4. Verrücktwerden braucht seine Zeit

Schwer atmend blieb ich vor der Haustür stehen. Ich war das letzte Stück gerannt, da die Sonne gerade untergegangen war und ich eigentlich zum Abendessen zurück sein wollte. Das Auto meines Vaters stand in der Garage, was bedeutete, dass meine Eltern zu Hause waren.
Leise öffnete ich die Tür und schloss sie vorsichtig hinter mir. Dann schlich ich durch den Flur und wollte schon die Treppe nach oben gehen als ich zurückgerufen wurde:

„Serafina, komm mal her. Ich denke, wir müssen reden."

Die Stimme meines Vaters war ernst. Ich schluckte und ging ins Wohnzimmer, wo meine Eltern und mein Bruder saßen. Ryan warf mir einen aufmunternden Blick zu, der mich nur noch mehr beunruhigte. Sein Gesicht sah wirklich schlimm aus.

„Setz dich", befahl meine Mutter und deutete auf einen freien Sessel.

Langsam ließ ich mich auf ihm nieder und wartete, dass meine Eltern endlich zum Punkt kommen würden. Voller Unwohlsein kaute ich auf meiner Unterlippe herum.

„Hör mal, Serafina", fing mein Vater an. Seine blauen Augen bohrten sich in meine braunen. „Ich weiß, du kannst nicht immer auf deinen Bruder aufpassen, aber dass so etwas passiert und du nichts davon mitbekommt, ist schon seltsam, meinst du nicht auch?"

„Wir haben das Gefühl, du kümmerst dich nicht um Ryan. Dass du es gar nicht willst", mischte sich meine Mutter ein.

Ihre sonst so warmen braunen Augen schauten mich nun vorwurfsvoll an.
Ich wollte protestieren, aber Ryan kam mir zuvor:

„Das stimmt nicht! Fina kümmert sich um mich, wo sie kann. Sie kann nichts dafür!"

Dankbar sah ich meinen Bruder an. Es rührte mich, wie er mich verteidigte. Er war einfach der beste Bruder, den man sich wünschen konnte.

„Wenn sie sich so sehr um dich kümmert, Ryan, warum hat sie dann keinem Lehrer Bescheid gesagt? Warum ist sie einfach mit dir nach Hause gegangen, ohne irgendjemandem Bescheid zu geben? Schließlich seid ihr doch zusammen nach Hause gegangen, nicht wahr?", wollte mein Vater wissen.

„Ja, schon. Aber-"

„Siehst du!", unterbrach ihn meine Mutter.

„Er hatte seinen Kopf gesenkt, als er das Schulgebäude verließ. Ich konnte die Verletzungen nicht erkennen...", warf ich ein.

Abschätzend betrachteten meine Eltern mich. Unruhig rutschte ich in dem Sessel hin und her.

„Ryan, warum hast du denn deiner großen Schwester nichts gesagt?", fragte meine Mutter sanft.

Wütend blitzten Ryans Augen auf.

„Weil es eh nichts bringt. Kapiert das denn niemand?!"

„Was bringt nichts?"

Verwirrt fuhr sich mein Vater durch sein schwarzes Haar. Ryan hatte es von ihm geerbt, ebenso wie die eisblauen Augen. Ich dagegen kam nach unserer Mutter, mit meinen rotbraunen Haaren und den braunen Augen.

„Egal, wie häufig Xavier bestraft wird, er wird mich immer weiterärgern. Er hasst mich so sehr, dass es ihm mittlerweile egal geworden ist, was für Strafen er bekommt, solange ich noch in seiner Reichweite bin", erklärte er.

„Das ist schrecklich!", rief meine Mutter aus. Sie wandte sich an meinen Vater: „Henry, wir sollten sofort bei den Eltern dieses Xaviers anrufen."

„Ich weiß ja nicht, Evelyn. Wenn Ryan sagt, dass es nichts bringt, dann wird es wohl so sein", sagte mein Vater nachdenklich.

Einen Moment war es still. Da keiner etwas erwiderte, wagte ich zu sagen:

„Ich gehe nach oben, ja?"

Meine Stimme klang unnatürlich laut in der Stille.

„Geh nur", sagte mein Vater und lächelte mir zu.

Die Anspannung fiel von mir ab und ich ließ die Schultern sinken.
Oben angekommen ging ich duschen und zog mir danach meinen Schlafanzug an. Ein kurzer Blick auf  verriet mir, dass es 21:13 Uhr war. Ich steckte mir Kopfhörer in die Ohren und legte mich ins Bett. Dann ließ ich die Musik laufen.

*

Ich befand mich irgendwo tief unter der Wasseroberfläche. Seltsamerweise konnte ich atmen und der Druck machte mir auch nicht zu schaffen. Wo war ich bloß?

„Hallo Serafina. Schön, dass wir uns wiedersehen", ertönte eine Stimme hinter mir.

Das erste, was ich erblickte, als ich mich umdrehte, waren Reihen rasiermesserscharfer Zähne. Vor Schreck blieb mir das Herz in der Brust stehen.

„Entschuldige bitte. Hab ich dich erschreckt?"

Die glänzenden Zähne verschwanden aus meinem Blickfeld. Stattdessen sah ich nun in zwei schwarze, durchdringende Augen. Es war wieder der Hai. Rune.

„Ich fürchte, es gibt schlechte Neuigkeiten."

„Aha. Ich bin sicher, so schlecht können die gar nicht sein", meinte ich schulterzuckend.

„Wenn du dich da mal nicht täuschst."

„Sag schon."

Ich war leicht gereizt. Es war einfach ein anstrengender Tag gewesen. Wenigstens im Schlaf wollte ich meine Ruhe, aber nein. Natürlich musste ich wieder irgendeinen Schwachsinn träumen.

„Es geht das Gerücht um, dass ein besonderer Seachanger aufgetaucht ist. Einer, von dem man glaubte, er wäre tot. Und das erfreut nicht alle."

„Seachanger. Was soll das sein?"

Die schwarzen Augen blickten mich überrascht an.

„Ich vergaß, dass du nichts darüber weißt. Nun, wie erkläre ich es am besten", überlegte Rune.

„Mach es einfach kurz."

Seachanger sind Menschen, die sich in Meerestiere verwandeln können", sagte er trocken.

Ich starrte ihn an. Jetzt war er mit der Tür ins Haus gefallen.

„Moment, moment. Noch einmal von vorne. Es gibt Menschen, die sich in Tiere verwandeln können?!"

„Ganz genau."

Rune lächelte sein Haifischlächeln, was mich nicht sehr beruhigte.
Es ist alles nur ein Traum. Nichts hiervon ist real. Ich schlang die Arme um mich und versuchte meine Umgebung zu ignorieren.

„Serafina? Alles in Ordnung?"

Besorgt stupste Rune mich mit seiner Schnauze an.

„Alles nur ein Traum. Meine Fantasie geht lediglich mit mir durch", sprach ich zu mir selbst.

„Das ist kein Traum. Jedenfalls nicht so einer, wie du ihn kennst. Du bist hier anwesend, aber nur mit deiner Seele."

Mein Mund klappte auf, aber es kam kein Ton heraus. Ich wurde verrückt. Definitiv.

„Hör mir zu. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Dieser Seachanger bist du. Versu-"

„Ich kann mich in ein Meerestier verwandeln?!"

„Ja, aber hör mir jetzt zu. Ha-"

„Ich bin verrückt geworden. Es gibt keine andere Erklärung."

„Nun hör mir doch mal zu!"

Rune riss sein Maul auf. Erschrocken zuckte ich zusammen und hielt meine Klappe.

„Du musst für dich behalten, was du gerade erfahren hast. Das ist wichtig. Pass auf, mit wem du dich angibst. Sie könnten Spione sein. Und versuch dich nicht in der Öffentlichkeit zu verwandeln, verstanden?!"

„Ja, aber-"

„Du musst jetzt aufwachen. Es ist hier nicht mehr sicher. Wir werden uns bald wiedersehen."

Mein Traum verblasste bereits, aber ich musste noch eine Sache wissen.

„Warte! Was für Spione? Und von wem?"

„Das wirst du noch früh genug erfahren."

Mit diesen Worten verschwand Rune und auch mein ganzer Traum.

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