Der Anfang vom Ende
"Mick?" Kims Stimme hallte an den Wänden des Hotelzimmers wider. Sie stand im Türrahmen, eine Plastiktüte in der Hand. Der Geruch von frischer Backware breitete sich in dem kleinen Raum aus und vermischte sich mit Kaffeegeruch.
"In der Küche", kam die Antwort. Sie folgte seiner Stimme und stellte die Tüte auf den Küchentisch, auf dem bereits zwei Teller mitsamt Besteck und Tassen standen.
"Ich hab dir auch Kaffee gemacht", sagte Mick und reichte ihr eine Tasse, nachdem sie ein paar lose Strähnen aus ihrem Gesicht gewischt hatte.
"Danke." Kim warf ihm ein Lächeln zu und setzte sich an ihren Platz gegenüber von dem jungen Mann. "Heute wird ein anstrengender Tag", hob sie an. Sie nahm einen Schluck an der Tasse und verzog das Gesicht bei dem bitteren Geschmack. Er konnte sich einfach nicht merken, wie sie ihren Kaffee am liebsten trank.
Mick sah sie fragend an. Sie seufzte, nahm sich ein Brötchen aus der Tüte und schnitt es auf. Es war noch warm und die Butter, die sie darauf verteilte, schmolz. "Ich muss mich bei einer Familie einschleichen. Da gibt es jemanden, der Kontakt zu einer geflohenen Person hat, die von meinem Chef gesucht wird."
Nicht immer war es leicht für Kim gewesen, ihren "Beruf" vor Mick zu verbergen. Zunächst hatte sie ihn angelogen, damit er nicht herausfand, dass sie den ganzen Tag lang nichts besseres zu tun hatte, als fremde Menschen ausfindig zu machen.
Außerdem war Mick kein Wandler und sie konnte ihm ihr Geheimnis nicht anvertrauen. Das hatte sie auch nicht, aber sie hatte ihm schließlich doch erzählt, wie sie ihr Geld verdiente. Das das ganze ziemlich illegal war, hatte sie nicht erwähnt, aber sie war sich sicher, dass Mick das sowieso wusste.
Mick warf ihr nur einen Blick zu, den sie unmöglich deuten konnte. Generell fiel es ihr schwer, ihn zu verstehen oder seine Gesichtsausdrücke zu deuten.
"Wann musst du los?", fragte er.
Kim warf einen Blick auf ihr Handy. "In einer halben Stunde. Ich sollte so gegen dreizehn Uhr zurück sein, dann können wir aus dem Hotel auschecken." Er nickte, aber er sah nicht begeistert aus. Sie wusste, dass es ihm nicht gefiel, dass Kim keinen festen Platz zum wohnen hatte, aber er folgte ihr fast überall hin oder kam zumindest nach, da er selbst auch keine Wohnung hatte. Er arbeitete auch nicht - jedenfalls behauptete er das. Dennoch hatte er immer genug Geld. Natürlich war ihr bewusst, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zuging, aber sie hinterfragte es nicht, denn Mick hinterfragte auch ihren Job nicht.
Nachdem sie ihr Brötchen aufgegessen hatte, verzog sie sich ins Bad und schminkte sich. Sie zog ordentlich den Eyeliner und trug blutroten Lippenstift auf. Sie hasste das viele Make-up, aber sie musste professionell und ordentlich aussehen, wenn sie bei der Familie vor der Tür stand. Genau aus diesem Grund musste sie auch ein schwarzes Kleid und High-Heels anziehen und sich eine aufwendigere Frisur machen.
Sie verließ das Bad und überprüfte ihre Nachrichten. Ihr Boss schrieb ihr nur unscheinbare Nachrichten, die einem Fremden nicht viel sagen würden, aber mithilfe von den Informationen, die sie schon zuvor bei privaten Gesprächen mit ihrem Boss gehabt hatte, konnte sie leicht entziffern, was er von ihr wollte.
Wie immer hatte sie nicht viele Informationen. Sie wusste nur, wie die Familie hieß und wo sie wohnte.
Kim musste die Person ausfindig machen, die höchstwahrscheinlich den Aufenthaltsort ihrer eigentlichen Zielperson kannte, und der Auftrag wäre so gut wie erfüllt.
Mick wartete an der Tür auf sie und legte einen Arm um ihre Hüfte. Sie schmiegte sich an ihn und umarmte ihn, ehe sie ihm einen Kuss auf die Lippen drückte. "Wir sehen uns." Sie schenkte ihm ein Lächeln und verließ anschließend das Zimmer.
Um zehn Uhr, also in weniger als zehn Minuten, sollte sie sich mit einer Frau namens Kelly Michaelson treffen und mit dieser zum Haus der Michaelsons fahren. Eine reiche Familie, die zufälligerweise gerade nach Leuten suchten, die als Butler arbeiten wollten.
Natürlich hatte Kim sofort ihre Chance genutzt und sich beworben. Nun sollte sie zunächst als Aushilfskraft bei den Michaelsons arbeiten, wofür sie Geld bekommen würde. Ein weiterer Grund, der dafür sprach, auf diese Weise vorzugehen - so konnte Kim wenigstens etwas Geld verdienen, während sie gleichzeitig den Weg für noch mehr Geld freimachte.
An einem noblen Café eine Straße weiter hielt Kim schließlich an. Ihr Blick fiel sogleich auf eine edel gekleidete Frau in ihren Vierzigern, die vor einem weißen Auto stand. Als die Frau Kim erblickte, lächelte sie freundlich und winkte sie zu sich.
Kim begrüßte sie, indem sie ihr die Hand schüttelte und sich als Cassandra Peters vorstellte.
Zusammen mit Kelly Michaelson fuhr sie also zu dem schicken Anwesen, das eindeutig zu viel für Kims Geschmack war.
Als sie das Haus betraten, schaute sie sich sofort unauffällig um. Es gab reichlich Möglichkeiten, vom Grundstück zu fliehen, falls sie auffliegen sollte, jedenfalls wirkte es auf den ersten Blick so.
Indizien, dass die Familie wirklich etwas mit der Zielperson, über die Kim so gut wie nichts wusste, zu tun hatte, gab es nicht. Durch ihre fehlende Information konnte es natürlich sein, dass sie einfach etwas übersah.
"Sie werden Gäste ins Haus bringen und zu den Büros bringen, wo mein Mann und ich auf diese warten. Außerdem bringen sie Getränke und Speisen auf die Zimmer, falls das von ihnen verlangt wird. Sie haben Zimmer vier im ersten Stock. Im zweiten Stock befinden sich die Zimmer unserer Kinder und im nächsten Stockwerk sind unsere Schlafzimmer und die Büros. Bitte seien Sie leise, wenn sie sich hier aufhalten."
Nach dieser Einweisung verschwand Kelly Michaelson auch schon. Sie hatte noch was zu tun und musste in ihr Büro zurückgehen, während Kim in der Eingangshalle blieb. Sie sollte eigentlich ihr Zimmer besichtigen, aber sie hatte ohnehin nur einen Rucksack voller Sachen dabei, die sie sehr schnell ausräumen konnte, also beschloss sie, zunächst einmal die restlichen Bewohner des Hauses zu überprüfen.
Sie wusste lediglich, dass Kelly zwei Söhne und eine Tochter und einen Ehemann hatte. Sie ging nicht davon aus, dass abgesehen vom restlichen Personal weitere Personen im Haus wohnten, sonst hätte Kelly diese wohl erwähnt.
Kim schloss daraus, dass einer der Eheleute Michaelson die unwissende Kontaktperson war, denn die Kinder waren wohl alle zu jung, um etwas damit zu tun zu haben und von ihrem Boss wusste Kim, dass die Michaelsons geschäftlichen Kontakt zur Zielperson hatten.
Kim lief möglichst unauffällig durch das Haus und nahm die Treppen, da sie davon ausging, dass sie dort eher weniger jemanden begegnen würde als im Aufzug. Sie wollte nicht, dass Kelly dachte, sie würde in ihrem Haus herumschleichen.
Im dritten Stock hielt Kim vor einer Tür inne, an der ein Schild mit der Aufschrift Jason Michaelson und einer Telefonnummer hing. War dieses Haus wirklich ein Haus, in dem jemand wohnte, oder war es ein Bürogebäude?
Kim klopfte an und schon ertönte ein nicht sehr fröhliches "Herein".
Sie ließ sich ihren Unmut nicht anmerken, als sie die Tür aufstieß und den Raum betrat. Gegenüber von ihr saß ein grimmig dreinblickender Mann an einem Schreibtisch und sah sie vorwurfsvoll an.
"Mr Michaelson?" Kim räusperte sich und schloss die Tür hinter sich. "Ich wollte mich nur kurz vorstellen. Mein Name ist Cassandra Peters und ich bin die neue Aushilfskraft." Sie lächelte höflich in der Hoffnung, die angespannte Stimmung etwas aufzulockern.
"Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Peters. Hat Kelly Sie zu mir geschickt?"
Kim nickte rasch. "Ich sollte mich Ihnen nur kurz vorstellen." Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. An der Wand hingen Bilder von den Kindern der Michaelsons, aber ansonsten gab es nicht spannendes zu sehen.
Peter Michaelson nickte und sie verabschiedete sich.
Zwei Stunden später versammelte sich die ganze Familie in einem eindrucksvollen Esszimmer. Auch Kim war anwesend, da sie das Trinken an den Tisch bringen sollte.
In ihrem Kopf arbeitete sie bereits einen Plan aus. Während dem Essen musste sie im Zimmer bleiben, falls jemand etwas zu trinken haben wollte. Vielleicht konnte sie die Chance nutzen, die Familie auszufragen.
Es war schwieriger als gedacht; ihre Fragen konnte sie natürlich nicht direkt stellen, sie musste vorsichtig vorgehen, und auch das war eine Herausforderung, da die Familie nicht sehr gesprächig war.
Einer von ihnen, der älteste Sohn, Jeremiah, war jedoch bereit zur Auskunft.
Nach dem Essen hielt er Kim am Arm fest und zog sie zur Seite. "Hey, du hast beim Mittagessen ein paar Fragen über das Geschäft meines Vaters gestellt - ich wollte dir nur sagen, dass er es nicht mag, mit Fremden darüber zu reden. Betriebsgeheimnisse und so. Deswegen war er so abweisend zu dir." Er sah sie entschuldigend an.
Überrascht hielt Kim inne. "Die Firma, für die deine Eltern arbeiten, gehört also deinem Vater?"
Er nickte. "Ja, meine Mutter arbeitet nur für ihn."
Sie kniff die Augen zusammen und zog ihn in den Flur hinaus, damit seine Familie nicht mithörte. "Jeremiah, hör zu, ich brauche nur ein paar Informationen." Sie wusste, dass sie gerade alles riskierte. Wenn sie ihn falsch eingeschätzt hatte und er sie bei seinen Eltern verpetzte, war sie am Ende. Sie hatte jedoch Hoffnung in den Jungen gesetzt - er konnte nicht verstehen, wie Ernst die Sache für sie und seine Eltern war, also würde er das alles eher auf die leichte Schulter nehmen.
"Ich weiß, das kommt sehr komisch rüber, aber ich muss nur wissen, was genau dein Vater macht und ob in letzter Zeit irgendwas merkwürdiges vorgefallen ist, das mit der Firma zu tun hat."
"Äh...", stammelte Jeremiah. Er sah sie ungläubig an. "Bist du eine Spionin oder was?"
Sie verzog das Gesicht. "Nicht ganz. Aber glaub mir, ich will deinem Vater nichts böses. Ich muss nur etwas erledigen und brauche deine Hilfe."
"Also ... naja, mein Vater macht verschiedene Sachen, aber vor allem hilft er Leuten mit Finanzen aus, die sich durch eine Kaution aus dem Gefängnis befreit haben und denen jetzt das Geld fehlt, um die Kaution abzubezahlen, oder so ähnlich."
Kim starrte ihn neugierig und zugleich etwas geschockt an. Volltreffer.
"Es hieß schon ein paar Mal, dass er Leuten geholfen hat, aus dem Land abzuhauen, die noch Schulden hatten." Er blinzelte. "Das hab ich aber nie geglaubt. Aber es kamen auch so Sachen vor, da wurde gesagt, dass er Mitarbeiter seiner Firma, die ja wie gesagt nicht nur mit sowas zu tun hat, geholfen hat, dem Gefängnis zu entkommen. Auf illegalem Wege."
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