27. Wenn das Wichtigste kommt, bricht das Signal natürlich ab

Ungeduldig wippte ich mit meinem Fuß auf und ab und knetete meine Finger. Silvan war nun schon über zehn Minuten zu spät. War er aufgehalten worden? Oder war ihm vielleicht etwas passiert?

Ich setzte mich auf eine Steinkante neben dem Bürgersteig, die ein Blumenbeet umfasste. Die Blumen waren rot, pink, lila, gelb und weiß und hatten, trotz der vielen Farben, eine beruhigende Ausstrahlung. Außerdem rochen sie gut und nicht zu aufdringlich. Dennoch beruhigten sie mich kein bisschen, sondern machten mich nur noch nervöser.

Es vergingen fünf Minuten, in denen Silvan noch immer nicht aufgetaucht war. Seufzend schloss ich kurz die Augen und überlegte, wie ich mir die Zeit vertreiben konnte. Rote Autos zählen? Muster in den Pflastersteinen erkennen? Die an mir vorbei laufenden Menschen betrachten? Vielleicht erkannte ich unter ihnen ja irgendwelche Wandler.

Aufmerksam sah ich die Leute um mich herum an. Ich versuchte möglichst nicht zu lange eine einzelne Person anzuschauen, um sie sich nicht unbehaglich fühlen zu lassen. Die meisten Leute, die an mir vorbei kamen, waren zu beschäftigt, um mich überhaupt zu bemerken. Manche warfen mir einen kurzen Seitenblick zu und ignorierten mich dann. Kleinkinder starrten mir besonders lange in die Augen und schienen bis tief in meine Seele zu blicken. Ich war jedes Mal erleichtert, sobald sie an mir vorbei waren. Aber wenn irgendwelche Wandler unter den Leuten waren, dann konnte ich sie nicht erkennen.

Leider vergingen nur etwa weitere fünf Minuten, bevor mich das Betrachten der Menschen irgendwie langweilte. Was sollte ich stattdessen tun? Doch rote Autos zählen? Noch während ich nachdachte, verschwamm die Umgebung vor meinen Augen. Was passierte hier? Wurde ich verrückt? Alles wurde schwarz und setzte sich nach und nach zu einem vollkommen neuen Bild zusammen. Mit mir stimmte etwas nicht. Ich spürte definitiv, dass ich noch saß, aber seltsamerweise stand ich hier.

„Serafina! Endlich kann ich jemanden erreichen", sagte eine erleichterte Stimme.

Überrascht weiteten sich meine Augen. Das konnte nicht echt sein. Träumte ich? Anders konnte ich mir nicht erklären, was ich sah - oder eher wen.

„Yunus?"

Yunus nickte glücklich und strich sich durch seine rotorangenen Haare. Sie erinnerten ein wenig an Feuer.

„Was machst du hier? Und wo ist hier?"

Erst jetzt sah ich mich richtig um in dem Raum, in dem wir uns befanden. Er war klein und hatte nur ein kleines, hochgelegenes Fenster, durch das Sonnenlicht hereinfiel. Es standen nur ein Bett, ein Regal mit Büchern, dessen Titel ich nicht identifizieren konnte, und ein kleiner Schrank in dem Zimmer. Nicht so begeisternd

„Ich habe keine Ahnung, wo ich hier bin. Du befindest dich eigentlich noch dort, wo du die ganze Zeit warst", antwortete Yunus.

„Dann wie ...?"

Ich deutete auf ihn und dann auf das Zimmer. Er schmunzelte leicht, riss sich aber wieder zusammen.

„Wusstest du nicht davon? Wandler können sich so untereinander kontaktieren."

Stimmt. Das hatte Rune bei mir gemacht, was schon eine gefühlte Ewigkeit her war, wie es mir vorkam.

„Ich dachte das funktioniert nur, wenn eine der beiden Personen schläft?"

„Nein. Wie du siehst geht es auch so", erwiderte er.

Interessant. Ich musste das auch lernen. Wäre in vielen Situationen bestimmt praktisch. Deshalb hatte Yunus es doch benutzt, er befand sich in einer kritischen Lage. Schließlich hatte man ihn entführt.

„Yunus, wo genau bist du?", erkundigte ich mich eindringlich.

„Ich habe ehrlich keine Ahnung. Die Typen, die mich geschnappt haben, müssen mir einen echt starken Schlag gegen den Schädel verpasst habe, weil ich mich nicht erinnern kann, wie ich hergekommen bin. Im einen Moment war ich noch in Fotein und im anderen bin ich plötzlich hier aufgewacht", erzählte Yunus schulterzuckend.

„Schön, dass es dir jetzt wenigstens einigermaßen gut geht. Akira und ich haben uns echt Sorgen gemacht, als wir erfahren haben, dass du auch verschwunden bist", seufzte ich.

Es gab also nicht wirklich einen Anhaltspunkt zu Yunus' Verbleib bis auf diesen Raum. Wie sollten wir ihn dann finden? Gab es denn keinen Hinweis? Hatte er denn nicht wenigstens seinen Angreifer kurz gesehen? Oder war er nicht wenigstens zwischendurch einmal aufgewacht und hatte gesehen, wo man ihn hinschleppte?

„Das braucht ihr nicht. Mir geht's ja -"

Yunus unterbrach sich und lauschte auf etwas, das ich nicht hören konnte. Plötzlich weiteten sich seine Augen erschrocken und er wandte sich schnell wieder mir zu.

„Wir haben nicht mehr viel Zeit. Hör mir jetzt gut zu, Serafina", begann er ernst. „Es gibt einen Spion in Fotein, der mit den Wandlern hier zusammenarbeitet ... steht Rune sehr nahe. Es ist ... vorsichtig sein ..."

Ich konnte ihn immer schlechter verstehen. Es war als würde unsere Verbindung gekappt werden, als würde etwas - oder jemand - das Signal stören.

„... keine andere Wahl ... ist wichtig ... Rune ... es sind nicht die -"

Alles verschwamm wieder vor meinen Augen. Ich konnte noch undeutlich erkennen, wie Yunus herumfuhr, dann wurde alles schwarz. Verdammt, warum konnte ich nichts dagegen tun? Irgendwie musste ich zurück gelangen. Yunus musste mir noch einmal erzählen, wer was war und wer nicht.

Nur wenige Sekunden später sah ich wieder das Blumenbeet, die vorbei eilenden Menschen und die Straße. Überrumpelt von dem plötzlichen Lärm und der Helligkeit, schloss ich die Augen. Was war da gerade passiert? Warum war die Verbindung mit Yunus auf einmal abgebrochen wie bei einem Telefonat? Hoffentlich war ihm nichts passiert. Ich musste sofort mit Rune sprechen und am besten auch mit Akira.

Leider hatte ich nicht mitbekommen, wer genau der Verräter war. Oder warum es keine andere Wahl gab. Und was überhaupt die Wahl war. Was hatte er am Ende sagen wollen? Es sind nicht die... Menschen? Forestchanger? Windchanger? Wahrscheinlich meinte er damit seine Entführer. Dass sie nicht wer-auch-immer waren.

Verdammt, warum hatte ich nicht früher nachgefragt?! Wir hatten über unwichtiges Zeugs geredet und als es drauf ankam, konnte ich die Wichtigsten Dinge nicht verstehen. Dieses Gespräch war fast schon umsonst gewesen!

„Serafina?"

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen und sah überrascht auf.

„Silvan!", rief ich erleichtert und erhob mich von der Steinkante.

„Es tut mir Leid, dass ich so spät bin. Mir ist noch etwas dazwischen gekommen, was ich leider nicht verschieben konnte", sagte er zerknirscht.

„Kein Problem."

Als wir uns auf den Weg machten zum nicht weit entfernten Café, sah ich auf mein Handy. Es war 15:47 Uhr. Wow, ich hatte mich schon eine Zeit lang mit Yunus unterhalten, ohne es zu merken. Aber so hatte ich eben glücklicherweise eine Beschäftigung gehabt, die mich vom Warten abgelenkt hatte. Und auch meine Langeweile war definitiv verflogen.

*

Silvans Handy klingelte. Mit einem entschuldigenden Blick in meine Richtung nahm er ab.

„Hallo?"

Die Stimme, die daraufhin anfing zu sprechen, kam mir bekannt vor. Es war Silvans Vater und er klang nicht gerade freundlich. Von dem ganzen Gespräch, das größtenteils von ihm geführt wurde, verstand ich nur ein Wort. Wie Silvans Vater es aussprach, war schon genug, um zu wissen, dass es nichts Gutes bedeutete. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, aber ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen. Schnell trank ich den letzten Schluck Cola in meinem Glas aus.

Als Silvan das Telefonat wenige Sekunden später beendete, hatte sich sein Gesicht deutlich verdüstert. Er war tief in Gedanken versunken, bis ihm etwas einfiel, was ihn noch düsterer drein schauen ließ.

„Alles in Ordnung?", erkundigte ich mich vorsichtig.

„Ja, alles gut. Mein Vater will nur, dass ich sofort nach Hause komme", seufzte Silvan.

Noch immer klang mir das eine Wort im Ohr: Morgen. Was sein Vater damit wohl meinte?

„Ich begleite dich noch ein Stück."

Bereitwillig stand ich auf und versuchte das ungute Gefühl zu unterdrücken, das in mir hochkroch.

„Das musst du nicht, wirklich", sagte Silvan und stand ebenfalls auf.

Da wir schon fertig gegessen und auch gezahlt hatten, war es kein Problem, jetzt sofort zu gehen. Ich antwortete ihm mit einem Doch und ging voraus zum Ausgang. Wir liefen die Straße entlang und nahmen dann eine „Abkürzung" durch den Park - ich glaubte Silvan nicht so recht deswegen. Dadurch wurde der Weg nicht wirklich kürzer, wenn nicht sogar länger. Aber dafür war es ruhiger im Park und es waren auch nicht so viele Menschen unterwegs.

„Es tut mir echt Leid, dass ich nicht länger bleiben kann", erklärte er zerknirscht.

„Ist kein Problem."

Ich lächelte ihm zu, um ihm das schlechte Gewissen zu vertreiben. Er lächelte zurück und blieb stehen.

„Ich muss hier rechts lang, aber für dich wäre der linke der schnellere Weg. Ich will dich nicht länger aufhalten."

„Das tust du nicht. Vielen Dank, Silvan, für den schönen Nachmittag."

Silvan fuhr sich leicht verlegen durchs Haar und grinste. Ich verabschiedete mich mit einem Wir sehen uns in der Schule und wollte schon gehen, als er mich am Arm zurückhielt.

„Hör mal, Serafina", fing er ernst an.

Seine grünen Augen begannen irgendwie ein inneres Leuchten auszustrahlen und ließen meine nicht mehr los. Er machte einen Schritt auf mich zu, ohne dabei den Blick abzuwenden.

„Ich mag dich wirklich sehr gerne."

Mit diesen Worten beugte Silvan sich vor. Seine Lippen berührten flüchtig die meinen, was bei mir ein Kribbeln im Bauch auslöste. Noch bevor ich überhaupt richtig begriff, was gerade passierte, war es auch schon vorbei und Silvan gegangen.

Mehrere Sekunden stand ich auf derselben Stelle und konnte mich nicht wegbewegen. Was war da gerade passiert? Hatte Silvan mich ehrlich geküsst? Vorsichtig berührte ich meine Lippen. Der Kuss war leicht gewesen wie ein Windhauch und genauso schnell wieder verschwunden.

Hätte er nicht so dringend weg gemusst wegen seines Vaters, vielleicht... Moment. Sein Vater. Dieser gruselige Typ im Wald. Was hatte Silvan damals im Wald zu tun gehabt? Warum jagte mir dieses eine Wort, das sein Vater am Telefon gesagt hatte, kalte Schauer über den Rücken? Was meinte er damit? Morgen? Was sollte da geschehen?

Aber warum interessierte es mich? Vielleicht meinte er auch nur einen Familienausflug? Es hatte bestimmt nichts mit mir zu tun, sicherlich nicht. Doch weshalb hatte ich dann so ein mulmiges Gefühl bei der Sache? Wieso sagte mir mein Bauchgefühl, dass etwas ganz Schlimmes passieren würde? Ich würde es wohl oder übel erst morgen erfahren. Vorbereiten konnte ich mich sicher nicht. Vielleicht täuschte ich mich auch und hatte etwas Unsinniges hinein interpretiert. Vielleicht aber auch nicht...

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top