8. Klärendes Gespräch mit einem Hai
Blinzelnd öffnete ich meine Augen. Im ersten Moment war alles verschwommen und ich erkannte nur einen Schatten, der sich über mich beugte. War ich tot? Wenn ja, wer war dann dieser Schatten?
Erschöpft schloss ich meine Augen wieder. Wenn ich tot war, warum fühlte ich mich dann als wäre ich einen Marathon gelaufen?
Plötzlich berührte mich etwas an der Schulter. Mir stieg der Duft nach Salzwasser und Zitrone in die Nase. Ich zwang mich dazu die Augen zu öffnen und blickte in ein Paar stahlgraue Augen. Erschrocken zuckte ich zurück und spürte einen leichten Stich in meiner Lunge.
„Halt still. Du musst dich noch ein wenig ausruhen, nachdem du fast erstickt wärst. Versuch dich zu entspannen, deine Haut ist ganz grau", sagte der Mann vor mir.
Er musste um die dreißig sein. Seine schwarzen Haare waren nach hinten gegelt und sein Anzug wirkte als wäre er gerade erst gekauft worden. Seltsamerweise waren seine Schuhe nass sowie auch seine Hose und ein Teil seines Hemdes.
Erst jetzt sickerten seine Worte in mein Gehirn. Überrascht sah ich auf meine Arme. Tatsächlich, sie waren komplett grau.
„Ich bin gar nicht tot?"
Erleichtert setzte ich mich auf und sah mich um. Ich befand mich immer noch in der Bucht, nur stand die Sonne jetzt tiefer am Himmel.
„Hätte ich dir nicht geholfen, wärst du jetzt tot", meinte er trocken.
Ich schluckte. Was war denn überhaupt passiert? Irgendetwas hatte mich zum Meer gezogen und ich war hinein gegangen. Als ich zurückgehen wollte, waren meine Beine einfach weg und an Stelle meiner Arme hatte ich Flossen gehabt. Dann war ich gesunken und hatte keine Luft mehr bekommen.
Und dann? Eine Stimme, die ich irgendwoher kannte, hatte mich gestört. Das letzte, woran ich mich erinnern konnte, war Schwärze.
„Wer sind Sie eigentlich? Und was ist da gerade passiert?", hakte ich nach.
Jetzt wirkte er beleidigt.
„Dass du das immer noch nicht weißt, trifft mich zutiefst", sagte er sarkastisch.
Hilflos zuckte ich die Schultern. Momentan war mein Gehirn schon damit überfordert, herauszufinden, was vorhin passiert war. Der Mann seufzte.
„Ich will dir auf die Sprünge helfen. Erinnerst du dich noch an den Hai aus deinen Träumen?"
„Äh ja. Aber was hat das mit Ihnen zu tun? Und woher wissen Sie überhaupt, was ich geträumt habe?"
Ich war verwirrt. Was sollte Rune mit ihm zu tun haben? Moment. Seine Stimme, die mir so bekannt vorkam. Er war Rune. Meine Augen weiteten sich in Unglauben.
„Sie ... Sie sind Rune!"
Rune hob eine Augenbraue.
„Bist du auch mal so weit", murmelte er mehr zu sich selbst.
„Wie ist das möglich? Sie sind doch ein Hai! Und der war auch nicht real."
„Ich hab es dir doch schon erklärt. Du warst anwesend, aber nur mit deiner Seele. Seachanger können sich so mit anderen Seachanger verständigen. Nur ist das nicht immer sicher", erklärte Rune mit gerunzelter Stirn.
Ich konnte ihn nur anstarren. Er war ein Hai - und doch auch wieder nicht. Und wenn sich so nur Seachanger mit anderen unterhalten konnten, bedeutete das, ich war auch ein Meerestier.
Rune hatte es mir zwar schon erklärt, aber ich dachte, es wäre einfach ein seltsamer Traum gewesen.
„Das heißt, ich bin auch ein Seachanger", stellte ich fest.
Die Vorstellung war gar nicht mehr so beängstigend wie zuvor. Sie war eher aufregend.
„Das hab ich dir doch auch schon erklärt."
„Ich hab es nicht geglaubt."
Entschuldigend zuckte ich mit den Schultern. Wo das geklärt war, wollte ich noch andere Fragen stellen. Warum war er in der Nähe gewesen? Was war das für ein Ziehen, wenn ich das Meer ansah? Was war da vorhin mit mir passiert? Laut sprach ich nur eine aus:
„Was ist das für ein Ziehen?"
Rune wusste sofort, was ich meinte. Hatte er es selbst schon erlebt?
„Jeder Seachanger spürt dieses Ziehen, wenn er kurz davor ist, sich das erste Mal zu verwandeln. Bei dir ist es ziemlich spät. Normalerweise verwandelt man sich das erste Mal mit etwa sechs Jahren", erläuterte er.
„Ich hab mich gerade das erste Mal verwandelt? Aber warum bin ich dann fast erstickt?"
„Jedes Meereslebewesen hat Instinkte und Eigenheiten. Als Hai musst du schwimmen, um Luft durch deine Kiemen zu bekommen", antwortete Rune.
„Ich bin ein Hai?"
Meine Stimme war unnatürlich hoch.
„Um genau zu sein ein drei Meter langer Weißer Hai."
Ich starrte Rune an. Ich war ein Weißer Hai. Das war ... unglaublich!
„Was ich mich aber frage", murmelte er, „ist, warum dir deine Eltern nichts gesagt haben."
„Wie meinen Sie das?"
„Deine Mutter ist auch ein Seachanger."
Geschockt sah ich ihn an. Meine Mutter war WAS? Das konnte nicht stimmen. Sie hätte es mir erzählt. Bestimmt.
„Ich glaube, Sie täuschen sich."
„Nein, tue ich nicht. Deine Mutter und ich gingen in dieselbe Klasse auf der Schule für Seachanger", sagte Rune.
Es gab eine Schule für Seachanger. Meine Mutter war einer. Ich war einer. Und Ryan und mein Vater?
„Was ist mit meinem Bruder? Ist er auch ein Seachanger?", erkundigte ich mich.
„Ja. Bei ihm spürt man es ganz deutlich."
Ich war froh, dass ich saß. Sonst hätten mich die ganzen Informationen definitiv umgehauen.
„Und mein Vater?"
„Ein Mensch, aber er weiß über uns Bescheid. Er ist ein Eingeweihter", sagte er.
Einen Augenblick sagte keiner von uns ein Wort.
„Das erklärt vermutlich, warum du dich erst jetzt verwandelt hast."
Nachdenklich fuhr sich Rune durchs Haar. Er wollte noch etwas sagen, als er alarmiert den Kopf hob.
„Wir werden beobachtet."
Er kniff die Augen zusammen. Sein Gesicht war eine Maske. In einer fließenden Bewegung stand er auf und ging auf die Bäume zu. Der berechnende Blick machte mir Angst, dennoch stand ich ebenfalls auf und lief ihm hinterher.
„Ich weiß, dass ihr hier seid. Zeigt euch", forderte er kalt.
„Scheiße, er hat uns entdeckt. Wir sollten lieber abhauen, auch wenn wir nichts erfahren haben", piepste eine Stimme, die ich das letzte Mal auch hier vernommen hatte.
„Du hast Recht. Bevor wir noch Haifutter werden", sagte eine andere genauso hohe Stimme.
Zwei Blaumeisen flogen von den Bäumen auf und verschwanden über eine Felswand.
„Verdammt nochmal. Sie müssen uns die ganze Zeit belauscht haben. Jetzt wissen sie mehr als sie sollten", stellte Rune düster fest.
„Hat die eine Blaumeise nicht gerade gesagt, dass sie nichts erfahren haben?"
„Du hast sie verstanden?"
Zweifelnd betrachtete er mich. Der berechnende Ausdruck war zum Glück verschwunden.
„Vermutlich nicht. Ich halluziniere wohl schon", murmelte ich.
„Das waren Windchanger. Es ist eigentlich nur möglich einen Wind- oder Forestchanger in seiner Tiergestalt zu verstehen, wenn man selbst einer ist."
„Es gibt noch andere?"
Ich wollte mich wieder setzen.
„Wir können hier nicht mehr offen reden. Komm."
Rune lief ins Meer und drehte sich erst wieder um, als ihm das Wasser schon bis zur Hüfte ging. Zögernd ging ich auch hinein.
„Keine Sorge, dir passiert nichts. Sich zu verwandeln ist harmlos und gar nicht schlimm", versuchte er mich zu beruhigen.
In mir stieg langsam Panik hoch. Ich hatte schon gespürt wie „harmlos" es war. Ein nervöses Lachen entstieg meiner Kehle.
„Du musst gedanklich nach deiner zweiten Gestalt tasten. Dann musst du dir vorstellen, wie sie deine jetzige ersetzt. Wenn du mehr Übung hast, reicht ein einziger Gedanke."
Ich versuchte genau die Schritte zu befolgen, die mir Rune gesagt hatte, aber ich spürte keine „zweite Gestalt".
„Ich schaff's nicht. Gibt es denn keine andere Möglichkeit?"
„Probier's nochmal."
Wieso klang seine Stimme so gedämpft? Ich sah zu Rune, aber er war verschwunden. Stattdessen trieb im Wasser ein vier Meter langer Hai. Seine schwarzen Augen waren auf mich gerichtet. Mein Instinkt riet mir, sofort das Wasser zu verlassen, aber ich hörte nicht auf ihn.
„Worauf wartest du?"
Der Hai war Rune. Ich schlug mir innerlich gegen die Stirn.
„Ich mach ja schon."
Irgendwie musste ich das doch hinbekommen. So schwer konnte das doch nicht sein, schließlich hatte ich mich vorhin auch verwandelt. Es war zwar nicht mit Absicht gewesen, aber trotzdem.
Ich konzentrierte mich und tastete im Geiste nach meiner zweiten Gestalt. Wenn ich wenigstens wüsste, wie sie aussah oder sich anfühlte, könnte ich sie bestimmt schneller finden.
Um mich besser konzentrieren zu können, schloss ich die Augen und blendete alle Geräusche und Gerüche aus. Vorsichtig durchforstete ich meinen Geist, sorgsam darauf bedacht, nicht die Konzentration zu verlieren.
Plötzlich spürte ich wieder dieses Ziehen. Ich griff danach und stellte mir vor, wie es meinen ganzen Körper erfasste. Einen Moment später verschwanden meine Beine und ich landete im Wasser. Schnell öffnete ich die Augen und bemerkte wie ich zu Boden sank.
Das konnte doch nicht wahr sein! Nicht schon wieder. Panik stieg in mir hoch, der Sauerstoff wurde wieder knapp. Ich glaubte Stimmen zu hören und schwarze Punkte vor meinen Augen tanzen zu sehen. Das war ein ganz mieses Déjà-vu.
„Jetzt stell dich nicht so an. Beweg deine Schwanzflosse", befahl der Hai vor mir.
Rune. Ich bewegte meine Beine - oder wohl eher meine Flosse, die sich dort anstatt meiner Beine und Füße befand. Mit einem Ruck schoss ich vorwärts und meine Kiemen nahmen Sauerstoff auf. Das Problem war nur, dass ich nicht wusste, wie man stoppte oder lenkte.
„Hilfe?"
„Du musst deine Brustflossen benutzen", sagte Rune und schwamm neben mich.
Ich tat, was er gesagt hatte und fand endlich Stabilität. Noch etwas ungelenk bewegte ich sie, wie ich mit meinen Armen schwimmen würde. Auf einmal ertönte ein blubberndes Geräusch. Verwundert drehte ich mich zu Rune. Er lachte.
„Du wirst schon noch lernen, wie du richtig schwimmst."
Rune schwamm vor und ich folgte ihm etwas unbeholfen. Sicher fand er seinen Weg zwischen den Steinen hindurch, bis wir die Bucht hinter uns gelassen hatten. Das offene Meer lag vor uns.
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