Chapter 1 - Zerina

        

Ich werde von fröhlichem Vogelgezwitscher geweckt. Ich drehe mich gähnend und nörgelnd noch ein paar Mal in meinem Bett hin und her, dann öffne ich mit grosser Mühe meine Augenlieder, um einen Blick auf meinen Wecker zu erhaschen, der mich jeden Morgen beinahe vorwurfsvoll anglotzt. „Ja, ja, ich weiss, es ist wieder mal viel zu spät" murmle ich deshalb. Es ist Frühling, meine Lieblingsjahreszeit. Ich sollte eigentlich um sieben Uhr aufstehen, jedoch ist schon zwanzig nach sieben, und so beginnt wieder mal ein sehr stressiger Morgen für mich. Ich grinse in mich hinein. Früher hätte ich das nie zugelassen, und mir sicher fünf Wecker gestellt, doch jetzt ist mir das egal. Schliesslich brauche ich nicht länger als eine halbe Stunde um mich fertigzumachen, und zur Schule benötige ich mit dem Rad auch nur etwa fünf Minuten. Das Problem ist nur, dass die Schule um zehn vor acht beginnt, demnach habe ich noch gerade mal eine knappe halbe Stunde. Irgendetwas muss ich also wieder extrem schnell oder gar nicht erledigen. Ich rapple mich auf und taste nach meinen kuschligen Finken, die ich gestern Abend wohl wieder mal achtlos unter mein Bett geschoben habe. Mit einem lauten Seufzer bücke ich mich also, und tatsächlich – da sind sie. Ich fische meine Finken unter meinem Bett hervor und schlüpfe rein, dann watschle ich zu meinem grossen Wandspiegel, der direkt neben meinem Kleiderschrank hängt. Anschliessend greife ich zu meiner Bürste und meinem Trockenshampoo, welches ich nur im Notfall benutze. Ich bürste mir zuerst die Haare um abzuschätzen, ob das Trockenshampoo für heute hinhalten wird, und als sich dies als positiv erweist, sprühe ich eine Ladung von dem Zeug in meine Haare. Mittlerweile habe ich sie mir etwas heller färben lassen, mein langweiliges Braun gefiel mir einfach nicht mehr. Jetzt habe ich ein Dunkelblond mit hellblonden Strähnen, und ich bin schon viel zufriedener. Ich zwinkere meinem Spiegelbild kurz ironisch zu, dann drehe ich mich zu meinem Kleiderschrank und greife blindlings hinein. Zum Vorschein kommt ein schwarzes Shirt (Wer hätte es auch anders erwartet?) und eine hellblaue Jeans. Diese mustere ich kurz, mit dem Hintergedanken, sie vielleicht gegen eine schwarze Jeans zu tauschen, doch als ich mir die beiden Kleidungsstücke an den Körper halte und mich im Spiegel betrachte, bin ich zufrieden. Dann bücke ich mich und hole ein paar schwarze, knöchelhohe Stiefel heraus mit einem kleinen Absatz. Ich gehe ins Badezimmer um mich und mein Gesicht kurz zu waschen, dann ziehe ich mich auch gleich im Badezimmer um und stolpere dabei beinahe über einen schwarzen Gürtel, der sehr unvorteilhaft am Boden liegt. „LINUS!" schreie ich durch die ganze Wohnung, und ohne eine Antwort abzuwarten, schreie ich direkt weiter. „Räum endlich mal deine Sachen auf, wenn du schon nicht in der Küche hilfst. Ich breche mir noch was." Als Antwort bekomme ich nur ein Grummeln, also scheint Linus wach zu sein. Na immerhin denke ich mir, normal kommt gar keine Antwort. Ich betrachte den Gürtel, den ich inzwischen aufgehoben habe, etwas zweifelnd und überlege, was ich jetzt damit tun soll. Dann kommt mir plötzlich eine Idee, und kurzerhand ziehe ich den Gürtel durch die Schlaufen meiner Jeans. Passt perfekt! Tja, selbst schuld, wenn man seine Kleidung überall herumliegen lässt. Ich binde mir meine Haare zu einem Dutt und zupfe dann vorne einzelne Strähnchen heraus, lächle kurz und verlasse dann zufrieden das Bad. In meinem Zimmer schminke ich mich schnell, schlüpfe in meine Schuhe, spraye mir ein bisschen Parfüm an beide Handgelenke und schnappe mir die gleiche Handtasche, die ich auch vor zwei Jahren schon getragen habe. Gerade als ich das Zimmer verlassen will, fällt mir ein, dass mein Handy noch irgendwo in meinem Bett liegen sollte, also wühle ich kurz etwas panisch in meinen Laken herum, bis ich es gefunden und in meine Tasche geworfen habe. Beim Herausgehen schnappe ich mir meine Jeansjacke, die noch über meinen Bürostuhl hängt, dann schliesse ich meine Zimmertüre und werfe wieder einen Blick auf meine Armbanduhr. Sieben Uhr fünfunddreissig. Perfekt! Fröhlich hüpfe ich die Treppe hinunter und laufe in unsere kleine aber feine Küche. Kurz nach Linus' achtzehntem Geburtstag haben unsere Eltern sich dazu entschieden, uns eine kleine Wohnung zu kaufen. Da wir beide aus recht wohlhabenden Familien stammen, und sie sich die Miete aufteilen, ist das eigentlich kein Problem, trotzdem sind wir beide sehr dankbar dafür. Linus ist mittlerweile schon neunzehn, und ich habe gerade erst meinen achtzehnten Geburtstag gefeiert. Lustig, wie schnell die Zeit vergeht. Marco hat sich endgültig zu unserer Gang gesellt, und wir haben beinahe alle kriminellen Gangs ausgelöscht. Nur Atlas haben wir nirgends gefunden. Es ist schon zweieinhalb Jahre her, seit wir Elias besiegt haben, doch ich kann mich immer noch daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. Linus und ich haben uns nach dem Kampf für etwa zwei Monate etwas zurückgezogen, doch seither sind wir wieder voll dabei. Wo wir gerade von Linus sprechen – der sitzt noch im Halbschlaf an unserem kleinen Esstisch und löffelt sein Müsli in aller Ruhe in sich hinein. „Ich hab' dir auch Müsli gemacht" murmelt er, als er mich entdeckt, und ich drücke ihm als Dank einen Kuss auf den Mund. Gerade als ich meinen Weg zur Küche fortsetzen will, hält Linus mich nörgelnd wie ein Baby an der Hüfte fest und zieht mich zurück, also küsse ich ihn grinsend nochmal. Dann jedoch löse ich mich bestimmt von ihm, und als er protestieren will, lege ich ihm meinen Zeigefinger an die Lippen. „Wir müssen gleich los und mein Magen hat sich dazu entschieden, Walgeräusche nachzuahmen. Später können wir wieder, versprochen." Mit einem vielsagenden Blick schaut Linus mir zu, wie ich im Stehen mein Müsli in mich hineinschaufle und gelichzeitig durch meine Musikplaylist scrolle, um ein passendes Lied zu finden. „Du siehst gut aus" ruft Linus mir zu, und ich lächle als Dank. „Und du wie immer." Gebe ich zurück, und Linus schaut mich beleidigt an. Dann wandert sein Blick in meine Mitte und bleibt dort hängen. Gerade werde ich ein bisschen rot, dann merke ich, was Linus so fasziniert: Der Gurt. Sein Gurt. Er hebt seinen Zeigefinder und fixiert ihn auf den Gurt, dann schaut er mich an. „Das da ist doch meiner?" fragt er, und grinsend nicke ich. „Kommt eben davon, wenn man seine Sachen überall herumliegen lässt. Los komm, hilf mir kurz dabei die Spülmaschine zu füllen." Wir trinken nahezu synchron den Rest der Milch aus der Schüssel, dann stellen wir die Teller in die Maschine. Ich ziehe meine Jacke an und fische den Schlüssel unserer Räder aus der Jackentasche. Gerade als ich sie ertaste, legt Linus seine Hand auf meine und signalisiert mir so, ich soll's lassen. „Lass gut sein, ich fahr uns mit dem Motorrad" meint er, und in seiner freien Hand lässt er seinen Motorradschlüssel baumeln. Ich nicke grinsend, dann treten wir aus der Haustüre heraus ins Treppenhaus. Ich schliesse ab, während Linus schon vorgegangen ist, um sein Motorrad hervorzuholen und startklar zu machen. So brauchen wir viel weniger lang um zur Schule zu kommen, und wir kommen nicht zu spät.

An der Schule angekommen, schauen uns ein paar Mädels der neunten Klasse mit grossen Augen an. Naja, genauer gesagt glotzen sie Linus regelrecht ins Gesicht, und mir gelten eher die eifersüchtigen Blicke. Ich muss grinsen als ich daran zurück denke, wie meine Freundinnen und ich damals, als wir frisch an der Schule waren, die Jungs der zwölften und dreizehnten Klasse angehimmelt haben. Für mich gab's ein Jahr später zwar schon nur noch Linus, aber schauen ist ja nicht verboten. Mittlerweile bin ich selbst in der zwölften Klasse und habe nur noch ein Jahr vor mir, etwas, dass ich mir nie vorstellen konnte. Ich, in der zwölften Klasse? Ich habe damals ja nur ganz knapp die Neunte geschafft. Doch nach dem einen Jahr wurde es erstaunlich einfach, jedenfalls für mich. Vielleicht brauchte ich einfach nur lange Zeit, um mich einzuleben. Jetzt bin ich fast Klassenbeste, und das obwohl ich kaum Zeit habe zu lernen, geschweige denn, meine Hausaufgaben zu erledigen, da wir momentan viele Aufträge bekommen. Marco, der gerade am Ende seines letzten Jahres ist, hilft Linus oft in der Schule, um ihn durchzuboxen. Für den war es schwierig, all den Stoff der neunten Klasse aufzuholen, da er erst in der Zehnten ins Gymnasium gekommen ist.  Wenn wir mal einen freien Abend haben, lernen wir stundenlang zusammen. Ich weiss, dass dies eine grosse Last ist für uns alle, doch wir haben es uns zum Ziel gesetzt, jetzt nicht zu scheitern. Schliesslich sind wir beide über achtzehn und wollen unseren Eltern beweisen, dass wir unser Leben im Griff haben. Diese wissen übrigens immer noch nichts von unserer Magie oder den Gangs, was auch gut so ist, ansonsten würden sie sich viel zu viele Gedanken machen. Ich beachte die Mädchen nicht weiter, steige vom Motorrad ab und gebe meinen Helm Linus. Dieser verstaut beide Helme und führt das Gefährt zum Motorradparkplatz. Dann zieht er den Schlüssel und das Motorrad verstummt vollständig. Schnell läuft er mir hinterher, da ich mich schon auf den Weg zum Gebäude gemacht habe. Mit ein paar schnellen Schritten ist er neben mir und legt grinsend seinen Arm um meine Taille. So laufen wir pünktlich zum Klingeln ins Klassenzimmer hinein, wo unsere Englischlehrerin uns wiedermal böse anfunkelt, doch sie darf keine Verspätung eintragen. Uns lässt ihr Blick kalt, und schnell setzen wir uns auf unsere Plätze in der hintersten Reihe. Nach dieser Doppelstunde haben wir getrennten Unterricht, da jeder sein individuell gewähltes Schwerpunktfach besucht. Ich habe Musik gewählt und spiele seither Gitarre. Linus hat Wirtschaft und Recht gewählt. Ich hätte nichts Anderes von einem Exorzisten wie ihm erwartet. Seit dem Vorfall mit Elias ist er immer mit seinem ganzen Herzen und Elan bei der Arbeit, und ich weiss, dass er irgendwann auf die Suche nach Atlas gehen wird. Ich fürchte mich etwas vor dem Tag, weil ich bisher nur einmal einem Basara begegnet bin. Linus hat mich damals sofort in die reale Welt geschickt, und eine Stunde später kam die ganze Mannschaft schwer verwundet zurück. Den Basara konnten sie jedoch besiegen, und ich bin mir sicher, dass Linus wusste, dass alle schwer verwundet werden würden. Jedoch weiss ich auch, dass er es als eine Art Training für Atlas angesehen hat. Nach ein paar Wochen waren alle wieder wohlauf, und ich habe gegen Linus' Befehl entschieden, dass wir streiken, wenn Linus wieder soetwas tut. Nach einigen Stunden in denen ich auf ihn eingeredet habe wie ein Wasserfall, hat er eingesehen, dass er das Leben seiner Mannschaft nicht gegen einen Befehl der Magieregierung auf Grund seiner eigenen Wünsche gefährden kann. Er hat sich bei den Mitgliedern entschuldigt, und seither ist die Sache gegessen. Glaube ich zumindest. Ich habe trotzdem ein mulmiges Gefühl bei dem Gedanken daran, dass Linus irgendwann auf Atlas stossen wird. Jedoch werde ich nicht zögern, ihn zu unterstützen. Schliesslich hat Atlas mir meinen Halbbruder genommen, das lasse ich auch nicht einfach auf mir sitzen. Gerade erzählt unsere Lehrerin, Frau Habegger, uns etwas über die Vergangenheitsformen. Für mich ist alles nur Repetition, da Englisch mein bestes Fach ist. Linus neben mir jedoch strengt sich scheinbar ziemlich an, um alles zu verstehen. Wenn wir heute keinen Auftrag bekommen, werde ich ihm später wohl wieder alles erklären. Ich werfe einen Blick nach draussen und schaue auf den Sportplatz. Dort scheint eine Klasse wohl gerade einen Parcours zu laufen. Das müssen wir wohl gleich auchmachen, denn die Klasse hat den gleichen Sportlehrer wie wir, nämlich Herrn Dornbeerer. Plötzlich sticht eine neongelbe Trainingsjacke hervor, und ich erkenne Marco sofort. Mühelos springt er gerade über ein paar aufeinander gestapelte Matten. Ein Mädchen aus seiner Klasse, Alina, schaut ihm dabei mit grossen Augen zu. Sie ist seit kurzem in unserer Gang und scheint nur Augen für Marco zu haben. Linus und ich stacheln ihn immer ein bisschen damit an, doch er lässt sich damit nicht provozieren. Er hat sie in die Gangceingeladen, da sie über die Gedankenkontrolle verfügt. Das Ganze funktioniert so: Sie kann die Gedanken anderer lesen, jedoch kann sie diese auch für eine kurze Zeit kontrollieren und darin herumstöbern. Jedoch braucht sie dafür viel Magie und kann diese Fähigkeit nicht allzu oft anwenden. Deswegen fördern wir ihre Kampffähigkeiten sowie den Parcourslauf umso mehr, damit sie eine Chance hat im Kampf. Wir nehmen an, dass sie später mal wie Alec eine weitere Magie aufs höchste Level bringen kann und im Notfall auch einsetzen wird. Plötzlich blinkt mein hellblaues Armband wie verrückt auf, und zeitgleich schauen Marco, Alina, Janis und Linus auch auf ihre Armbänder. Ein Auftrag ist gerade hereingekommen.

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