Kapitel 3
Die Nacht hatte die Welt in ihren kalten Mantel gehüllt, als Frostsee auf seiner Moosunterlage lag, wach und ruhelos. Das Lager schlief friedlich, doch in seinem Inneren tobte ein Sturm. Seine Gedanken kreisten unaufhörlich um die Worte Schattenwinds und das Flüstern des Windes, das ihn immer wieder heimsuchte.
Plötzlich wehte ein kalter Luftzug durch den Kriegerbau, und Frostsee zuckte zusammen. Es war, als hätte ihn etwas berührt, eine unsichtbare Pfote, die sanft an seinem Pelz zupfte. Sein Atem ging schneller, während er die Dunkelheit durchbohrte, auf der Suche nach etwas – oder jemandem. Doch alles blieb still.
Mit einem leisen Seufzen erhob er sich und schlich aus dem Bau, darauf bedacht, die anderen nicht zu wecken. Die klare, eisige Luft der Nacht empfing ihn, und Frostsee spürte, wie der Frost unter seinen Pfoten knirschte. Über ihm glitzerten die Sterne wie gefrorene Tränen am schwarzen Himmel.
Sein Blick wanderte instinktiv zur Grenze. Dort draußen, hinter den verschneiten Tannen und den stillen Schatten, lag das Unbekannte. Es zog an ihm, wie die Strömung eines Flusses, dem man nicht widerstehen konnte.
„Warum lässt es mich nicht los?" murmelte er leise und ließ sich am Rande des Lagers nieder. Sein Schweif zuckte nervös, während er in die Ferne starrte.
Felsenstern trat aus dem Schatten der Bäume und gesellte sich zu Frostsee, seine dunklen Augen funkelten im Mondlicht. „Du bist unruhig," bemerkte er ruhig, ohne eine Spur von Überraschung in seiner Stimme. „Ich habe es schon die letzten Tage bemerkt."
Frostsee zuckte zusammen und richtete sich sofort auf, als er die vertraute Stimme des Anführers hörte. „Ich..." Er ließ seine Worte im Nichts verhallen, unsicher, wie viel er von seiner inneren Unruhe preisgeben sollte. „Es ist nichts", fügte er schließlich hinzu, doch der Zweifel in seiner Stimme war offensichtlich.
Felsenstern musterte ihn lange, und für einen Moment schien er in die tiefen Augen des jüngeren Katers zu sehen, als könnte er die Gedanken lesen. „Es ist nicht 'nichts', Frostsee", sagte er schließlich und setzte sich neben ihn, mit Blick auf das weite, schneebedeckte Land. „Du bist auf der Suche nach etwas. Etwas, das du nicht benennen kannst."
Frostsee schüttelte leicht den Kopf, aber die Worte, die Felsenstern gesprochen hatte, trafen ins Schwarze. „Ich habe nur... das Gefühl, dass etwas da draußen ist. Etwas, das ich finden muss. Etwas, das mich ruft."
Der Anführer verengte scharf seine braunen Augen und fixierte Frostsee mit einem Blick, der mehr durchdringend als neugierig wirkte. „Was meinst du damit, Frostsee? Dass dich etwas... ruft?"
Frostsee spürte, wie ein unbehagliches Kribbeln durch seinen Körper zog. Es war, als würde die Frage von Felsenstern ihn entblößen, seine Unsicherheit und die ungeklärten Gedanken, die er immer noch nicht wirklich verstand. Ein seltsames Gefühl der Verwirrung machte sich in ihm breit, als er versuchte, die Worte zu finden.
„Ich weiß es nicht", gab er schließlich zu, seine Stimme leise. „Es ist... als würde der Wind mir etwas zuflüstern. Etwas von jenseits der Grenze. Ich kann es nicht erklären. Es fühlt sich an, als würde es mich rufen, als könnte es mein Schicksal sein, dort hinauszugehen."
Felsenstern blieb still und starrte den Krieger an, seine Miene undurchdringlich. Ein Hauch von Besorgnis war in seinen Augen zu erkennen, doch er sagte nichts. Nur der Wind raste weiter über das Lager, als wollte er die Worte zwischen ihnen verwehen.
„Du bist nicht der erste, der solche Gedanken hegt", sagte der Anführer schließlich, seine Stimme ruhig und tief. „Aber sei vorsichtig, Frostsee. Das Unbekannte mag verlockend wirken, doch es birgt Gefahren, die wir nicht begreifen können. Es gibt Gründe, warum dieses Gesetz existiert. Es schützt uns vor dem, was zu weit entfernt und zu mächtig ist."
Frostsee nickte, aber der Zweifel in ihm ließ sich nicht vertreiben. War das Gesetz wirklich dazu da, sie zu schützen? Oder hatte es sie nur in einer Welt gefangen, in der der wahre Horizont außerhalb ihrer Reichweite lag?
„Was, wenn das Gesetz uns auch davon abhält, unser wahres Schicksal zu erkennen?" fragte er leise, mehr zu sich selbst, als zu Felsenstern.
Der Anführer antwortete nicht sofort. Stattdessen betrachtete er Frostsee einen Moment lang mit einer Mischung aus Verwirrung und ernstem Ernst. Schließlich sagte er:
„Du bist jung, Frostsee. Deine Gedanken sind ehrgeizig, und das ist nicht schlecht. Doch manchmal ist es die Weisheit des Gesetzes, die uns vor uns selbst schützt."
Frostsee wusste, dass der Anführer recht hatte. Doch tief in ihm brannte die Frage weiter, und die Unsicherheit war schwerer zu ignorieren, je länger er darüber nachdachte.
„Aber Felsenstern, wir können uns nicht ewig hinter dem Gesetz verstecken... Wir können nicht ewig unseren Weg sperren!" Es entglitt Frostsee mit einem Schub aus Frustration, seine Worte waren scharf und ungestüm. Der Krieger trat einen Schritt näher, als ob er sich von Felsenstern lösen wollte. „Da draußen ist etwas, etwas, das wir nicht verstehen, aber das uns ruft! Etwas, das wir entdecken müssen. Wir können nicht einfach weitermachen, als wäre es nicht da!"
Felsenstern blickte Frostsee ruhig an, doch in seinen Augen brannte eine unerschütterliche Entschlossenheit. „Du überschätzt die Bedeutung dieses Rufes", sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. „Der Ruf, den du hörst, mag verlockend sein, doch er ist der Ruf der Unwissenheit. Was du suchst, ist nicht das Licht, sondern das Verderben. Der Weg, den du einschlagen möchtest, führt nur in die Dunkelheit."
Der Anführer trat einen Schritt auf Frostsee zu, seine Präsenz überragend, so als würde die Luft um ihn selbst schwerer und dichter werden. „Das Gesetz, das wir befolgen, ist nicht nur ein Gesetz aus Regeln, es ist das Schicksal, das uns gegeben wurde. Jeder Schritt, den wir machen, ist auf diesen Pfaden vorgezeichnet. Wer das Gesetz hinterfragt, stellt das Gleichgewicht des Clans auf die Probe – und dieses Gleichgewicht ist heilig."
Frostsee öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Felsenstern hob die Pfote, ein klares Zeichen, dass er weiterreden wollte. „Du verstehst nicht, Frostsee", fuhr der Anführer fort, seine Stimme fest und doch voller Autorität. „Dieses Gesetz schützt uns vor dem Chaos, das dort draußen lauert. Wenn wir uns abwenden, wenn wir den Pfad des Schicksals verlassen, verlieren wir alles. Wir verlieren uns selbst, unsere Bestimmung und das Vertrauen, das der Clan in uns setzt."
Frostsee sah ihm in die Augen, der Gedanke, dass Felsenstern möglicherweise recht hatte, drang nur zögerlich zu ihm durch. Doch der Zweifel ließ ihn nicht los. „Aber was, wenn das Schicksal mehr ist, als wir uns je vorgestellt haben?" fragte er, als ob er nach einer Antwort suchte, die er selbst noch nicht finden konnte.
Felsenstern antwortete mit einem kalten Blick, der Frostsee das Gefühl gab, dass er das alles schon viele Male gehört hatte, viele Male durchdacht hatte. „Es gibt keine größere Wahrheit, als das, was wir leben. Wir folgen dem Schicksal, das uns bestimmt wurde. Du wirst lernen, dass jede Katze, die versucht, diesem Schicksal zu entkommen, mit nichts als Verlust und Leid konfrontiert wird. Was du suchst, Frostsee, ist nicht das Schicksal, sondern der Abgrund. Und das ist ein Weg, den kein Krieger des Clans gehen sollte."
Der Anführer machte einen Schritt zurück und ließ die Luft wieder etwas leichter werden. „Du bist ein Krieger des Flockenclans. Dein Platz ist hier, bei uns, an der Seite des Gesetzes. Denke daran, bevor du weitere Gedanken daran verschwendest, einen gefährlichen Weg zu gehen."
Frostsee schwieg. Felsenstern hatte ihm die klare Grenze gezeigt. Der Anführer stand für das Gesetz und das Schicksal, und jeder Zweifel daran war eine Gefahr für den Clan. Die Worte brannten in Frostsee, doch die Frage blieb, wie lange er noch in der Schatten des Gesetzes bleiben konnte, ohne zu spüren, dass er etwas Wichtigeres suchte.
„Ich verstehe", murmelte er schließlich, sein Blick gesenkt, doch der Funke der Rebellion in ihm war noch immer nicht erloschen.
„Spiele nicht mit dem Feuer, Frostsee. Denn so schnell wie es entfacht wird, so schnell wirst du an ihrer Flamme verbrennen und ersticken." Die Worte von Felsenstern waren eisig, seine Stimme war ein schneidender Wind, der den Krieger ohne Gnade traf. Er trat einen Schritt zurück, seine Augen wie ein stählerner Blick, der keine Widersprüche duldete. „Du solltest zurück in den Bau und ruhen. Hiermit ist das Gespräch beendet."
Frostsee erstarrte für einen Moment, als ob die kalte Härte von Felsensterns Worten in ihm nachhallte. Der Wind schien noch kälter zu werden, als würde er die Bedrohung in der Luft verstärken. Doch er wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich weiter zu wehren. Der Anführer hatte gesprochen.
„Ich verstehe, Felsenstern", murmelte Frostsee und senkte den Kopf. Er konnte die brennende Frage in ihm nicht ablegen, die nach Antworten schrie, doch es war sinnlos, weiter dagegen anzukämpfen.
Mit einem letzten Blick auf den Anführer drehte sich der Krieger um und trat langsam in Richtung des Kriegerbaus. Doch der Funke, der in ihm loderte, war nicht erloschen. Er würde zurückkehren, er würde nicht aufhören zu fragen, was hinter der Grenze lag. Aber heute, in diesem Moment, wusste er, dass er keine Antwort finden würde – zumindest nicht bei Felsenstern.
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