22. Keine zwei Tage und ich werde erwischt... Ich sollte Spionin werden

Erschöpft schlurfte ich auf die Eiche zu und sah an ihrem Stamm hinauf. Es würde anstrengend werden, sie hinauf zu klettern. Aber vorne rein konnte ich nicht, sonst würde Ma direkt wissen, dass ich heute weg gewesen war.

Ich seufzte. Verteidigung konnte echt schwer sein. Besonders wenn man nicht einmal Hände hatte, die man abwehrend heben könnte, sondern nur Flossen.

Akira ließ mich erst wieder meine Wendigkeit trainieren und als ich das einigermaßen konnte, zeigte sie mir Techniken zur Verteidigung und anderem. Darunter auch Ausweichmanöver. Diese sollte ich lernen, indem ich Fischen auswich, die in Höchstgeschwindigkeit auf mich zu schossen. Dorian und Nero lachten fast ununterbrochen über meine anfangs kläglichen Versuche, den Fischen zu entkommen.

Nach und nach funktionierte es zwar besser, aber getroffen wurde ich trotzdem. Jetzt, nach dieser Quälerei, schmerzte mein ganzer Körper. Bestimmt hatte ich unzählige blaue Flecken.

Müde zog ich mich am ersten Ast der Eiche hoch und hielt kurz inne, um mich ein wenig auszuruhen. Die Sonne war schon vollständig untergegangen, was bedeutete, dass ich wohl das Abendessen verpasst hatte.

Mein Magen fing an zu knurren, als ich am nächsten Ast hochkletterte. Ich würde mich in die Küche schleichen und mir was zum Essen machen. Ein Brötchen oder so. Ryan würde mir bestimmt helfen und Ma solange ablenken.

Ich balancierte den letzten Ast entlang und drückte vorsichtig mein Fenster auf. Mit einem Satz sprang ich von der Fensterbank, streifte meine Schuhe ab und schmiss mich in das Bett. Mein Kopf versank im weichen Kissen. Das Essen konnte auch noch warten, gerade war das Bett so bequem...

Plötzlich ging die Tür auf und das Licht wurde angemacht. Schritte näherten sich mir. Verwundert hob ich den Kopf und sagte:

„Ryan?"

Aber es war nicht mein Bruder. In meinem Zimmer stand meine Mutter und sie wirkte nicht erfreut über meinen Anblick. Was vielleicht auch daran liegen konnte, dass sich ein Ast in meinen Haaren befand.

Hinter ihr stand Ryan im Schlafanzug und sah mich entschuldigend an.  Dann sah er wieder auf den Boden. Schnell richtete ich mich in meinem Bett auf.

„Ma ..."

„Wo warst du?", fragte sie aufgebracht und stemmte die Hände in die Hüften.

„Ich ... äh", stotterte ich.

Mein Blick schweifte zu Ryan, der mit seinen Lippen ein Tut mir Leid, ich konnte sie nicht länger aufhalten formte. Es konnte aber auch Hast du noch Kekse? Ich habe meine schon auf bedeuten. Ich war nicht gut im Lippenlesen.

„Ryan, geh schon in dein Zimmer. Ich möchte das allein mit Serafina besprechen", wandte sich Ma an meinen Bruder.

Ryan nickte, warf mir noch einen aufmunternden Blick zu und verschwand dann aus meinem Zimmer.

Nein, bleib hier!, rief ich ihm in Gedanken hinterher. Lass mich nicht mit Ma allein. Aber natürlich hörte er mich nicht und kam auch nicht zurück. Leider.

„Du warst wieder dort, oder?"

Ma sprach das dort aus, als wäre es irgendein ekliges Insekt, das sie von ihrem Essen entfernen musste. Das erinnerte mich daran, dass ich ziemlich großen Hunger hatte.

„Also na ja, nicht ganz", sagte ich.

Meine Mutter wartete, dass ich weiter sprach.

„Ich war zwar im Meer, du weißt schon, aber nicht in Fotein. Wirklich, ich schwöre es", fügte ich noch schnell hinzu.

„Serafina, ich möchte dir nicht verbieten, nach draußen zu gehen. Ich möchte dich doch nur schützen!"

„Indem du mich einsperrst?"

Ich biss mir auf die Lippe. Das hätte ich nicht sagen dürfen. Ma  vergrub ihr Gesicht in den Händen und atmete zitternd ein.

„Ich möchte nicht, dass du stirbst. Ich will nicht, dass dir dasselbe passiert wie meinem Vater - deinem Großvater", erklärte sie und sah mir dabei fest in die Augen.

„Dasselbe wie meinem Großvater...?"

Was meinte sie? Was war meinem Großvater denn passiert? ... Oh.

„Er wurde ermordet", brachte Ma hervor, bevor sie aufschluchzte.

Tränen liefen ihr übers Gesicht und tropften auf den Boden. Meine Mutter weinte, was mir irgendwie seltsam vorkam. Ich meine, Erwachsene weinten doch gefühlt nie, jedenfalls hatte ich es nur selten bei ihnen beobachtet. Dagegen weinten Kinder ja fast ununterbrochen.

Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Sollte ich sie trösten? Aber wie? Sie in den Arm nehmen, den Rücken tätscheln und sagen, dass alles gut war? Vermutlich nicht.

Unbeholfen stand ich auf und umarmte meine Mutter und versuchte in irgendeiner Weise tröstend zu sein.

„Er ha-atte überhaupt kei-ine Chance", schluchzte Ma.

„Schhhhh", versuchte ich sie zu beruhigen.

Es ist alles gut zu sagen, wäre wahrscheinlich ein Fehler. Schließlich war es ja eben nicht gut, ihr Vater wurde getötet. Aber was konnte ich denn stattdessen sagen?

„Sie hatten A-angst vor seiner Macht, deshalb haben si-ie ihn umgebracht. Und jetzt wo-ollen sie die anderen zwei Rei-iche auslöschen."

„Aber woher willst du das wissen? Du warst doch jahrelang nicht mehr in Fotein und hast dich aus dem allen rausgehalten. Vielleicht -"

Ich unterbrach mich selbst. Die Forestchanger wollten Krieg. Sie hatten bereits den Freund von Will, dem Pottwal, umgebracht. Und den Trichanger - meinen Großvater - Aetius auch.

„Spürst du es nicht?"

Plötzlich war Ma ganz ruhig. Eine ernste Miene lag auf ihrem Gesicht, mit der sie mich eindringlich betrachtete.

„Was soll ich spüren?", fragte ich verwirrt zurück.

„Die Feindseligkeit der Forestchanger - der Waldtiere", antwortete sie. „Der Bär, der uns angegriffen hat, war sicher kein normaler. Er muss gewusst haben, dass wir Seachanger sind. Dass du der nächste Trichanger bist", fügte Ma nachdrücklich hinzu.

„Und was bedeutet das jetzt...?"

„Sie haben dich gefunden. Und das vermutlich nicht erst seit letzter Woche. Die Forestchanger müssen dich überwacht haben und schlagen jetzt zu, weil sie glauben, du hättest dich auf die Seite der Seachanger geschlagen."

„Was? Ich habe mich auf überhaupt keine Seite geschlagen! Ich hab ja bis vor Kurzem gar nicht mal gewusst, dass es Seachanger gibt!"

Aufgebracht lief ich in meinem Zimmer auf und ab. Bedeutete das jetzt etwa, dass mich die Forestchanger töten wollten? Moment, hatte Rune nicht etwas in dieser Richtung gesagt? Dass mich sehr viele der anderen beiden Reiche tot sehen wollten?

„Bitte geh nicht mehr ins Meer", flehte Ma mich an, „Bleib hier, zu Hause. Versuch, da irgendwie wieder raus zu kommen."

„Das geht nicht."

Meine Mutter verzog traurig das Gesicht.

„Ich lerne doch gerade, mit meiner anderen Gestalt umzugehen. Wie es ist, als Meeresbewohner", sagte ich.

„Was ist, wenn sie dich erwischen, während du auf dem Weg zum Meer bist? Wenn sie dich dort töten?"

Töten. Dieses Wort hallte unnatürlich in mir wider. Ich wollte definitiv nicht sterben. Aber ich wollte auch nicht in Angst leben oder nie mehr das Haus verlassen. Mich nie mehr verwandeln.

„Ich werde aufpassen. Und notfalls kann ich mich doch in einen Vogel verwandeln und wegfliegen, oder?"

Wenn ich es überhaupt schaffte, mich zu verwandeln.

„Dann sei ... sei vorsichtig", sagte Ma.

Sie drückte mich fest an sich und ließ mich auch für mehrere Sekunden nicht los.

*

Nervös schaute ich auf mein Handy und erwartete fast, dass es klingeln würde. Aber das tat es nicht. Hatte Silvan nicht kommen wollen? Vielleicht sollte ich ihn anrufen. Konnte es sein, dass er schon im Café wartete und vergessen hatte, dass er mich abholen wollte?

„Was ist los? Du wirkst irgendwie ... hungrig", fand Ryan und hüpfte neben mich auf mein Bett.

„Hungrig? Warum sollte ich hungrig sein?"

„Na, du hast die Kekse doch an mich abgegeben, also hast du nichts mehr zum Essen. Dementsprechend müsstest du einen Riesenkohldampf haben."

Er sah mich erwartungsvoll an. Vermutlich wartete er auf eine Zustimmung meinerseits.

„Du kannst mir die Kekse auch gerne zurückgeben, wenn du findest, dass ich sie dringender nötig habe als du", schlug ich vor.

Erschrocken weiteten sich Ryans Augen.

„Was? Ich habe nie davon gesprochen, dass du sie dringender brauchst als ich. Ich habe nur gesagt, dass du sie brauchst."

Grinsend schüttelte ich den Kopf und wollte noch etwas sagen, als die Türklingel durch das Haus hallte. Sofort sprang ich auf und rannte zur Zimmertür, was mir einen fragenden Blick von Ryan bescherte.

Ich flog schon fast die Treppe runter - nur fast, sonst würde ich vermutlich einen harten Aufprall haben - und rannte durch den Flur zur Eingangstür. Sobald ich sie erreicht hatte, öffnete ich sie.

Vor mir stand Silvan, ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht.

„Hallo Serafina", begrüßte er mich und schien noch mehr zu lächeln.

„Silvan! Da bist du ja", sagte ich erfreut.

Ich befürchtete, es war ein bisschen sehr übertrieben. Es musste für ihn so klingen, als hätte ich die ganze Zeit auf ihn gewartet, ohne dabei etwas anderes zu tun.

„Wer ist denn da?", fragte meine Mutter aus der Küche.

Mein Vater war noch arbeiten. Er blieb in der Woche meistens lange weg und kam erst später am Abend nach Hause.

„Es ist Silvan", antwortet ich ihr.

Kurz darauf stand sie neben mir und sah Silvan nachdenklich an. Als würde sie überlegen, was er wohl hier mache.

„Guten Tag, Frau Atkins", sagte er höflich zu meiner Mutter. „Ich bin hier, um Ihre Tochter abzuholen."

„Und ihr beiden wollt wohin?"

Jetzt sah meine Mutter mich misstrauisch an.

„Ins Café, Ma", antwortete ich leicht genervt.

Sie würde mich doch sicher gehen lassen, oder? Sie würde gar nicht erst daran denken -

„Vielleicht bleibst du doch besser zu Hause."

Fassungslos starrte ich Ma an. Das meinte sie doch nicht ernst!

„Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Atkins. Ich werde gut auf Serafina achtgeben. Sie wird keine Dummheiten machen, das verspreche ich", wandte sich Silvan an meine Mutter.

Sie zögerte einen Moment, doch dann stimmte sie zu und wünschte uns viel Spaß. Ma verschwand im Haus und schloss die Tür hinter sich.

Wow, wie überzeugend ist Silvan eigentlich?, fragte ich mich.

„Dann gehen wir mal", schlug Silvan vor und grinste.

Er lief voran zum Taxi, das ein wenig entfernt geparkt hatte. Bevor wir einstiegen, hörte ich eine Stimme.

„Geht jetzt und erfüllt eure Aufgabe. Es darf euch keiner sehen."

Verwirrt sah ich mich um, aber da war niemand. Jedenfalls kein Mensch. Schnell stieg ich ins Auto und schloss die Tür. Als der Taxifahrer den Motor startete, ertönte die Stimme ein weiteres Mal.

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und ich meinte, in Silvans Augen Besorgnis aufblitzen zu sehen, aber das bildete ich mir wahrscheinlich nur ein.

„Findet das Mädchen", knurrte die Stimme, „und tötet es."

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