15. Essen ist das beste Trostmittel
Vorsichtig hob ich meinen Kopf und sah in ein Paar leuchtend grüne Augen. Noch immer wurde mein Körper von Schluchzern geschüttelt und meine Sicht war leicht verschwommen. Als ich zum Sprechen ansetzte, fing ich sofort wieder an zu weinen. Vermutlich hielt mich Silvan jetzt für eine Heulsuse, aber ich konnte nichts dagegen machen.
„Schhhhh", versuchte er mich zu trösten, „alles ist gut."
Silvan legte seine Arme um mich und drückte mich fest an seine Brust. Sein Duft nach Kiefernadeln und Wald umhüllte mich, aber da war noch etwas. Ich glaubte, es war ... Lavendel? Eine ganze Weile saßen wir so da, er hielt mich fest und ich weinte mich an seiner Brust aus. Es war eine Erleichterung jetzt einfach loszulassen.
Irgendwann versiegten meine Tränen und ich löste mich schniefend von ihm. Er hielt mich weiterhin fest, auch als ich verlegen den Kopf senkte.
„T-ut mir Leid. Ich... Es war n-ur..."
„Kein Problem."
Silvan lächelte mich an, woraufhin mir sofort warm wurde.
„Danke", hauchte ich.
„Was ist denn überhaupt passiert?"
„Meine Mutter hat m-ich mein ganzes L-eben belogen."
„So schlimm?", fragte er.
Ich nickte lediglich, da sich noch immer leise Schluchzer einen Weg aus mir bahnten. Wir schwiegen einen Augenblick und Silvan half mir, aufzustehen.
„Ich bringe dich nach Hause, ja?"
„N-ein! Ich will jetzt nicht zurück", protestierte ich sofort.
Ich konnte meiner Mutter noch nicht unter die Augen treten. Sie hatte mir ernsthaft meine Fähigkeit, mich in ein Tier zu verwandeln, verschwiegen, was mich fast umgebracht hatte. Auch wenn ich ihr damit etwas Unrecht tat, schließlich hatte sie nicht wissen können, wann ich mich verwandeln würde. Trotzdem wollte ich nicht zurück. Noch nicht. Ich würde einfach hier in der Bucht bleiben und alleine sein.
„Und wo willst du dann schlafen? Es ist schon längst dunkel geworden", erwiderte Silvan und deutete in den Himmel.
Tatsächlich. Der Mond war bereits aufgegangen und man sah keinen einzigen Schimmer von der gerade untergegangenen Sonne.
„Ich weiß nicht. Vielleicht bleibe ich einfach hier."
„Tagsüber ist es zwar warm, aber in der Nacht kann es noch ziemlich kühl werden. Du willst sicher nicht nach Hause?", erkundigte er sich erneut.
„Ganz sicher nicht. Ich schlafe einfach hier, so kalt ist es doch gar nicht."
Ich merkte, wie ich zu zittern anfing. Schnell versuchte ich es zu verbergen, aber Silvan hatte es schon bemerkt. Mit einer schnellen Bewegung hatte er seine schwarze Wolljacke ausgezogen und mir über die Schultern gelegt. Jetzt trug er nur noch ein T-Shirt wie ich.
„Aber sonst wird dir kalt", warf ich ein.
„Das ist kein Problem", winkte er sofort ab.
Nachdem das letzte Wort verklungen war, zog ich seine Jacke fester um mich. Sie war schön warm und roch nach ihm. Plötzlich durchbrach ein tiefes Lachen die Dunkelheit. Überrascht sah ich auf, als Silvan sich nicht mehr einkriegte. Seine weißen Zähne blitzten in der Dunkelheit auf.
„Was ist denn so lustig?", grummelte ich.
„Nichts, nichts. Aber nächstes Mal nimmst du die Jacke einfach entgegen", antwortete er belustigt.
„Wenn du meinst..."
Für einen kurzen Moment standen wir einfach nur still da. Im Hintergrund hörte man das leise, stetige Rauschen der Wellen und das leise Pfeifen des Windes. Ich konnte meinen Blick nicht von Silvan abwenden. Jetzt, wo ich so nah vor ihm stand, konnte ich erkennen, dass seine Augen nicht völlig grün waren, sondern sich auch kleine goldene Sprenkel in ihnen befanden. Ich spürte ein leichtes Kribbeln in meinem Bauch und mein Herz pochte ein Stück schneller. Er trat einen Schritt auf mich zu. Sein intensiver Blick fuhr mir durch Mark und Bein.
Auf einmal wandte Silvan ruckartig seinen Blick ab und schüttelte kaum merklich den Kopf. Was war das eben gewesen? Schnell trat ich einen Schritt von ihm weg.
„Du übernachtest heute bei mir", sagte er schließlich.
„Was?"
„Wenn du deine Meinung nicht geändert hast und da ich nicht will, dass du hier in der Kälte schläfst, kommst du eben mit zu mir. Oder willst du jetzt doch zurück zu dir nach Hause?"
Vehement schüttelte ich den Kopf. Nein, ich wollte nicht zurück. Aber ist es wirklich so eine gute Idee, mit Silvan mitzugehen?, meldete sich eine leise Stimme in meinem Kopf. Er würde mir schon nichts tun.
„Gut, ich komme mit zu dir", sagte ich und folgte Silvan aus der Bucht.
*
Nachdem wir die halbe Stadt durchquert hatten, um zu ihm zu gelangen, ließ ich mich erschöpft auf der Couch nieder. Glücklicherweise war Callor eher Dorf als Stadt, sodass wir nur knapp zehn Minuten gebraucht hatten. Warum war er überhaupt in der Bucht gewesen, obwohl er doch weiter weg wohnte?
„Meine Eltern sind gerade nicht da. Fühl dich also bitte wie zu Hause", sagte Silvan und schlenderte zu einem gigantischen Kühlschrank.
„Willst du etwas trinken oder essen?"
Bevor ich auch nur einen Ton hervorgebracht hatte, knurrte mein Magen laut.
„Also nur, wenn es dir keine Umstände bereitet", sagte ich schnell.
Er grinste.
„Was möchtest du denn?"
Lautlos öffnete er die Kühlschranktür und sah mich fragend an.
„Ist egal. Das, was du da hast."
„Willst du Toast?"
„Gerne."
Ich stand auf und wollte ihm helfen, aber Silvan winkte nur ab.
„Setz dich einfach schon mal auf die Couch. Ich mach alles."
„Aber ich kann dir helfen", widersprach ich.
„Ich versuche dich gerade zu trösten, also lass mich tun, was ich tun muss."
Bestimmt schob er mich zurück ins Wohnzimmer und drückte mich auf die Couch, wo ich dann auch blieb. Silvan hatte ein schönes Haus. Es war nahe am Wald und sah von außen gemütlich aus. Die Einrichtung war nicht einfach da, um das Haus zu füllen, sondern um es bequem wirken zu lassen. In dem Moment, in dem ich das Haus betreten hatte, war ich sofort entspannt gewesen.
Plötzlich hörte ich ein Geräusch und zuckte zusammen. Silvan lachte los. Es war nur der Toaster gewesen. Was war daran bitte so lustig, wenn ich mich erschreckte?
„Was möchtest du auf den Toast haben?", erkundigte sich Silvan.
„Ich weiß nicht, was du da hast. Käse oder so?"
Wenige Sekunden später stellte Silvan einen Teller mit zwei Toast vor mir ab, die belegt waren mit Käse und Schinken. Es war perfekt, mehr brauchte ich nicht. Vermutlich hätte ich in diesem Augenblick alles gegessen - jedenfalls fast alles.
„Tee?"
„Ja, bitte", antwortete ich mit vollem Mund.
Grinsend schenkte mir Silvan eine Tasse ein. Warum grinste er die ganze Zeit? Was war so lustig? Hab ich was im Gesicht?
„Was ist?", grummelte ich schließlich, als ich es nicht mehr aushielt.
„Nichts. Es ist nur lustig, wie du alles in dich hineinstopfst. Als stündest du kurz vor dem Verhungern."
Ich stopfte alles in mich hinein? Vielleicht sollte ich besser kleinere Bissen nehmen.
*
Nach dem Essen half ich Silvan, das Geschirr abzuwaschen und wegzuräumen. Danach zeigte er mir das Gästezimmer und das Bad nebenan. Da ich ja keinen Schlafanzug dabei hatte, lieh er mir eines seiner T-Shirts. Auch eine nagelneue Zahnbürste fand er in einer der Schränke im Bad, nachdem er angestrengt danach gesucht hatte.
Als ich endlich fertig war, löschte ich das Licht im Badezimmer und lief in das Gästezimmer. Schnell schlüpfte ich unter die Bettdecke und kuschelte mich in das Kissen. Kurz darauf schaute Silvan noch einmal vorbei.
„Schlaf gut, Serafina."
„Gute Nacht", erwiderte ich und unterdrückte ein Gähnen.
Er war gerade dabei, die Tür zu schließen, als ich ihn zurückhielt.
„Warte."
„Ja?"
„Danke, Silvan", sagte ich einfach.
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Dann schloss er die Tür. Nur wenig später war ich auch schon in einen tiefen, traumlosen Schlaf geglitten.
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