2. Kapitel - Milan

„Bist du soweit?"
Ich atme einmal tief durch, wende mich von meinem Spiegelbild ab und drehe mich zu ihr.
„Ja", antworte ich nach einem Zögern. Trotzdem würde ich meine Antwort am liebsten schon wieder rückgängig machen. Zwar bin ich bereit, das gewiss, doch ich freue mich keineswegs auf das, was mir bevorsteht. Mir ist bewusst, dass es dumm ist und ich mich vielleicht sogar eher freuen sollte, weil es mein Leben ist.
Ein Ort, den ich liebe. Menschen, die ich liebe. Aber hier ist es anders. Anders, weil ich ich sein kann, ohne Angst haben zu müssen, dass etwas herauskommt oder zu offensichtlich wird. Auch wenn das Wissen nichts verändert und ich immer ich bin und sein werde, fühlt es sich unfassbar gut an, diesen einen Menschen zu haben, der es weiß.
„Du weißt, ich habe dich lieb", spricht sie, mustert mich für einige Sekunden und fällt mir in die Arme, mit denen ich sie auffange, halte und an mich drücke. Diese Worte haben eine andere Bedeutung als damals. Doch genau das ist das Schöne daran.
„Klar weiß ich das", gebe ich wieder und ihrer Kehle entweicht ein leises Schmunzeln, ehe sie sich von mir löst und einen kleinen Schritt zurücktritt, mir aber gegenüberstehen bleibt, um mir mit sanftem Ausdruck entgegenzublicken.
„Ich habe dich auch lieb, Steffie", erwidere ich nach einiger Zeit der Stille, was sie zum Lächeln bringt.
„Ich weiß", fügt sie zu ihrer Mimik hinzu und lächelt noch breiter, was dafür sorgt, dass meine Mundwinkel sich ebenfalls in die Höhe ziehen und die Andeutung eines Lächelns umspielen.
Auch wenn ich weg muss.
Für einen Moment schaut sie mich einfach nur an und behält ihr Grinsen mit Stolz auf ihren Lippen.
„Zweiter April?"
„Zweiter April", antworte ich und atme aus. „Aber du brauchst nicht extr..."
„Papperlapapp", unterbricht sie mich. Sie tritt an mir vorbei, woraufhin ich mich umdrehe. „Ich werde da sein, zu einhundert Prozent und du hast keinerlei Einspruchsrecht, denn diesen besonderen Tag, auf den du schon seit über zwei Jahren ..." Sie hält inne „Nein, eigentlich dein ganzes Leben lang wartest, lasse ich mir unter keinen Umständen entgehen." Und bevor ich hätte noch etwas sagen können, nimmt Steffie eine meiner Taschen in die Hand und verlässt mit einem großen Grinsen den Raum.
Zwei Jahre ... ganzes Leben ... besonderer Tag. Wartezeit ... Es sind immerhin noch gut zwei Monate bis dahin. Vielleicht minimiert sich das ganze Schlechte ja mit jedem Tag, der verstreicht, bis endlich der zweite April ist.
Ein Seufzen kommt aus mir heraus, doch dann bewege auch ich mich zur Tür, greife nach meinem Rucksack und folge ihr ins Wohnzimmer, wo ihre Mutter mich ebenfalls herzlichst umarmt.
„Komm bald mal wieder, ja?" Sie lässt von mir ab und ich nicke ihr zuversichtlich zu, was sie mit einem noch breiteren Lächeln absegnet. Ich werde definitiv mal wieder hierherkommen.
Nichtsdestotrotz werde ich die beiden wirklich vermissen.

Schon wenige Minuten später stehen Steffie und ich vor der Tür des Hauses und fangen an, langsam die dunklen Straßen entlangzugehen. Schweigend laufen wir nebeneinander her, genießen die Finsternis und die Anwesenheit des anderen. So lange, bis wir an unserem Ziel ankommen. Der verlassene und leere und vergessene und so ziemlich einzige Bushaltestelle, die es in diesem Ort gibt. Und die einzige, die zum Bahnhof in die nächste Stadt führt, von der ich den Bus nach Harsefeld nehmen kann.

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