17. Silvan, mein fester Freund - warte was? Ryan!
Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Mittlerweile war es Abend geworden und ich hatte immer noch nicht bei meiner Mutter angerufen. Ob sie sich Sorgen machte? Bestimmt.
„Was ist los? Du siehst ziemlich besorgt aus", stellte Silvan fest.
Ich nickte nur abwesend mit dem Kopf. Was wenn meine Mutter die Polizei gerufen hatte, weil ich gestern Abend nicht nach Hause gekommen war? Vielleicht hätte ich sie wenigstens heute Morgen anrufen können. Einmal kurz, um ihr zu sagen, dass es mir gut ging.
„Liegt es an mir?"
Silvans glänzend grüne Augen bohrten sich in meine, aber ich nahm es gar nicht richtig war. Ein weiteres Mal nickte ich in Gedanken versunken.
Was Ryan wohl gemacht hatte, als er gemerkt hatte, dass ich nicht da war? Hoffentlich sorgte er sich nicht zu sehr. Ich sollte zurück gehen. Aber... Noch wollte ich Ma nicht unter die Augen treten.
„Wirklich? Bin ich so schlimm?", erkundigte sich Silvan erneut.
„Hm-hm", antwortete ich ihm.
Trotzdem, es wurde Zeit, nach Hause zurückzukehren. Hätte ich doch bloß mein Handy mitgenommen! Dann könnte ich kurz anrufen und Bescheid sagen. Ich würde mich einfach jetzt auf den Weg machen.
Stirnrunzelnd schob ich meine Gedanken zur Seite und konzentrierte mich auf die Umgebung. Warum wirkte Silvan auf einmal so traurig? War etwas passiert?
„Äh... Alles in Ordnung?"
Unsicher knetete ich meine Finger und versuchte die aufkommende Nervosität niederzudrücken. War jemand gestorben? Verletzt? Hatte man ihm etwa Schokolade gestohlen?
„Es ... ist nichts", sagte er leicht bedrückt.
Mir fiel ein, was er gefragt hatte. Ich hatte ihn komplett ignoriert und nur genickt! Du bist ein Idiot, schalt ich mich. Wie kannst du so unfreundlich gegenüber dem sein, der dir geholfen hat?
„Oh Gott, Silvan! Es tut mir Leid! Das war nicht ernst gemeint, ehrlich! Ich war nur mit den Gedanken woanders gewesen und hab dir nicht richtig zugehört."
„Schon gut", winkte er ab.
Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, seine Augen leuchteten.
„Nein, wirklich. Wie kann ich das wieder gutmachen?"
Aus dem Lächeln wurde ein Grinsen. Ich hoffte, dass er auf keine zweideutigen Gedanken kam. Ansonsten würde ich ihm eine reinhauen.
„Du gehst morgen mit mir Eis essen."
Silvan sagte es, als wäre es schon längst beschlossen.
„Gut", antwortete ich und tat so, als wäre mir die Entscheidung schwergefallen.
„Wo das geklärt ist... Möchtest du mir deine Sorgen anvertrauen?"
„Es geht um Ma. Ich denke, es wäre besser gewesen, ihr Bescheid zu sagen, dass es mir gut geht. Bestimmt macht sie sich Sorgen und hat schon wer weiß was gemacht, um mich zu finden."
Zögernd blickte ich in sein Gesicht. Es war ernst. Vermutlich würde nun das kommen, was ich eigentlich schon die ganze Zeit erwartet hatte: Silvan würde mich nach Hause schicken.
„Willst du sie anrufen?
Oder auch nicht.
„Vielleicht wäre es besser, wenn ich nach Hause gehe", brachte ich hervor, auch wenn ich nicht so wirklich wollte.
Dennoch. Es war Zeit. Ich konnte schließlich nicht für immer bei Silvan wohnen bleiben.
„Wenn du nicht willst, kannst du gerne noch eine Nacht hier verbringen."
Fast schon hoffnungsvoll sah er mich an, aber vermutlich interpretierte ich seinen Blick falsch. Vielleicht meinte er damit auch einfach: Ich will nur höflich sein. Bitte geh weg und bleib da auch. Komm hier nicht wieder heulend an, das ist lächerlich.
„Ich denke, ich sollte wirklich gehen."
Ich bleibe gerne, dachte ich und begrub den Gedanken schnell unter meinen Sorgen, damit ich ihn nicht aussprechen konnte.
„Aber ... könntest du eventuell mitkommen?", fragte ich vorsichtig und blickte auf meine Füße.
Einen Moment war es still und man konnte nur unser beider Atem hören. War das ein Nein? Wollte er es gar nicht, überlegte aber, wie er es mir freundlich sagen konnte?
Ein paar Sekunden vergingen. Als ich es nicht mehr aushielt - manchmal war ich so ein ungeduldiger Mensch! -, sah ich auf.
„Natürlich komme ich mit", sagte Silvan voller Inbrunst.
Es schien, als hätte das eine Last von mir genommen. Jetzt musste ich meiner Mutter nicht allein gegenüber treten. Wenn sie sich erst einmal versichert hatte, dass es mir gutging, würde sie wütend werden darüber, dass ich gestern einfach abgehauen war.
„Danke. Dann machen wir uns wohl besser gleich auf den Weg."
*
„Klingelst du oder soll ich?", erkundigte sich Silvan.
Nervös atmete ich tief ein und aus. Es war doch nur ein Gespräch gewesen, kein Grund, nicht mehr nach Hause zu kommen. Und es war auch nur ein Tag, den ich weg gewesen war. So wütend würde Ma schon nicht werden...
„Ich mach wohl."
Als ich auf den Knopf neben der Tür drückte, ertönte ein schriller Laut aus dem Haus. Eigentlich wollten wir die Klingel auswechseln, da die jetzige einen ziemlich durchdringenden Ton hatte.
Die Tür schwang auf. Ryan stand im Türrahmen und riss die Augen auf, als er mich sah.
„Fina!"
Er warf sich mir in die Arme und drückte sein Gesicht gegen meine Schulter.
„Wieso bist du gestern nicht zu Hause gewesen? Und heute morgen auch nicht?", fragte er mich.
„Ich erklär's dir, aber später", erwiderte ich und strich ihm über den Kopf.
Seine blauen Augen glänzten spitzbübisch, während er Silvan musterte.
„Da ist ja dein Freund", flüsterte er laut, sodass auch Silvan ihn verstehen konnte.
Dieser lachte leise. Meine Wangen röteten sich und ich warf schnell ein:
„Er ist ein Freund."
„Warst du deshalb nicht zu Hause? Hast du mit ihm... Hrmpf? Hrm!"
Ich hielt Ryan den Mund zu, bevor er weitersprechen konnte. Bestimmt hätte er sonst so etwas gesagt wie Geknutscht oder was auch immer Zwölfjährige sagten.
„Geh einfach Ma holen, ja?"
Erst als mein Bruder ergeben nickte, ließ ich ihn los und hoffte, er würde seinen vorigen Satz nicht beenden.
„Maaaaaammmmaaaaa! Fina ist wieder daaaaa!", rief Ryan ins Haus.
Man könnte ihn, wenn er so schrie, bestimmt bis nach Fotein hören. Oder noch tiefer im Meer.
Wenige Sekunden später kam meine Mutter heraus und schloss mich in die Arme.
„Serafina, ich hab mir solche Sorgen gemacht! Du hast recht, ich hätte es dir sagen sollen. Es war einfach so, dass die - Oh, wer ist denn das?"
Ma löste ihre Arme von mir und schaute neugierig zu Silvan.
„Ma, das ist Silvan. Er ist mein -"
„FESTER FREUND!", unterbrach mich Ryan.
„...Klassenkamerad", beendete ich meinen Satz und warf meinem Bruder einen finsteren Blick zu.
Er kicherte und verschwand dann im Haus.
„Hallo, Silvan. Ich bin Serafinas Mutter, wie du vielleicht schon gemerkt hast."
Meine Mutter streckte ihre Hand aus, die Silvan schüttelte.
„Schön, Sie kennenzulernen, Frau Atkins", sagte er höflich.
Woher kannte er meinen Nachnamen? Ich wüsste nicht, wann ich ihn erwähnt haben könnte. Vielleicht hatte einer der Lehrer mich mal mit ihm aufgerufen, auch wenn ich mich daran nicht mehr erinnerte.
„Und jetzt zu dir, Serafina. Wie konntest du gestern Abend einfach verschwinden?! Du hast mich nicht einmal angerufen oder Bescheid gesagt, dass es dir gut geht!"
Ich hatte ja geahnt, dass das kommen würde.
„Geben Sie Serafina nicht die Schuld", mischte sich Silvan ein, „sie war einfach nur durcheinander und brauchte etwas Zeit für sich. Außerdem ist ihr nichts passiert, oder?"
„Ja, da hast du recht. Aber ich habe mir wirklich ziemlich große Sorgen gemacht", warf Ma ein.
„Ich denke, das wird nicht noch einmal vorkommen, oder, Serafina?"
„Ich werde nicht mehr einfach so abhauen, ohne dir Bescheid zu sagen, Ma", stimmte ich ihm zu.
„Na gut."
Meine Mutter seufzte und fuhr sich durch ihre rotbraunen Haare. In diesem Moment wirkte sie irgendwie alt und erschöpft.
„Wo hast du denn eigentlich geschlafen?", erkundigte sie sich.
Oh, nein. Sie würde es bestimmt falsch verstehen.
„Also, ähm, Silvan hat mir angeboten, bei ihm zu schlafen ... in einem anderen Zimmer natürlich ... es war ja ziemlich kalt in der Nacht ... ich wollte nicht zurück nach Hause ... du musst dir keine Sorgen machen und so ...", stotterte ich.
„Schon gut", lachte Ma. „Dann möchte ich mich bei dir bedanken, Silvan, dass du auf meine Tochter aufgepasst hast."
„Gern geschehen."
Ich warf Silvan einen zutiefst dankbaren Blick zu, den er mit einem Grinsen quittierte.
„Ich mach mich dann mal auf den Weg. Wir sehen uns, Serafina."
„Äh, tschüss."
Ich ging hinter meiner Mutter ins Haus. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, drehte sie sich zu mir um und sah mich schelmisch an.
„Er sieht ziemlich gut aus, dieser Silvan."
„Ma!", rief ich entrüstet.
„Habt ihr zusammen...?"
Sie wackelte mit den Augenbrauen, was ich bei meiner Mutter nicht erwartet hätte. Es brachte mich nur dazu, mich noch mehr zu schämen.
„Nein! Und jetzt hör auf mit diesen Fragen, Ma!", sagte ich empört.
Ich konnte mich zwar in einen Hai verwandeln, aber im Boden versinken konnte ich nicht. Leider...
Die Erinnerungen an meine gestrigen Erlebnisse strömten wieder in meinen Kopf. Ich musste noch immer drei verfeindete Reiche vereinen, ohne dabei draufzugehen.
„Ich denke, wir als Familie müssen alle mehr Zeit miteinander verbringen. Wir machen morgen einen Ausflug! Das wird lustig", entschied Ma fröhlich.
Bitte keinen Familienausflug. Ich mochte so was nicht, sicher nicht. Das letzte Mal war zwar etwas her - ein Jahr -, aber ich erinnerte mich noch gut daran, dass meine Eltern mich ausgefragt hatten. Ob ich einen festen Freund hatte, schon mein erstes Mal, einfach alle privaten Fragen, die ihnen eingefallen waren!
Ich hasste Familienausflüge, da würde dieser bestimmt nicht besser sein.
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