24. Fürchtet den Waschbär

Gegen Silvan hatte der Waschbär überhaupt keine Chance. Nicht mal annähernd. Aber er hatte ihn noch gar nicht bemerkt, sondern war nur auf mich fokussiert.

Er umklammerte mein Bein, was mich daran erinnerte, was Ryan und ich vor Jahren immer bei unserem Vater gemacht hatten. Wir setzten uns auf seine Füße und ließen uns so durch das ganze Haus transportieren.

„Was zum -"

Silvan starrte den Waschbären an, als wäre dieser ein Alien und gerade aus einem Ufo gesprungen.

Ich schüttelte kräftig mein Bein, was dazu führte, dass der Waschbär durch die Luft flog, sich weiterhin an mich festklammernd. Mein Beinschütteln verstärkte sich noch, doch noch immer hing er daran. Nach ein paar Sekunden setzte ich meinen Fuß wieder auf den Boden. Plötzlich sah der Waschbär zu mir hinauf und fing an, an mir hoch zu klettern.

Bevor ich auch nur reagieren konnte, hatte Silvan das Tier am Nackenfell gepackt und zog es von mir weg. Zappelnd und quietschend beschwerte sich der Waschbär über diese „Unverschämtheit". Da Silvan ihn nicht verstand, reagierte er auch nicht auf die Drohungen, die der Waschbär kurz darauf ausstieß.

„Ich werde dich finden und dann wirst du das hier bereuen! Du wirst dir wünschen, dich nie mit mir angelegt zu haben! Ich werde dir dein Gesicht zerkratzen!", rief er.

„Verschwinde", sagte Silvan langsam, aber deutlich, und sah dem Wandler durchdringend in die Augen.

Auf einmal quiekte der Waschbär laut auf und verdeckte seine Augen mit den Pfoten. Verwirrt sah ich zu, wie Silvan ihn absetzte. Das Tier schoss davon, als hätte es einen eigenen Raketenantrieb.

„Der ist ja schnell", murmelte ich. „Vielen Dank, Silvan."

Ich lächelte ihn an.

„Kein Problem."

Er grinste und zwinkerte mir gleichzeitig zu. Verlegen wandte ich mich ab.

„Gehen wir zurück?"

„Ja, ich bringe dich nach Hause", beschloss er und lief los.

Als wir den Park verlassen hatten, dauerte es ein bisschen, bis wir ein Taxi fanden. Aber schließlich fuhren wir wieder auf der Straße. Nachdenklich sah ich aus dem Fenster. Warum war der Waschbär so schnell abgehauen? Was hatte ihn an Silvan so erschreckt? Oder mochte er es einfach nicht, wenn man ihm in die Augen sah?

Haus um Haus, Straße um Straße zogen an mir vorbei. Was, wenn Silvan ein Forestchanger war und der Waschbär ihn deswegen verstanden hatte? Wenn er wusste, dass ich ebenfalls ein Wandler war? Würde er dann nicht wissen, dass ich ihn anlog? Aber warum sagte er dann nichts? Die Fragen in meinem Kopf überschlugen sich und jagten sich gegenseitig. Es dauerte eine Weile, bis ich wieder etwas Ordnung in meinen Schädel bekam.

Mein Blick schweifte zu Silvan neben mir, der entspannt aus dem Fenster sah. Seine grünen Augen schienen wie Smaragde zu leuchten, als hätten sie eine eigene kleine Lichtquelle. Wahrscheinlich war es nur das Sonnenlicht, das sich in ihnen spiegelte, aber für mich wirkte es trotzdem wunderschön.

Nein, er war kein Forestchanger oder überhaupt ein Tierwandler, bestimmt nicht. Sonst hätte er längst etwas gesagt.

Das Taxi hielt nicht weit entfernt von mir Zuhause. Wir stiegen aus und Silvan zahlte, was ich aber nur am Rande wahrnahm. Die anderen Wandler, waren sie noch hier? Hatten sie Ma und Ryan angegriffen? War irgendetwas Schlimmes passiert? Oder sorgte ich mich einfach zu viel?

„Ist etwas?"

Silvan legte mir eine Hand auf die Schulter und sah mir eindringlich in die Augen. Ich öffnete den Mund. In diesem Moment hätte ich ihm alles erzählt. Von den Seachangern, den ganzen anderen Wandlern, die mich tot sehen wollten, meine bisherigen Abenteuer im Meer, einfach alles.

Bevor auch nur ein Wort meinen Mund verließ, ertönte wieder die Stimme, die meinen Tod befohlen hatte.

„Wir sollen uns zurückziehen. Alles einstellen, das Mädchen soll am Leben bleiben. Noch."

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich hoffte, dass sie nicht allzu bald wieder den Befehl bekamen, mich zu töten, auch wenn heute eigentlich nichts Schlimmes passiert war. Der Waschbär war einfach nur lächerlich gewesen.

„Komm, deine Mutter wartet bestimmt schon", sagte Silvan und zog mich zur Haustür.

Kurz nachdem die Klingel ertönte, öffnete sich die Tür und Ma schaute mich erleichtert an.

„Da bist du ja endlich", seufzte sie.

„Wir waren gar nicht lange weg, Ma. Die Sonne geht auch jetzt erst unter", erwiderte ich und verdrehte die Augen.

Meine Mutter ignorierte mich und wandte sich stattdessen dankbar an Silvan.

„Ich danke dir, Silvan, dass du auf meine Tochter aufgepasst hast."

Ich wollte sofort einwerfen, dass er nicht auf mich „aufgepasst" hatte, aber Silvan kam mir zuvor:

„Das habe ich doch gerne getan, Frau Atkins. Tschüss, Serafina, wir sehen uns morgen in der Schule."

Mit einem letzten Lächeln, das ich automatisch erwiderte, verabschiedete er sich und schlenderte über den Bürgersteig. Einen Augenblick sah ich ihm nach, dann betrat ich hinter meiner Mutter das Haus.

Sobald sich die Tür geschlossen hatte, fragte sie:

„Ist etwas Merkwürdiges passiert? Waren irgendwelche Tiere hinter dir her?"

Ich versuchte gelassen zu wirken, um ihr besorgtes Gesicht nicht noch besorgter zu machen, aber ich war nicht sehr überzeugend. Wie schafften es Buchcharaktere immer, dass man ihnen ihre wirklichen Gefühle und Meinungen nicht sofort ansah? Vielleicht sollte ich das vor dem Spiegel üben, auch wenn es für andere vermutlich ziemlich dämlich aussehen musste.

„Na ja, ein Waschbär ist mir in den Weg gesprungen und hat wahrscheinlich versucht mich anzugreifen, aber Silvan hat ihn verjagt. Und vielleicht, ganz vielleicht, habe ich auch die Stimme von anderen Wandlern gehört, die mich umbringen wollen, aber das -"

„Was?!"

Schockiert starrte Ma mich an. Ich lachte zögernd.

„Es ist nichts Schlimmes. Wahrscheinlich hab ich mich -"

Nichts Schlimmes?! Wandler wollen dich umbringen und das nennst du nichts Schlimmes?!"

Meine Mutter regte sich immer mehr auf. Nichts, was ich sagte, konnte sie beruhigen.

„Was ist denn los?", ertönte die Stimme meines Vaters aus dem Wohnzimmer.

„Ma regt sich wegen Kleinigkeiten auf", rief ich zurück.

„Wegen Kleinigkeiten?!", empörte sich Ma. „Das sind doch keine Kleinigkeiten!"

Pa gesellte sich zu uns in den Flur und sah von mir und meiner Mutter hin und her.

„Wie wär's, wir klären das in einem gesitteten Gespräch mit einer Tasse Tee", schlug er vor und geleitete uns ins Wohnzimmer.

Wenige Minuten später saßen wir zu dritt nebeneinander auf der Couch, jeder mit einer Tasse Früchtetee in der Hand. Ich nahm einen Schluck und stellte die Tasse dann auf den Tisch vor mir ab.

„Gut, worüber habt ihr denn gestritten?"

Mein Vater sah mich und Ma nacheinander an. Er wirkte etwas erschöpft, was vermutlich daran lag, dass er gerade erst von der Arbeit gekommen war.

„Andere Wandler wollen Serafina umbringen und einer hat es sogar schon versucht. Außerdem laufen diese potenziellen Mörder noch hier irgendwo herum", zählte meine Mutter auf und warf mir einen besorgten Blick zu.

Stimmt, mein Vater durfte davon wissen. Er war schließlich ein Eingeweihter. Ob ichRyan auch einfach so alles erzählen durfte oder musste man so etwas beantragen?

„Mach dir keine Sorgen, Evelyn. Wenn sich auch nur einer hier herein traut, muss er erst an mir vorbei."

Mein Vater stand auf und stellte sich breitbeinig hin.

„Dann würde ich ihn so packen", er tat so, als würde er nach jemandem greifen, „und wieder aus dem Haus werfen."

Pa schwang das unsichtbare Lebewesen durch die Luft und ließ es dann los, sodass es in Richtung der Haustür flog.

„Auf dich ist Verlass, Pa", lachte ich.

„Das ist nicht zum Scherzen."

Empört nahm Ma einen Schluck von ihrem Tee.

„Die Wandler haben sich schon längst zurück gezogen. Sie sind weg", versuchte ich meine Mutter wieder zu beruhigen.

„Sag das doch", seufzte sie.

Müde lehnte sich Ma auf der Couch zurück und rieb sich über das Gesicht. Mein Vater setzte sich zurück neben sie und legte ihr einen Arm um die Schultern. Leise verließ ich das Wohnzimmer und schlich die Treppe hinauf.

Als ich mein Zimmer betrat, zog ich mich schnell um und legte mich ins Bett. Fast sofort schlief ich ein, was mich überrascht hätte, wenn ich mich daran im Schlaf erinnert hätte.

*

„Serafina?"

Verwundert schlug ich die Augen auf. Es war dunkel um mich herum, ich konnte nur Schemen ausmachen. Mein Körper bewegte sich nur sehr langsam, als wäre ich unter Wasser. Moment...

Ich fuhr herum und sah vor mir einen Schwarzhai. Es war Rune, da war ich mir sicher.

„Was ist passiert?", fragte ich alarmiert.

Nervös knetete ich meine Finger. War etwas mit Akira oder Yunus? Hatten die Forestchanger wieder angegriffen? Oder schlimmer, war etwas in Fotein geschehen? Mit den Bewohnern?

„Es gibt ein Problem. Dorian und Nero sind verschwunden. Du und Akira waren die letzten, die sie gesehen haben. Weißt du etwas?"

„Wie jetzt weg? Sind sie nicht mehr im Meer?"

„Es gibt keine Spur von den beiden. Als wären sie nie da gewesen", antwortete Rune düster.

„Wurden sie entführt?", wollte ich wissen.

Unwahrscheinlich. Wie sollte ein Land- oder Luftwandler einen Fisch aus dem Meer bekommen, der sich in mindestens zehn Metern Tiefe aufhielt?

„Wir vermuten es. Aber es war keiner der Forest- oder Windchanger", sagte er ernst.

Wenn keiner von ihnen es war, wer dann? Oder waren Dorian und Nero etwa in ein Fischernetz geraten? Das wäre schlecht. Sie dann noch zu finden und zu retten wäre fast unmöglich.

„Wer war es denn dann?"

Rune sah mich aus ernsten Augen an.

„Ich glaube, wir haben einen Spion in unseren Reihen. Und deshalb musst du mir helfen, Serafina."

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