Kapitel 4

Der Morgen erwachte in einem feinen Nebel, der über das Lager des Flockenclans schwebte und die Bäume in eine gespenstische Stille hüllte. Frostsee stand am Rande des Lagers und beobachtete, wie die ersten Sonnenstrahlen die frostige Erde erwärmten. Doch die Unruhe, die ihn in den letzten Tagen gequält hatte, wich nicht. Sie klammerte sich an ihn wie der kalte Nebel, der sich weigert, zu verschwinden.

„Du bist früh auf", ertönte eine vertraute Stimme hinter ihm. Frostsee drehte sich um und erblickte Flammensprung, eine kräftige, rötliche Kätzin mit weißen Pfoten und den stechend blauen Augen, die immer eine Mischung aus Wärme und Entschlossenheit ausstrahlten.

„Ich konnte nicht schlafen", gab Frostsee ehrlich zu und zuckte mit dem Schweif. „Die Gedanken... sie lassen mich nicht los."

Flammensprung nickte verständnisvoll. Sie trat näher, ihre Pfoten hinterließen keine Spuren im feuchten Boden. „Es gibt viele Dinge, die uns quälen, Frostsee. Aber du darfst nicht vergessen, was unser Clan braucht. Felsenstern hat immer recht. Er führt uns auf den richtigen Weg."

„Vielleicht", murmelte Frostsee, „aber was ist, wenn dieser Weg uns blind macht für das, was wirklich wichtig ist? Was, wenn wir uns selbst verlieren, indem wir einfach folgen?"

Flammensprung sah ihn einen Moment lang stumm an. Ihre blauen Augen funkelten nachdenklich, doch sie sagte nichts. Stattdessen war es Wieselpfote, die sich mit einem fröhlichen Sprung zu ihnen gesellte, ihre grauen Augen glänzten vor Aufregung.

„Was geht hier vor sich?", fragte die schwarz-weiße Schülerin, während sie um Frostsee herumschlich, neugierig auf das Gespräch. „Klingt fast wie eine Verschwörung gegen Felsenstern!"

Frostsee schmunzelte schwach, doch die Sorge in seinem Herzen blieb. „Nichts dergleichen, Wieselpfote. Aber das Thema ist... schwieriger, als du denkst."

„Schwierig, huh?" Wieselpfote schnippte mit der Schweifspitze. „Ich wette, es ist nur eine Frage der Zeit, bis du deine Zweifel überwindest!"

Flammensprung musterte Wieselpfote mit einem milden Lächeln. „Du bist mutig, Wieselpfote, aber denk daran, dass manchmal Zweifel die größte Stärke eines Kriegers sind. Sie lassen uns Fragen stellen, die beantwortet werden müssen."

Frostsee blickte zu den beiden, spürte die Schwere der Gedanken, die auf ihm lasteten, und gleichzeitig das Zögern, weiter zu suchen, was hinter der Grenze lag. Doch er wusste, dass die Antworten irgendwo verborgen waren – und er würde nicht aufhören, bis er sie gefunden hatte.

„Mhm, naja, ist ja auch egal! Das einzigste, was zählt, ist das hier und jetzt!" Mauzte Wieselpfote energisch und wedelte mit dem Schweif. Ihre grauen Augen glänzten vor Enthusiasmus. „Und was wir jetzt erstmal machen sollten, ist zu jagen!"

Flammensprung schmunzelte und nickte. „Du hast recht, Wieselpfote. Der Clan braucht frisches Beutetier, und wir können es uns nicht leisten, den Tag zu verschwenden. Was hältst du davon, Frostsee?"

Der Krieger blinzelte und löste seinen Blick von der fernen Grenze. Für einen Moment hatte er den Drang, Wieselpfote zuzustimmen und sich in die Aufgaben des Clans zu stürzen, um seine eigenen Gedanken zu verdrängen. Doch der Gedanke, dass mehr hinter dieser Grenze lag, blieb in ihm.

„Ich könnte etwas Beute gebrauchen", murmelte er schließlich und streckte sich. „Lasst uns gehen."

Wieselpfote sprang vor Freude in die Luft. „Dann nichts wie los!" Mit einem schnellen Blick über die Schulter jagte sie in den eisigen Wald, ihre schwarzen und weißen Fellsträhnen flogen hinter ihr her.

Flammensprung und Frostsee folgten, der rötliche Pelz der Kriegerin und der silber-weiße des Kriegers verschmolzen fast mit der schneebedeckten Landschaft, als sie sich in den Wald begaben. Die kühle Luft war erfüllt von den Geräuschen des Waldes, doch Frostsee konnte die Unruhe nicht abschütteln, die in ihm wuchs.

Die Grenze war nicht weit entfernt, und obwohl er sich bemühte, seine Gedanken auf die Jagd zu richten, spürte er das unsichtbare Ziehen, das ihn immer wieder in die Richtung der unbekannten Welt lockte.

Während sie durch den Wald schritten, blieb Wieselpfote plötzlich alarmiert stehen. Ihre grauen Augen weiteten sich, als sie mit scharfem Blick ein Kaninchen entdeckte, das ahnungslos durch den Schnee hoppelte, auf der Suche nach Nahrung.

„Da!" flüsterte sie aufgeregt und deutete mit dem Schweif auf das Beutetier. Ihre Pfoten verkrampften sich, bereit zum Sprung. „Es ist direkt vor uns. Wir müssen leise sein, Frostsee."

Flammensprung trat vorsichtig einen Schritt nach dem anderen, die Ohren gespitzt. Doch ihr Blick blieb auf das Kaninchen gerichtet, das sich immer weiter von ihnen entfernte, ohne eine Ahnung von der Gefahr zu haben.

Frostsee beobachtete die Szene aufmerksam, versuchte, die Bewegung von Wieselpfote und Flammensprung zu synchronisieren, um den Überraschungseffekt zu nutzen. Doch der Gedanke an die Grenze und das Flüstern des Windes war wie ein Schatten, der über alles andere kroch. Seine Instinkte waren scharf, aber seine Gedanken streiften immer wieder zur verbotenen Zone.

„Sei schnell, Wieselpfote", murmelte er, versuchte sich zu konzentrieren, als er seine Muskeln anspannte, bereit, im richtigen Moment zuzuschlagen.

Ohne weitere Vorwarnung sprintete Wieselpfote los, ihre Pfoten wirbelten den Schnee auf, während sie sich mit einer blitzschnellen Bewegung auf das Kaninchen stürzte. Für einen kurzen Moment herrschte eine aufregende Verfolgungsjagd, das Kaninchen raste in alle Richtungen, versuchte, sich in den dichten Busch zu retten. Doch Wieselpfote war flink und geschickt, ihre Bewegung präzise und voller Energie.

Mit einem letzten kräftigen Sprung landete sie auf dem Kaninchen, drückte es zu Boden und beendete die Jagd mit einem schnellen, tödlichen Biss.

„Erledigt!" Wieselpfote triumphierte und stand auf, das Kaninchen stolz im Maul. Ihre Augen glänzten vor Freude. „Das war einfach!"

Flammensprung schmunzelte, stolz auf die Leistung der Schülerin. „Gut gemacht, Wieselpfote. Du wirst eine hervorragende Jägerin."

Frostsee nickte, aber sein Blick wanderte wieder zum Horizont. Der Wind trug immer noch dieses unheimliche Flüstern, und er konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass mehr hinter dieser Jagd lag – vielleicht mehr als nur die Grenzen des eigenen Territoriums.

„Lasst uns zurückkehren", sagte er schließlich, seine Stimme rau und unentschlossen. „Wir haben genug für heute."

Doch Wieselpfote, immer voller Energie, sprühte weiterhin vor Begeisterung. „Warten wir noch ein wenig, Frostsee! Vielleicht finden wir noch mehr. Es ist doch noch früh!"

Aber der Krieger zögerte. Die Jagd, so gut sie auch war, fühlte sich für ihn wie eine Ablenkung an – von etwas, das viel größer war. Ein verborgenes Ziel, das er noch nicht ganz begreifen konnte.

„Wieselpfote hat recht. Wir sollten noch ein wenig weiter suchen. Der Clan braucht so viel Beute, wie wir kriegen können", mahnte Flammensprung und blickte mit einem entschlossenen Blick in die Richtung, aus der der Wind wehte. Ihr Blick war fest, als wollte sie die Unsicherheit in Frostsee's Augen nicht sehen.

Frostsee nickte, doch in seinem Inneren pochte ein anderer Gedanke, der sich nicht so einfach vertreiben ließ. Es war nicht nur das Bedürfnis nach Beute, das ihn antrieb, sondern etwas anderes, ein Drang, der ihn tiefer in die Wälder zog. Es war das Gefühl, dass der Wind ihn zu etwas anderem rief.

„Na gut", murmelte er schließlich, als er seine Gedanken beiseite schob. „Dann suchen wir weiter."

Sie setzten ihren Weg fort, die weiten Schneefelder des Flockenclan-Territoriums vor sich. Wieselpfote war noch immer voller Energie, während Flammensprung mit ruhigeren, überlegten Schritten hinter ihr herschlich. Doch Frostsee, obwohl er die Jagd fortführte, konnte sich nicht von der Vorstellung befreien, dass etwas außerhalb ihres Territoriums auf sie wartete – etwas, das zu einem schicksalhaften Wendepunkt führen würde.

Nachdem sie noch eine Wühlmaus und einen Vogel ergattert hatten, machte sich die Truppe zurück zum Lager. Flammensprung und Wieselpfote schritten vorran, der frische Duft der Beute in der Luft, während Frostsee für einen Moment inne hielt. Der Schnee unter seinen Pfoten knirschte leise, als er den Kopf erhob und in die Ferne starrte.

~Frostsee~

Eine Stimme flüsterte in seinen Ohren, ein leises, fast unhörbares Rufen, das den Wind begleitete. War es nur die Einbildung oder war da tatsächlich etwas? Etwas, das ihn drängte, weiter zu gehen, die Grenze zu überschreiten und das zu finden, was im Verborgenen lag.

Er schüttelte sich kurz, versuchte den Gedanken zu vertreiben. Doch je mehr er versuchte, den Ruf zu ignorieren, desto stärker fühlte er sich davon angezogen. Als wäre das Schicksal selbst am Werk, als würde es ihn zu etwas Großem führen. Etwas, das er nicht in den gewohnten Grenzen seines Clans finden konnte.

Mit einem tiefen Atemzug kehrte er zu seinen Gefährten zurück. Flammensprung und Wieselpfote bemerkten nichts von seiner inneren Unruhe, als sie das Lager erreichten. Doch Frostsee konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass er sich nicht mehr nur in seinem eigenen Territorium befand – er war auf einem Weg, den niemand je zuvor gewagt hatte.

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