Kugeln

Alles lief gut. Zu gut. Die Schüler respektierten sie, auf ihr Wort wurde gehört. Sie verstand sich gut mit den anderen Lehrern und sie ging in dem Beruf auf. Es machte ihr Spaß, den Kindern etwas beizubringen und sie auf das spätere Leben vorzubereiten. Nach dem Unterricht saß sie häufig am Strand und genoss die Sonne oder drehte im Meer ihre Runden.
Im Vergleich zu ihrem bisherigen Leben schien sie regelrecht im Paradies gelandet zu sein und dankbarer hätte die Wandlerin nicht sein können.
Manchmal stellte sie sich sogar vor, mit ihren Kollegen eine Art Freundschaft zu haben. Immerhin trafen sie sich ab und zu, nur um über Gott und die Welt zu reden, und mit Farryn schien sie sich blind zu verstehen.
Und dann war da noch Jack Clearwater. Niemals würde sie ihre Gedanken über ihn laut aussprechen, doch da war etwas zwischen ihnen, ganz klar, und es machte ihr Angst. Er war besonders. Sie konnte sich nicht daran hindern, ihn anzustarren, wenn er vor ihr stand, konnte ihren Blick nicht abwenden. Sie konnte sich nicht daran hindern, sich in seinen Worten und in seiner sanften Stimme zu verlieren, wenn er sprach.
Sie würde nichts lieber tun, als seine Hand zu halten und nie mehr loszulassen. Der Gedanke jagte ihr einen Schreck ein, sobald sie ihn hatte, und sie verfluchte sich.
Alisha würde sich nicht noch einmal in jemanden verlieben. Sie hatte einfach kein Glück mit der Liebe und sie wollte es nicht erneut riskieren. Und dennoch kam ein gefährlicher Gedanke in ihren Kopf: War Jack Clearwater das Risiko, den Schmerz, nicht vielleicht wert?

Jack fragte sie nach Dates. Mehrmals. Sie lehnte immer ab.
Er tat ihr leid, wenn sie ehrlich war. Sie wusste, wie sie ihm damit wehtat, mit ihren Absagen und ihren kalten Worten, mit ihrer abweisenden Art. Es war nicht ihre Absicht. Immerhin war genau das die Sache, vor der sie selbst sich am meisten fürchtete.
Warum behandelte sie ihn also so?
Aber sie konnte doch nicht einfach zusagen und sich auf ihn einlassen. Sie redete sich selbst ein, dass es so besser war, für sie beide. Bald würde er es auch einsehen.

Aber er sah es nicht ein. Jack ließ nicht locker und sie wusste nicht, ob sie ihn dafür noch mehr lieben oder verschreckt sein sollte.

Doch leider blieb dies nicht ihr einziges Problem. Schon bald wurde es deutlich ernster, als ein bisschen Liebeskummer, der schon bald in den Hintergrund rückte.
Ohne es richtig zu bemerken, wurde Alisha in Chaos und Skandale reingezogen und fand sich inmitten eines 'Kampfes', wenn man das so betiteln konnte, wieder. Tiago, der neue Hai-Wandler, hatte sich mit den falschen Leuten angelegt und nun hatten sie ein riesiges Problem. Mehrere riesige Probleme, um genau zu sein.

So kam es auch, dass Alisha eines Tages zusammen mit einigen Schülern auf der Lauer lag, um den Umweltverschmutzern das Handwerk zu legen. Es kam nicht ganz so, wie geplant, und am Ende des Tages saß sie in ihrem Zimmer in der Blue Reef High und starrte mit einem Seufzer auf den dicken Verband herab, der um ihre Schulter und ihren Oberarm gelegt worden war.
Ein Streifschuss, nichts schlimmes, redete sie sich ein. Doch der Moment, in dem die Kugel abgefeuert worden war, hatte sie unweigerlich an das erinnert, was in ihrer Vergangenheit vorgefallen war. Sie war nur allzu vertraut mit dem Zischen von Kugeln durch die kalte Nachtluft und dem metallischen Geruch von Blut, das langsam über die Haut und in den Boden sickerte.

Es klopfte an der Tür. Alisha schloss einen Moment lang die Augen und verdrängte die Erinnerungen, ehe sie den Besucher hineinbat.
Überrascht setzte sie sich gerader auf, als Jack eintrat. Seine Miene verriet sogleich seine Besorgnis und innere Unruhe. Man, er musste echt mal an seinem Poker Face arbeiten.

"Jack", begrüßte sie ihn und zwang das unsichere Zittern aus ihrer Stimme. Dennoch stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie freute sich, ihn zu sehen. Er sollte nicht hier sein.
"Hi, Alisha." Er klang atemlos. Seine warmen, braunen Augen funkelten betrübt. Sie beobachtete ihn, während er sich neben sie auf das Bett setzte.
Ihr fiel auf, dass er Abstand hielt. Sie wusste nicht, warum sie einen Stich ins Herz spürte.
Jack räusperte sich und wandte den Blick von ihr ab, schaute sich stattdessen in dem Raum um. Es gab nicht viel zu sehen, und sicherlich nichts, was interessanter als eine frische Schusswunde war.
"Ich wollte mal nach dir sehen. Ich hab mir Sorgen um dich gemacht", hob er an. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus.
"Ich brauche niemanden, der sich Sorgen um mich macht", erwiderte sie, beinahe aus Reflex. Gleich, nachdem sie es gesagt hatte, presste sie die Lippen fest aufeinander und neigte den Kopf, sodass ihre Blicke sich nicht trafen, als er seine Augen auf sie richtete. Warum hatte sie das gesagt? Offensichtlich war sie froh, dass er sich so um sie gesorgt hatte.

Jack nickte, das bekam sie aus dem Augenwinkel mit. Etwas hatte sich an seinem Gesichtsausdruck verändert. War er trauriger geworden? Oder war er enttäuscht?
"Es geht mir schon wieder besser. Es war ja nur ein Streifschuss", versuchte sie, die unangenehme Stille zu überspielen. "Nichts Dramatisches."
"Nichts Dramatisches?" Geschockt sah er sie an. Sie könnte sich ohrfeigen. Er musste ja nicht unbedingt wissen, dass das für sie nichts Neues, nichts wirklich Schlimmes war. "Du wurdest angeschossen!"
"Streifschuss", murmelte Alisha und legte abwesend den Kopf zur Seite. "Wirklich, mach dir keine Sorgen, Jack", fuhr sie schon eine Spur sanfter fort. "Wenn etwas wäre, würde ich es dir sagen."
Würde sie das?

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