29. Geheimnisse kann man nicht immer bewahren

Die Kälte der Steinwand in meinem Rücken kroch mir in die Glieder. Dennoch presste ich mich weiterhin gegen sie und versuchte mit dem Schatten des Hauses zu verschmelzen. Ein paar Minuten standen Wesley, Lyra und ich schon hier, ohne von den Männern entdeckt worden zu sein. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, wie wir es geschafft hatten, uns hier unbemerkt zu verstecken. Mir war es nur recht.

„Sind sie weg?", fragte Lyra flüsternd und sah vorsichtig um die Hausecke.

Sofort zuckte sie zurück und presste sich wieder gegen die Wand.

„Scheiße. Ich glaub, einer hat mich gesehen."

„Ich glaube wir sollten dann lieber abhauen", sagte ich und hielt die Luft an.

„Dann wissen sie doch mit Sicherheit, dass wir hier sind", gab Wesley zu bedenken.

Man konnte lauter werdende Stimmen hören und Schritte, die definitiv in unsere Richtung kamen. Verdammt, was sollten wir tun? Würden wir wegrennen, würden sie uns einholen, aber verstecken konnten wir uns auch nicht länger, wenn sie uns entdeckt hatten.

„Ich brauche beim Haus Verstärkung. Zwei reichen völlig aus, um diese Göre zu fassen, die anderen sollen sich sofort zum Haus begeben", befahl eine Stimme.

Schritte entfernten sich wieder, aber noch immer näherten sich uns welche. Konnten wir mit zwei Männern fertig werden? Ich hatte eigentlich noch nie einen Erwachsenen geschlagen und wollte jetzt auch nicht damit anfangen. Einen Kampfsport beherrschte ich nicht, die Typen vermutlich schon.

Wesley bedeutete uns mit den Händen von der Hausecke wegzugehen und schnell in eine andere Straße zu laufen. Dabei hielt er seinen Zeigefinger vor den Mund und schlich los. Noch während wir losliefen, hörte ich Runes Stimme in Gedanken sagen:

„Lauft zu der Bucht am Strand. Und beeilt euch, ich kann sie nicht lange aufhalten."

„Hier lang!", rief ich, sobald wir außer Hörweite waren.

Ich bog rechts ab zu der Straße, die zum Strand führte. Lyra und Wesley blieben zwar nicht stehen, sahen mich aber verwirrt an.

„Vertraut mir, ich kenne ein gutes Versteck", fügte ich hinzu.

„Wir können nur hoffen, dass sie uns dort nicht finden", sagte Lyra und warf einen kurzen Blick über die Schulter.

Ich tat es ihr gleich, konnte jedoch niemanden hinter uns sehen. Rune hielt sie tatsächlich auf! Das war gut, das war mehr als gut. Wenn wir uns beeilten, würden wir an der Bucht sein, ohne dass sie es sahen.

Vor uns sah ich schon die Treppe näher kommen, die hinunter zum Strand führte. Wenige Sekunden später hatten wir sie erreicht und stürzten die Stufen herunter in einem so hohen Tempo, dass ich mehrmals fast den Halt verloren hätte. Doch schließlich trafen meine Schuhe auf Sand und wir rannten wieder mit vollem Tempo los.

Meine Lungen brannten und ich keuchte ununterbrochen, aber das Adrenalin gab mir Energie. Trotzdem kamen wir langsamer voran als auf dem Bürgersteig. Mit jedem Schritt den wir taten, sanken wir ein wenig in den Sand, der unter uns nachgab. So verloren wir viel an Tempo.

„Wir sollten näher ans Wasser gehen, dort ist der Sand fester!"

Ich lief nicht auf direktem Weg zum Wasser, sondern rannte zugleich noch etwas geradeaus. Es dauerte zwar ein paar Sekunden länger, doch in denen war ich auch noch vorangekommen. Als wir endlich zu dem stabileren Sand kamen und ein paar Minuten gerannt waren, hörte ich wie aus weiter Ferne Rufe:

„Da sind sie!"

„Sie wird versuchen über's Meer zu fliehen!"

„Nein, nicht wenn die beiden Menschen dabei sind", erwiderte die erste Stimme hämisch.

Ein Blick über die Schulter ließ mich scharf einatmen. Die Männer waren wieder hinter uns. Sie waren gerade die Treppe herunter gekommen und rannten nun direkt auf uns zu. Ein Glück, dass wir einen großen Vorsprung hatten. Die Felswand mit dem verborgenen Gang lag nur etwa hundert Meter vor uns. Nach einem weiteren Blick nach hinten wusste ich, dass die Männer uns aufholen würden, denn sie sprinteten nun auch auf dem festeren Sand.

Das Rauschen des Meeres und der Salzgeruch, der in der Luft hing, waren momentan keinesfalls beruhigend. Es wirkte eher so als würden die Wellen uns anfeuern oder wollen, dass wir stehen blieben und uns den Typen stellten. Aber das war keine gute Idee. Es waren zwar nur sehr wenige Leute unterwegs, aber hier waren welche. Auf sie mussten wir wohl seltsam wirken. Jugendliche, die vor Erwachsenen wegrannten, also hatten sie vermutlich etwas angestellt. Und wenn wir uns auch noch mit denen prügelten, beziehungsweise die beiden Männer uns gegen unseren Willen mitnahmen (oder was auch immer sie vorhatten), würde das gewiss ungewollte Aufmerksamkeit auf uns ziehen, was wir gerade nicht gebrauchen konnten.

„Was jetzt, Fina? Das ist eine Sackgasse!"

Panisch blieb Lyra stehen und fuhr herum. Wesley versuchte ruhig zu bleiben, doch sein ganzer Körper war angespannt und bereit weiter zu rennen.

„Wir müssen hier rein, schnell!"

Ich schob die Ranken zur Seite, die über den verborgenen Tunnel wuchsen. Mit weiten Augen sahen meine Freunde dabei zu.

„Ein Geheimgang? Wie ...? Woher ...?"

„Keine Zeit, ich erklär's euch später", antwortete ich und scheuchte beide in den Gang.

Sobald ich ihn auch betreten hatte, ließ ich die Ranken los, sodass sie wieder alles verdeckten. Hoffentlich hatten die Männer es nicht gesehen, das würde uns mehr Zeit geben. Während sie dann nach einem Weg suchten, konnten wir uns irgendwo verstecken.

„Woah, das ist ja unglaublich!", fasste Lyra ihre Begeisterung in Worte und ging langsam bis zur Mitte der Bucht.

„Woher wusstest du denn von diesem Ort?", wollte Wesley wissen, sein Blick schweifte dabei über das Wasser, das hier mehr türkis als blau war.

„Wie gesagt, ich erklär's euch später. Erst müssen wir ein gutes Versteck finden."

„Stimmt."

Lyra drehte sich mehrmals um ihre eigene Achse und suchte nach irgendeinem Platz, hinter dem man sich verbergen könnte. Schließlich wandte sie sich wieder mir zu und sagte:

„Hier gibt es nichts, kein einziger Platz zum Verstecken."

„Bis auf das Meer selbst", widersprach Wesley.

„Dort können wir uns schlecht verstecken oder bist du ein Fisch und kannst unter Wasser atmen?"

Ich war ein Fisch und konnte unter Wasser atmen. Ich könnte jetzt einfach ins Meer gehen und als Hai nach Fotein schwimmen. Nur was war dann mit meinen Freunden? Sie konnten sicher nicht so lange die Luft anhalten. Nicht einmal wenn sie sich an mir festhielten und ich in Höchstgeschwindigkeit nach Fotein schwamm. Außerdem durfte ich mein Geheimnis doch nicht preisgeben.

Plötzlich wurde alles schwarz. Die Geräusche rückten in den Hintergrund und wurden durch andere ersetzt. Einen Augenblick später rannte ich neben Rune her eine Treppe herunter, bis ich zum Strand kam und dann dort weiter rannte.

„Serafina, du musst nach Fotein. Es gibt keine andere Möglichkeit", sagte Rune, den Blick nach vorne gerichtet.

„Ich kann nicht. Lyra und Wesley sind auch hier, sie können sich nirgendwo verstecken."

„Das habe ich geahnt. Gut, dass ich deswegen Vorkehrungen getroffen habe."

„Was für Vorkehrungen?"

„Links neben dem Tunnel am Boden. In der Felswand sollte eine Spalte sein. Dort findest du alles, was sie brauchen."

„Was für Sachen?"

„Siehst du dann. Du musst nur wissen, dass ihr im Wasser höchstens zehn Minuten habt, nicht mehr", erklärte Rune.

Mit einem Mal wurde wieder alles schwarz und kurz darauf stand ich in der Bucht.

„... wegen dir ertrinken", behauptete Lyra gerade aufgebracht und deutete auf Wesley.

Was hatte ich verpasst? Egal. Ich musste jetzt zur Felswand, die Typen würden uns gleich erreicht haben. Dass es nicht schon längst so war, verwirrte mich ein wenig. So viel Vorsprung hatten wir nicht gehabt. Hielt Rune sie etwa gerade auf? Wahrscheinlich.

Zielstrebig bewegte ich mich auf den Tunnel zu und kniete mich links von ihm in den Sand. Dann fing ich sofort an, nach der Spalte zu suchen. Es dauerte ein wenig, denn sie war so offensichtlich vor meiner Nase, sodass sie irgendwie schwerer zu finden war. Doch als ich sie endlich gefunden hatte, griff ich kurzerhand hinein und zog zwei Gegenstände heraus. Eine Taucherbrille und eine Taucherflasche. Eine kleine Taucherflasche. Ich griff ein weiteres Mal in die Spalte und holte die gleichen Dinge noch einmal hinaus. Ein paar Sekunden tastete ich noch, aber da war nichts mehr. Wieso hatte Rune keine dritte Sauerstoffflasche dort gelassen?

„Was machst du da?"

Verwundert trat Lyra hinter mich und sah auf die Sachen herab, die neben mir lagen.

„Wie", war das einzige Wort, das sie aussprach.

„Ich erklär's später."

„Ich habe von solchen Taucherflaschen gelesen", erzählte Wesley, als er diese sah, „man kann mit ihnen zehn Minuten unter Wasser bleiben. Mit dem Mundstück eignen sie sich perfekt für -"

„Ja, ja, wir haben's verstanden", unterbrach Lyra ihn. „Moment. Warum sind hier nur zwei Sachen? Wir sind zu dritt."

„Ich brauch nichts."

Fassungslos sahen mich meine Freunde an.

„Natürlich brauchst du was, du kannst schließlich nicht unter Wasser atmen!", meinte Lyra aufgebracht.

„Gebt mir eure Handys. Am besten ihr schaltet sie komplett aus", wechselte ich das Thema.

Ich tat es mit meinem eigenen Handy und nahm dann die von Wesley und Lyra entgegen. So weit es ging schob ich sie in die Spalte und hoffte, die Männer würden nicht nach ihnen suchen und sie finden.

„Ihr müsst sofort ins Wasser. Ich kann sie nur noch zwei, drei Minuten aufhalten. Geht jetzt!"

„Wir haben keine Zeit mehr. Ihr müsst mir einfach vertrauen, okay? Egal, was ihr gleich seht, ihr müsst mir vertrauen."

Eindringlich sah ich von einem zum anderen. Sie nickten langsam. Schnell lief ich ins bauchtiefe Wasser, meine Freunde taten es mir gleich. Sie hatten jeweils eine Taucherbrille und eine der kleinen Taucherflaschen in der Hand.

„Ich werde es euch nachher erklären, wenn wir sicher sind", versprach ich. „Haltet euch an mir fest, sobald wir losschwimmen."

„Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst."

„Bitte rastet einfach nicht aus."

Mit diesen Worten machte ich einen Schritt nach vorne und spürte, wie sich ein Kribbeln über meinen ganzen Körper ausbreitete. Dann fühlte ich, dass sich mein Körper veränderte, bis ich wenig später unter der Wasseroberfläche trieb. In Gestalt eines Hais. Ich versuchte, mich nicht zu bewegen, um meinen Freunden keinen noch größeren Schrecken einzujagen als ich es mit dieser Offenbarung ohnehin schon tat. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sich Wesley traute, herunter zu tauchen. Auf meine Augenhöhe.

Obwohl mir langsam die Luft knapp wurde, bewegte ich mich nicht, sondern sah ihn nur ruhig an. Einen Moment später tauchte Lyra auf meiner anderen Seite herunter. Die Angst der beiden konnte ich deutlich spüren, was mir ein mulmiges Gefühl bereitete. Vorsichtig streckte ich meine Brustflossen aus und hoffte die beiden würden verstehen, was ich ihnen damit sagen wollte. Wesley hielt sich als erster an mir fest, dann tat es auch Lyra. Sobald sich ihre Hand an meiner Flosse festhielt, schoss ich los. Ich machte so einen abrupten Start einerseits deswegen, weil ich fast keine Luft mehr bekam, und andererseits, weil der Sauerstoff in den Flaschen nur für zehn Minuten anhielt.

Es war unangenehm, wie fest sich die beiden jeweils an meine Flosse klammerten. Fast schon schmerzhaft. Trotzdem versuchte ich nicht sie abzuschütteln oder zu beißen, um sie loszuwerden. Ich schwamm einfach weiter so schnell ich konnte. Als ich den Abgrund nach ein paar Minuten erreicht hatte, spürte ich ein Tier näher kommen. Kurz darauf hörte ich Runes Stimme in meinem Kopf.

„Im Palast gibt es einen Raum, der größtenteils Luft enthält. Nur ein Viertel befindet sich im Wasser. Dort können sie hin, bis die Forestchanger weg sind."

„Das ist gut."

„Bei dir zu Hause ist niemand, oder?", fragte Rune.

„Wieso?"

„Ein paar Forestchanger sind auf dem Weg dorthin gewesen."

„Hm. Zum Glück ist niemand -"

Nein. Nein! Das war nicht echt. Ich träumte diesen Mist gerade nur. Das durfte nicht echt sein. Ryan war zu Hause. Ich hatte gehört, wie jemand gesagt hatte, die Männer sollten zum Haus. Also waren sie nicht wirklich hinter mir her. Wahrscheinlich nicht. Wenn mehr zu meinem Haus unterwegs waren, bedeutete das, jemand anderes war ihr Ziel. Jemand anderes war in Gefahr. Sie waren hinter Ryan her.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top