisenbeschlagene Truhe. Erst jetzt schien sich der Nebel ihrer Gedanken langsam zu lichten. Wie war sie nur in diese Lage geraten? Vorher hatte die Christin nie darüber nachgedacht, dass sie unwiederbringlich ein Menschenleben nehmen musste, um selbst zu leben. Darauf hatte Ivar die 'Prüfung' im Wald ausgelegt. Er wollte sehen, ob sie im entferntesten dazu in der Lage war zu töten. In dieser Hinsicht hatte sie versagt. Doch Magery bereute es nicht. Sie wusste, dass sie es einfach nicht über sich bringen könnte ein Leben willkürlich zu beenden. Es stand doch auch im heiligen Buch, dass töten eine schwere Sünde sei. Aber hatte sie denn eine Wahl? Der bevorstehende Kampf war nicht bis aufs erste Blut, sondern auf Leben und Tod. Unwillkürlich fasste sich Magery an die Schläfen. Sie wollte sich nicht damit befassen.
Erst jetzt hatte sich ihr Atem beruhigt. Ob Ivar sie suchen kommen würde? Der Gedanke daran trieb die Angst zurück in ihre Glieder. Es war mit Sicherheit schlimm genug, dass sie sich seinem Willen widersetzt hatte, doch ihre unbedachte Flucht war weitaus schlimmer. Sie hatte bereits Sklaven gesehen, die versucht hatten ihren Herren zu entkommen. Einigen waren die Hände oder Ohren abgeschnitten worden. Magery begann zu zittern. War jetzt vielleicht der beste Moment gekommen, um zu beenden was sie angefangen hatte? Sollte sie aus Kattegat fliehen? Ein Schrei zerriss ihre Gedanken. Kurz darauf folgte ein kleiner Junge, der weinend in die Schmiede gerannt kam.
"Askur der große Hund von Sverri hat mich angeknurrt.",schluchzte er und drückte sich nah an den Schmied. Dieser bückte sich zu dem Kind und schenkte ihm ein schiefes Lächeln.
"Dann solltest du froh sein, dass es nicht der Fenriswolf gewesen ist, der dich angeknurrt hat."
"Der Fenriswolf?", fragte der Junge sichtlich verwirrt.
"Ja. Er ist der Sohn des Lügengottes Loki. Sein Fell ist schwarz wie das Federkleid eines Rabens und er ist größer als jeder Baum den du je gesehen hast. Nichts ist vergleichbar mit seiner Stärke. Das machte den Göttern Angst und sie holten ihn nach Asgard, in der Hoffnung seine Wildheit zu bändigen. Doch nichts konnte Fenrir zähmen, weshalb die Götter sich dazu entschieden, ihn mit den beiden Ketten 'Läding' und 'Droma' anzubinden. Doch Fenrir zerris beide mühelos. Nun erzitterten die Götter vor Angst und baten die Zwerge um Hilfe. Daraufhin schmiedeten sie ein Band aus dem Bart der Weiber, dem Schall des katzentrittes, der Stimme der Fische, dem Speichel der Vögel und den Wurzeln der Berge. Nun wollten die Götter Fenrir erneut mit dem Seil fesseln, doch dieser schöpfte Verdacht und forderte eine Sicherheit, indem einer der Götter ihm seine Hand ins Maul legte. Keiner außer der Kriegsgott Tyr war mutig genug, um die Forderung des Fenrir Wolfs zu erfüllen. Also wurde Fenrir mit dem Band der Zwerge in Ketten gelegt und probierte auch diese zu zerreißen. Doch diesmal schnürten sie sich nur noch fester. Aus Rache und Verzweiflung bis Fenrir Tyr den Arm ab. Die Seile jedoch hielten und so hatten die Götter vorerst über die Bestie triumphiert."
Der Junge hatte aufgehört zu weinen und fragte Askur weiter über Asgard und seine Bestien aus. Doch Magery lauschte dem Gespräch nicht mehr.
Ivar war wie Fenrir. Und wie die Zwerge musste sie Unmögliches tun, um in seiner Welt zu bestehen.
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Wie hättet ihr an Magerys Stelle reagiert? Würdet ihr euch mit dem Gedanken anfreunden können einen Menschen im Duell der Götter zu töten?
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