9. Verborgen im Meer - das bin ich auch

Rune führte mich zielsicher durch das Wasser. Wir bewegten uns tiefer hinab und kamen an mehreren kleinen Korallenriffen vorbei. Sie waren wunderschön. Ich sah einen Schwarm blauer Fische mit gelben Flossen und musste sofort an den Film Findet Dorie denken. Wenn ich mich nicht täuschte waren das Paletten-Doktorfische.

Plötzlich verdeckte ein Schatten das Licht, das durch die Wasseroberfläche brach. Alarmiert hob ich den Kopf, aber es gab nichts zu befürchten. Zwei Mantarochen, schwarz-weiß gestreift, schwammen über meinen Kopf hinweg. Es wirkte fast, als würden sie fliegen. Fasziniert beobachtete ich sie, bis meine Augen an einem anderen Meeresbewohner hängenblieben.

Ein Gemeiner Delfin. Seine Färbung war unverkennbar: Der Bauch weiß, der Rücken schwarz und an den Seiten hatte er gelbliche Streifen. Begeistert sah ich ihm zu, wie er durch das Wasser schoss, Klicklaute von sich gebend. Das einzig Merkwürdige war, dass ich die verschiedenen Tiere riechen konnte. Mein Geruchssinn war jetzt bei Weitem besser.

Aus einer gelben Koralle lugte ein winziger blauer Fisch mit einer orangenen Flosse. Kurz darauf tauchten fünf weitere neben dem ersten auf. Vermutlich Riffbarsche.

„Die sind ja so klein" sagte ich hingerissen.

„Auf die Größe kommt es nicht an. Jeder ist einzigartig, so klein und unbedeutend er auch erscheinen mag."

Etwas sprachlos starrte ich Rune an. Seine Worte würde ich mir merken, sie waren schön. Woher er sie wohl hatte? Oder hatte er sie gerade instinktiv gesagt?

„Komm wir müssen weiter", sagte er und schwamm wieder los.

Schweren Herzens folgte ich ihm. Kurz sah ich noch eine schwarze Krabbe in ihrer Höhle verschwinden, als ein Papageifisch an ihr vobeischwamm, bevor wir die Korallenriffe hinter uns ließen. Belustigt - jedenfalls interpretierte ich dieses Haifischlächeln so - wandte sich Rune mir zu.

„Keine Sorge. Du wirst sicher noch oft zurückkommen."

„Hoffentlich", seufzte ich.

Rune - ich glaubte, er war ein Schwarzhai - führte mich zum Ende des flachen Gewässers. Vor uns tat sich nur Wasser auf und unter uns war ein Abgrund. Waren es jetzt nur vielleicht etwa fünfzehn Meter Tiefe, so änderte sich dies nun.

Ohne Zögern schwamm Rune zum Abgrund und hinab in die Dunkelheit. Aufgrund seiner dunklen Färbung war er kaum auszumachen. Um ihn nicht zu verlieren, beeilte ich mich ihn einzuholen. Glücklicherweise hatte er nach wenigen Metern auf mich gewartet.

„Wohin -"

„Still!", unterbrach mich Rune.

Warum wirkte er so angespannt? Plötzlich ertönte ein weinendes und gleichzeitig singendes Geräusch. Es war beruhigend, doch zugleich auch einschüchternd. Neugierig und etwas besorgt sah ich nach oben. Meine Augen weiteten sich überrascht.

Drei gigantische Kreaturen schwammen über uns hinweg. Eine der drei war etwas kleiner, nur wenig größer als ich. Wieder ertönte das Geräusch, diesmal erwidert von den anderen. Dort waren Wale - Buckelwale. Sie von Nahem zu sehen war unglaublich. Ein berauschendes Gefühl durchströmte mich. Das hier war besser, als jedes Buch und als jeder Film. Denn das hier war real.

Die kleine Walfamilie zog vorüber und ließ mich lächelnd zurück. Ich war der glücklichste Mensch - ich meine Hai - auf der Welt. Das war definitiv der beste Tag in meinem Leben, was noch nicht sehr lang war, da ich erst sechzehn war. Trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, etwas Schöneres als in den letzten paar Minuten zu erleben.

„Wenn dich das hier schon begeistert hat, dann warte erst, bis wir an unserem Ziel ankommen. Das wird dich aus den Flossen hauen", behauptete Rune.

„Was ist denn unser Ziel?"

„Du erfährst es gleich."

Von einem Moment auf den anderen schoss Rune vorwärts und verschwand in der Dunkelheit der Tiefe. Das Sonnenlicht, das zuvor noch die Korallenriffe beleuchtet hatte, war nun nur noch ein kleiner Lichtfleck weit über mir.

Trotzdem konnte ich Rune immer noch gut erkennen. Das musste wohl daran liegen, dass ich ein Hai war. Ich spürte wie der Wasserdruck größer wurde und die Meeresströmung ihre Richtung ein wenig änderte. Als Mensch hätte ich das bestimmt nicht wahrgenommen.

Wir sind fast da", erklärte Rune.

Er erhöhte seine Geschwindigkeit, dennoch hatte ich keine Mühe, mit ihm mitzuhalten. Plötzlich hörte ich Stimmen. Sie waren noch leise, doch wurden sie lauter, je tiefer wir schwammen. Bald schon konnte ich Lachen und Rufen unterscheiden. Neugierig schwamm ich schneller, bis ich endlich Rune eingeholt hatte.

Die Wasseroberfläche war nun fast hundert Meter entfernt, aber das störte mich nicht. Wir schwammen noch ein Stück zur Seite, als sich vor uns eine hohe Steinwand auftat. Sie musste weit über uns mit dem flachen Gewässer verbunden sein.

„Wo ist jetzt unser Ziel?", fragte ich verwundert.

Rune grinste sein Haifischlächeln und antwortete:

„Gleich vor uns."

Ich sah zu der Steinwand. Ganz deutlich konnte ich hören, dass von dort die Stimmen kamen. Konzentriert suchte ich die Wand ab, bis meine Augen an einem Schimmern hängen blieben. Dort war eine Höhle, die ich aber erst nicht erkannt hatte, weil Seetang und andere Pflanzen den Eingang verdeckten.

Fragend wandte ich mich an Rune, woraufhin er nickte. Dann führte er mich zu dem Eingang. Als er hindurchschwamm, folgte ich ihm nur zögerlich. Schließlich hatte ich keine Ahnung, was auf der anderen Seite lauerte. Obwohl, wenn dort etwas Großes, Gefährliches wäre, hätte ich es sicher schon längst mit meinen erweiterten Sinnen gespürt.

Nachdem ich endlich durch den Seetang und die anderen Pflanzen geschwommen war, wollte ich mich bei Rune erkundigen, wie lange es denn noch dauere. Aber bevor ich ihn auch nur ansehen konnte, stockte mir der Atem - so wie das bei Haien eben ist, wenn sie sich nicht bewegen.

Wenige Meter unter mir breitete sich eine riesige Stadt aus. Zwischen bläulich leuchtenden Stalagmiten standen aus dem Stein gehauene Häuser. Es waren eher riesige rundliche Höhlen, die durch ein Loch erreichbar waren, das sich in der Decke befand.

Trotzdem waren sie wunderschön, denn die Wände waren geschmückt mit Algen, Korallen und vielem mehr. Viele verschiedene Fische - von Schildkröten zu Quallen und Oktopussen war alles dabei - schwammen zwischen ihnen, als wären dort Straßen.

„Kommst du?"

Rune drehte sich nach mir um und sah mich an. Ich setzte mich schnell wieder in Bewegung. Unbedingt wollte ich diese Stadt näher erkunden. Wir schwammen an Stalagtiten vorbei, die von der Decke hingen und ebenfalls leicht leuchteten. Trotz der außergewöhnlichen Beleuchtung konnte ich die wirklichen Ausmaße dieser Höhle nicht erkennen.

„Aufpassen!", rief eine Stimme.

Ich spürte etwas sich schnell nähern, doch bevor ich ausweichen konnte, prallte es gegen mich, wodurch ich mehrere Meter zurückgeschleudert wurde. Glücklicherweise knallte ich gegen keinen Stalagtiten.

„Was sollte das?!"

Ärgerlich wandte ich mich dem Meeresbewohner zu, der mich gerammt hatte. Es war ein grauer Delfin, etwa zweieinhalb Meter lang. Ich war froh, dass wir in Biologie eine Doku über das Meer und seine Bewohner gesehen hatte, weshalb ich ihn als einen Großen Tümmler identifizieren konnte.

„Ich bitte vielmals um Verzeihung, aber du schwammst im Weg."

Meine Begeisterung, die Stadt zu erkunden, schwand mit jeder Sekunde mehr. Waren hier alle so? Plötzlich spürte ich ein sich schnell näherndes Lebewesen. Alarmiert fuhr ich herum. Ein großer Hammerhai - wie man an dem hammerartigen Kopf erkennen konnte - kam schwankend, aber dennoch sehr schnell auf uns zu.

„Akira! Sofort stehen bleiben!", rief Rune und schwamm drohend auf den Hammerhai zu.

Waren das hier etwa auch Seachanger? Der Hammerhai, der anscheinend Akira hieß, kam zu einem Stillstand. Nur die Augen huschten immer wieder aufgeregt zu mir. Hatte ich eine Mütze auf oder was?

„Ihr beiden schon wieder", sagte Rune.

Er seufzte tief, was man aber nur als ein seltsames Blubbern vernehmen konnte.

„General, es tut uns Leid, ehrlich. Wir -"

Der Große Tümmler wurde von Akira unterbrochen.

„Wir waren einfach nur neugierig auf den Neuankömmling."

Wäre Rune ein Mensch, hätte er vermutlich eine Augenbraue gehoben.

„Na gut", gab Akira nach, „Yunus und ich haben das Katapult ausprobieren."

Bitte WAS?! Hier gab es ein Katapult? Wozu das? Und sie schossen sich damit absichtlich gegenseitig durch das Wasser? Das war doch gefährlich mit den ganzen Stalagmiten und Stalagtiten.

„Hatte ich das nicht verboten?"

Yunus, der Delfin, gab einen kurzen, entschuldigenden Pfeifton von sich - so wie ich das interpretierte.

„Keine Sorge, General. Das wird nicht wieder vorkommen."

Akira schüttelte, als sie nicht sagte, den Kopf, was aussah, als versuche sie, einen unsichtbaren Nagel ins Wasser zu hämmern.

„Was du nicht sagst", murmelte Rune zu sich selbst. „Wie wäre es, wenn du und Yunus Serafina die Stadt zeigt? Ich muss noch etwas erledigen."

Den letzten Satz hatte er an mich gerichtet. Ich nickte, auch wenn ich keine Lust hatte, mit sich selber katapultierenden Meeresbewohnern durch eine mir unbekannte Stadt zu schwimmen. Rune schwamm hinunter und verschwand in einem der Häuser.

„Komm", sagte der Delfin freundlich.

Wir schwammen los hinunter in diese unglaubliche Stadt. So schlimm konnte es ja nicht werden...

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