1. Kapitel - Luca
Da ist diese Schwere, die sich in meiner Kehle breitmacht. Die Enge, die meinen Brustkorb vereinnahmt und die Angst, die jedes meiner Körperteile lähmt und mich davon abhält, etwas Dummes zu tun.
Wenn das nicht schon längst zu spät wäre.
„Papa, bitte tu mir das nicht an", sage ich. Ob es mehr ein Flüstern, ein Schreien oder normales Reden ist, kann ich nicht sagen, da ich meine eigene Stimme kaum wahrnehme. Ich höre nur meinen Puls, der in meinen Ohren schlägt, als wäre mein Herz ganz kurz davor, in Abermillionen Teile zu zerspringen und mich für immer aus dieser Situation zu retten, die ich mir selbst eingebrockt habe.
Er drückt mich gegen die Wand und hält seine geballte Faust in meine Richtung. Die Faust, von der ich eigentlich ausgegangen wäre, sie nie wieder zu sehen.
In seinen Augen ist nichts. Nichts außer Leere und Hass und gleichzeitig so einer Emotionslosigkeit, die auf alles deutet. Aber nicht auf die leise und so liberale Tatsache, dass er mich, seinen eigenen Sohn, noch irgendwo und ansatzweise lieben würde. Was man von seinem Vater doch irgendwo erwarten würde, erwarten könnte.
Und dann, als ob es nicht schon schlimm genug wäre, kommt er mit seinem Gesicht näher an mich heran. Die Alkoholfahne, die seinen Rachen verlässt, spüre ich in meiner Nase. Nur leicht und in der Luft verfliegend, aber sie ist da. Erträglicher, im Gegensatz zu den vorherigen Tagen, Wochen und Monaten, in denen er versuchte, den Schmerz in Alkohol zu ertränken.
Den Schmerz, ausgelöst durch den Verlust der einzigen Person, die er jemals wirklich geliebt hat.
„Du bist nicht mehr mein Sohn." Mit großer Mühe versuche ich den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken. Dieser festgesetzt, als würde er mich noch bis an mein Lebensende begleiten wollen.
Verdammt, ich muss mich jetzt zusammenreißen!
Meine Augen brennen, mein Schädel pocht und bittet, um Erlösung, aber das geht nicht. Denn jetzt, genau in diesem Moment und vor ihm, wäre es nicht vorteilhaft, wenn ich noch mehr Schwäche zeigen würde.
„Papa, i-ich", versuche ich zu reden, doch verstumme sofort, als ich einen lauten Knall höre. Der Aufschlag von der Faust meines Vaters auf die Wand, direkt links von meinem Kopf.
Das nächste Mal würde er nicht verfehlen, das ist mir glasklar.
„Ich habe dir gesagt, du sollst mich nicht mehr so nennen!", brüllt er mir direkt in mein Gesicht, sodass einige seiner alkoholisierten Speicheltropfen auf meinen Wangen landen. Doch ich habe keinerlei Möglichkeit, sie wegzuwischen, was momentan echt mein kleinstes Problem ist. „Wer will schon freiwillig der Vater einer solchen Abscheulichkeit sein?"
Sein Griff wird noch fester und sein Gesicht rückt noch näher. „Ich habe dich gut erzogen, deine Mutter hat dich gut erzogen. Was glaubst du, wie enttäuscht sie von dir wäre, wenn sie sehen könnte, was aus dir geworden ist?"
Bevor ich es noch weiter kontrollieren kann, passiert es. Die erste Träne rollt aus meinem Auge, nässt meine Wange und meine Atmung sackt völlig zusammen. Nicht nur die Hand an meinem Hals löst dieses Empfinden aus. Auch diese Worte saugen die letzten Reste des Sauerstoffs aus meinen Lungen.
Natürlich bekomme ich dafür eine Reaktion. Er nimmt seine Faust nach oben und schlägt mich. Fast meine ich, ein leichtes Lächeln auf seinem Gesicht zu vernehmen, als er seine Hand zurückzieht und sein Kunstwerk begutachtet.
„Benimm dich gefälligst, wie ein Mann, du widerliche Schwuchtel", schreit er, doch es braucht nur wenige Sekunden und die Worte verschwimmen in meinen Ohren, machen es kaum mehr möglich, sie in mein Gehirn zu nehmen und wirklich aufgreifen zu können.
Ein weiterer Schlag trifft meine Haut. Doch ich kann nicht sagen, wo er mich getroffen hat. Der Schmerz fühlt sich dumpf an, als wäre er gleichzeitig überall und nirgendwo.
Ich unterbinde es mir, mich zu regen oder auch noch ein weiteres Wort zu sagen, denn dafür bin ich zu betäubt, zu geschockt, zu verletzt.
„Du verlässt jetzt gefälligst mein Haus!", schreit er erneut.
„Ich muss sie schützen, darf nicht zulassen, dass sie auch so werden", brabbelt er weiter. Wohl mehr zu ihm selbst und nicht an mich gerichtet.
„Du hast zwei kleinere und leicht zu beeinflussende Geschwister." Dieser Hass in seinen Augen, ängstigt mich mehr als seine Faust, die wieder bedrohlich näher an meinen Schädel wandert. Fast so sehr, dass ich das Bedürfnis habe, wegzuschauen. Obwohl ich sowieso nicht viel durch die Trübung meiner Sicht erkennen kann.
Kann ich nicht endlich aus diesem Albtraum aufwachen? Merken, dass es nicht real ist, nur in meinem Kopf passiert? Dass es nur ein wenig böser Sand ist, den mir das Sandmännchen fälschlicherweise zu gepustet hat.
„Du packst jetzt einige Sachen von dir", spricht er, dieses Mal in einem milderen Ton, bevor seine Wut wieder mehr Raum in seiner Stimme findet, „und dann wirst du von hier verschwinden!"
Er macht eine Pause, lehnt sein gesamtes Gewicht auf den Arm, mit dem er meinen Hals stabilisiert. Tief atmet er aus, wobei mir der Duft von Alkohol erneut in die Nase fliegt und dort ein unangenehmes Brennen hinterlässt.
„Und ich schwöre dir, wenn du in zwanzig Minuten nicht weg bist, werde ich dich eigenhändig hier rausprügeln!"
„Bitte Papa, bitte." Ich spüre einen Schlag, einen zweiten, folgend einen dritten und einen vierten, was in meinen Augen noch mehr Tränenflüssigkeit aufkommen lässt.
„Du sollst mich verdammt nochmal nicht so nennen! Ich bin nicht dein Papa, du gehörst nicht mehr in diese Familie, also hau endlich ab. Ich will dich hier nicht mehr sehen!" Er mustert mich verachtend und fängt kurzerhand, völlig aus dem Nichts, gruselig zu lachen an, ehe er von mir ablässt und mich in Richtung Treppe schubst.
Beinahe falle ich hin, was wahrscheinlich nicht einmal an dem Schubsen liegt, sondern eher daran, dass sich meine Beine, wie Wackelpudding anfühlen, meine Sicht von den sämtlichen Strömen getrübt ist und ich keine Kontrolle mehr habe. Weder über mich selber noch über das, was ich nicht mehr rückgängig machen kann.
„Jetzt pack deine Sachen und verschwinde von hier!", schreit er. Ich kann gar nicht sagen, wie oft derartige Worte seinen Mund innerhalb der kurzen Zeit verlassen haben und ehrlich gesagt, will ich es auch gar nicht wissen.
Als ich immer noch dastehe, ihn vermutlich total fassungslos anschaue und meine Gedanken ordnen will, kommt er ein paar Schritte näher auf mich zu, weshalb ich mich nach rechts drehe, und die ersten Stufen der Treppe hochtaumle, bis ich schließlich in meinem Zimmer verschwinde.
Ruhe, Leere, Dunkelheit und nur ich. Niemand, außer ich. Und niemand, der mich hier drinnen verletzen kann. Zumindest nachdem ich zur Sicherheit meine Zimmertür abgeschlossen habe, sodass ich zu hundert Prozent sicher sein kann, dass ich auch alleine bleibe.
Ich verschwinde in meinem Badezimmer, erfühle den Lichtschalter und betätige ihn. Mit meinen Händen taste ich nach meinem Waschbecken, kann mich aber noch nicht dazu überwinden, meine Lider zu öffnen und mich selbst zu betrachten, das grelle Licht an meine so empfindlichen Augäpfel zu lassen, die ohnehin schon brennen. Brennen durch Schmerz physischer und psychischer Art, Verachtung, Verstoßung und sämtlicher Tränen.
Auf dem festen Grund abgestützt, spüre ich das Pochen in meinem Kopf noch deutlicher. So, als würde mir ein Psychopath mit einem Hammer den Schädel einschlagen. Dabei ein riesiges Grinsen auf dem Gesicht.
Langsam versuche ich meine Lider anzuheben, schließe sie aber sofort wieder, als auch nur ein einziger Funken Licht hineinkommt. Es ist einfach viel zu hell und brennt sich in meine Augäpfel, noch mehr als der Schmerz und macht das Sehen noch viel unerträglicher als in der ruhigen Dunkelheit. Zu all dem kommt mein Anblick, den ich für einen kurzen und viel zu langen Augenblick erfassen kann, der meinen Körper erschaudern lässt.
Blut.
Ganz ganz ganz viel Blut, das aus der großen Wunde auf meiner linken Wange fließt und mein Gesicht immer mehr zu dem eines Mordopfers oder Serienkillers werden lässt. Meine dunkelblonden Locken, die sich dem Bild eines Mörders anpassen und meine grauen Augen, die Leere und Trostlosigkeit ausstrahlen. Nichts Weiteres. Nur Leere und Trostlosigkeit. Leere und Trostlosigkeit. Leere. Trostlosigkeit.
Vorsichtig taste ich nach dem Wasserhahn und drehe ihn mit zittriger Hand auf. Diese fangen das kalte Wasser und lassen es mit Bedacht in mein Gesicht übergehen, das es definitiv nötiger hat als meine Finger. Für ein paar Sekunden stoppt der Schmerz und es tut gut. Auch wenn es nur für diese paar Sekunden ist und ich mir im nächsten Moment schon wieder vorkomme, als könnte man mich gleich in eine Leichenhalle bringen.
„Verdammt!", spreche ich etwas lauter, öffne dabei schlagartig meine Augen und schaue mich im Spiegel an. Genau der gleiche Anblick, wie beim ersten Mal, doch jetzt ... jetzt ertrage ich es.
Ein Pochen in meinem Kopf. Ein zweites Pochen in meinem Kopf. Ein drittes Pochen in meinem Kopf und ich pfeffere die Handtücher, die neben dem Waschbecken abgelegt sind, mit all meiner Kraft – also nicht sehr viel Kraft – auf den Boden.
Meine Augen werden wieder schwerer, fühlen sich an, wie tonnenschwere Gewichte, bis ich es zulasse und die Tränen nur so herauskommen.
Ich sinke auf dem Boden des Bades zusammen, krieche elendig zur Wand und lehne mich dagegen, meine Beine angewinkelt und mein Gesicht, mein Schluchzen in meinen Händen vergraben.
„Verdammt!", schreie ich und wiederhole das Wort immer und immer wieder, bis es leiser wird und von meinen Tränen ertrunken und endgültig erstickt wird.
Sekunden und Minuten vergehen, ziehen sich lang, wie ein Kaugummi, sodass ich das Gefühl habe, ich sitze schon mindestens zwei Stunden auf dem Badezimmerboden. Doch ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es gerade einmal zehn Minuten sind. Zehn Minuten an Zeit, die ich verschwendet habe. Dabei habe ich doch nur zwanzig Minuten.
Die Hälfte der Zeit ist weg.
Dabei will ich nicht noch einmal Bekanntschaft mit der Faust meines Vaters machen. Dabei will ich nie wieder Bekanntschaft mit der Faust meines Vaters machen.
Ich stehe auf.
Das Schluchzen ist nicht mehr da und auch von den Tränen sieht man nur die Spuren. Spuren, die auf meinen Wangen sind und Spuren, die meine Augen in einem gefährlichen Rot erscheinen lassen.
Dennoch kann ich fühlen, wie etwas Nasses meine Wange hinunterläuft und den Wegen des Wassers folgt. Als ich allerdings mit meinen Fingern über die blutende Wunde streiche, ist nichts da. Kein Blut. Nur eine leicht feuchte Kruste, die sich gebildet hat.
In meinem Zimmer fange ich an, einige Sachen in eine etwas größere Reisetasche zu stopfen. Dinge zum Leben, wie Kleidung, Zahnbürste. Aber auch unwichtigere Sachen. Ladekabel, iPad, Stifte, Papier – wer weiß schon, vielleicht muss ich mir demnächst mal ein Schild basteln ... so eines, was viele der Bettler, die auf den Straßen sitzen, immer haben – und Sachen, die mir in diesem Moment wichtig erscheinen, mich vermutlich aber nicht sehr weit bringen werden.
Mein nächster Griff, geht zu meinem Handy, das auf meinem Nachttisch liegt. Ich entsperre es und verfolge dabei nur so einen halbherzigen Gedanken. Lieber ein halbherziger Gedanke, als gar keiner. Denn Familie, Verwandte und Freunde habe ich nicht. Na ja, abgesehen von meinem besten Freund Jeffrey. Ob man uns beide jetzt als beste Freunde bezeichnen kann, ist eine andere und unwichtigere Frage.
Kurzentschlossen und ohne viel darüber nachzudenken, gehe ich auf WhatsApp, auf seine Nummer und drücke zittrig auf das grüne Telefonsymbol, ohne noch einen Rückzieher machen zu können.
Es klingelt, während ich mich auf den Weg zu meinem Schrank mache und noch einen Rucksack heraushole. Als dann abgehoben wird, macht mein Herz einen kleinen nervösen Sprung nach vorne? nach unten? nach oben? nach hinten? Ich habe keine Ahnung und für diese Grübelei jetzt auch keine Zeit.
„Jeffrey, bist du da?"
Als Antwort bekomme ich nur ein Grummeln. Weiter nichts.
Hat er mich überhaupt verstanden?
„Hallo?", frage ich erneut.
„Ja, sorry. Internetprobleme. Was gibt's Luca?" Seine Stimme klingt genervt und auch wenn das üblich für ihn ist, fühlt sich etwas hierbei ganz und gar nicht nach Üblichkeit an. Denn dieser Ton ist definitiv nicht typisch. Nicht einmal für ihn.
„Mir ist es wirklich unangenehm das zu fragen, aber kann ich heute Nacht eventuell bei dir pennen? Vielleicht auch ein bisschen länger, ich ... ich weiß nicht."
„Sag bloß, dein Vater hat dich endlich rausgeworfen, weil du eine scheiß Schwuchtel bist?"
Das Blut in meinen Adern gefriert.
„Woher weiß..." Mehr kann ich nicht sagen, da Jeffrey mich mit einem gehässigen Lachen unterbricht. „Sydney hat es mir erzählt. Du und dein Daddy hättet wohl etwas leiser sprechen sollen."
Verdammte Scheiße.
Warum? Warum musste gerade das jemand hören? Und dann ausgerechnet meine Schwester, die die fröhliche Botschaft natürlich gleich ihrem festen und meinem einzigen Freund mitteilen musste.
Kann dieser scheiß Abend noch beschissener werden?
„Bitte Jeff. Wenigstens eine Nacht, nur bis morgen. Es ist Februar, kalt, dunkel und spät. Bitte." Ich hasse dieses Rumgebettele.
Mein Blick fällt auf meinen Wecker, der eine Uhrzeit von 20:13 anzeigt.
„Tut mir leid, Luca." Er stockt und räuspert sich, obwohl es sich eher so anhört, als müsse er sich ein Schmunzeln verkneifen. „Obwohl nein, eigentlich nicht. Wir wollen ja nicht, dass du noch auf die Idee kommst, meinen Schwanz lutschen zu wollen. Schwuchtel." Am Ende seiner Aussage hört man das Lachen, das er vermutlich eben unterdrückt hat. Und dazu auch noch die Stimme einer anderen Person, die sich vermutlich gerade bei ihm aufhält.
Wunderbar.
Wie wunderbar.
Anschließend ertönt ein Piepen aus meinem Handy, was darauf deutet, dass er das Gespräch beendet hat.
Wunderbar hoch drei!
Am liebsten würde ich mein Smartphone gegen die Wand werfen, um meinen Frust rauszulassen, doch mein Verstand hält mich davon ab. Stattdessen verschränke ich die Hände über meinem Kopf und merke, wie sich wieder die gute alte Tränenflüssigkeit in meinen Augen sammelt.
„Ich bin so am Arsch", flüstere ich zu niemand besonderen als zu mir selber, atme einmal ganz tief durch und lasse meine Arme nach unten baumeln.
Wenn ich eins nicht darf, dann durchdrehen.
Immer schön ruhig bleiben.
Ein paar wichtige Dinge, wie Personalausweis, Kopfhörer, Geld und mein Handy werfe ich in den Rucksack, den ich zuvor aus meinem Schrank geholt habe. Gut zweihundert Euro und dreiundachtzig Prozent Akku, um irgendwie zu überleben.
Mir ist mehr als bewusst, dass mein Gehirn vernebelt ist, ich nicht wirklich zum Denken fähig bin und mit großer, nein, mit sehr sehr großer Wahrscheinlichkeit etwas vergessen werde oder vergessen habe. Doch in diesem Moment interessiert mich das nicht weiter.
Wieder im unteren Stockwerk angekommen, kann ich meinen Vater nirgendwo erkennen.
Gottseidank.
Schleichend laufe ich zu seiner Jacke, die sich im Flur befindet und greife in die Tasche. In die Tasche, in der sich seine Brieftasche befindet. Zwar habe ich nie im Leben daran gedacht, jemals so tief zu sinken, aber das hier ist ein Ausnahmezustand. Und besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen.
Es fühlt sich so an, als würde mein Herz aus meiner Brust springen. Jetzt wirklich. Genau in der Sekunde, in der ich seine Brieftasche öffne, mich nochmal umschaue und das Geld hinaushole. Und dann überkommt mich auch noch ein Gefühl der Schuld, welches ich aber schnell in meinen Hinterkopf schiebe.
Immerhin ist er dafür verantwortlich. Er hat mir das angetan. Er wirft mich raus, weil er nicht in der Lage dazu ist, seinen Sohn zu akzeptieren. Seinen Sohn, den er eigentlich bedingungslos lieben sollte. Aber wer weiß schon genau, ob er das jemals getan hat. Ob er mich und auch meine anderen Geschwister jemals wirklich und ehrlich geliebt hat. So wie es sich für einen Vater im Normalfall eigentlich gehört.
Ganze achthundert Euro zähle ich. Eventuell ist dieses Ergebnis ungenau, was durch meine zittrigen Hände und meinen pochenden Kopf kommen kann. Wahrscheinlich habe ich gerade die Konzentrationsspanne eines Goldfisches. Eines wirklich dummen Goldfisches.
Das Geld packe ich in den Rucksack und nehme mir schnell noch eine Wasserflasche und einen Apfel aus der Küche, die ich ebenfalls dort hinein tue.
Zudem ziehe ich mir noch meine wärmste Winterjacke an und binde mir einen Schal um, mit dem ich wahrscheinlich richtig bescheuert aussehe, aber das ist völlig egal. Überleben und nicht erfrieren, ist das, was in erster Linie zählt.
Wenn ich mich nicht dafür entscheide, vor einen Bus zu springen.
Als ich Schritte auf der Treppe höre, arid mein Herzschlag noch schneller, was eigentlich unmöglich ist. Die Schritte hinterlassen ein unregelmäßiges, schlaksiges Geräusch und deuten darauf, dass es sich um meinen Vater handelt. Meinen Vater, der betrunken ist. Betrunkener als noch vor fünfzehn Minuten.
„Du bist immer noch nicht hier raus. Du willst wohl unbedingt, dass ich Gewalt anwende", lallt er durch den Raum, wobei mir die Bierflasche in seiner Hand erst auffällt, als er diese an seinen Mund ansetzt und einen kräftigen Schluck trinkt, der sie komplett leert.
„Jetzt mach dass du abhaust", brüllt er wütend und wirft mir die leere Glasflasche entgegen. Ich kann mich gerade noch rechtzeitig ducken. Das Glas zerbricht hinter mir auf dem Boden und ich schaue den Mann, den ich einst Papa nannte, fassungslos an.
Allerdings schlucke ich meine weiteren Tränen einfach runter, werfe mir meinen Rucksack über die Schulter und nehme die Tasche in die Hand.
Er läuft die letzten Stufen der Treppe runter und kommt näher an mich heran, wobei ich einen Schritt zurück weiche.
„Wenn du tot unter einer Brücke liegst und glaub mir, dass mich das wirklich freuen würde, richte Satan aus, er soll dich mit extra Folter bestrafen." Ich kann mich nicht mehr bewegen und bleibe, wie angewurzelt auf der Stelle stehen, auch wenn er immer weiter auf mich zukommt. „Du hast es nicht anders verdient und weißt du was? Du hast es nicht verdient am Leben zu sein. Das einzige, das du verdienst, sind Qualen, Leid und Schmerzen." Anschließend verpasst er mir noch eine Backpfeife, tritt vor mich und öffnet die Tür.
Mein Gehirn wünscht sich, redet sich ein, dass da nur der Alkohol aus ihm spricht. Obwohl ich genau weiß, dass jedes dieser ausgesprochenen Worte ernst gemeint ist. Wahrscheinlich hat er nur darauf gewartet, sie endlich an die Oberfläche bringen zu können.
Er reißt mir meine Tasche aus der Hand und wirft sie nach draußen.
„Dieser Dreck soll endlich mein Haus verlassen!", schreit er mit so unfassbar viel Wut in der Stimme, dass ich am liebsten sterben würde. Doch das kann ich nicht weiter ausklügeln, weil er mich grob an meinen Schultern packt und mich durch die Haustür stößt.
Ich stolpere und falle die zweistufige Treppe hinunter. Das einzige Glück, das ich habe, ist, dass ich nicht mit dem Kopf aufgeschlagen bin. Vielleicht ist es ja auch eher Pech ...
Denn jetzt bin ich alleine. Ich bin alleine. Tatsächlich alleine. Auf mich alleine gestellt. Ohne Menschen, ohne Zuhause und ohne alles. Ohne alles und gleichzeitig auch ohne nichts.
Für bestimmt zehn Minuten bleibe ich einfach noch so sitzen, hocke auf dem kalten Boden und freunde mich mit meinem Schicksal an. Was komplett unmöglich ist.
Aus Angst, mein Vater könnte vielleicht doch noch mal nach draußen schauen, raffe ich mich schlussendlich auf, nehme meine Tasche und entferne mich so mit jedem einzelnen Schritt von meinem ehemaligen Zuhause.
Während ich so durch die Straßen schlendere, wird mir erst ganz genau klar, wie mich die letzten Minuten ausgelaugt haben. Und gleichzeitig haben sie mich in so einen Zustand versetzt, der mich für vermutlich zwei Monate nicht mehr richtig schlafen lassen wird.
Meine Augen brennen immer noch. Mein Kopf pocht. Mein Körper zittert. Meine Augen brennen noch mehr. Dazu die unendlich kalte Luft, die jede neue Träne und somit auch jeden Funken von Schwäche sofort auf meiner Wange gefrieren lässt.
Diese Kälte macht mich fertig. Sie frisst sich Minute für Minute immer mehr durch meine Kleidungsschichten, kennt keine Gnade für niemanden. Sie ist da, umschließt mich mit ihrer Kaltblütigkeit und saugt die Wärme immer mehr aus mir heraus. Vielleicht ist da ja auch ein Teil von Kälte in mir, der mich frieren lässt. Kälte, die mein Herz ausfüllt, ausgelöst durch die letzten dreißig Minuten, die ich niemals ändern kann. Es ist nur ein Was-Wäre-Wenn. Was wäre, wenn ich meinem Vater nicht erzählt hätte, dass ich schwul bin?
Aber das lässt sich nicht ändern. Ich sollte mir eher Gedanken darüber machen, wie ich die Nacht überstehen soll. Vielleicht würde ich auch einfach sterben und elendig verrecken, so, wie es sich mein Vater für mich wünscht. Möglicherweise wäre das echt das Beste für jemanden, wie mich ...
Diesen Gedankengang lasse ich abklingen, wodurch mir jedoch andere Sachen in den Kopf kommen, die ich genauso wenig denk ein will.
Ich bin mir unsicher, wohin mich meine Füße tragen und wie lange sie das noch durchstehen werden.
Wie lange ich das noch durchstehen werde. Mental und vor allem körperlich.
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