1. Albtraum und Hailächeln - fast dasselbe
Zwei Jahre später
Ein Schrei riss mich aus dem Schlaf. Müde rieb ich mir über die Augen. Was war denn los?
Ich hörte ein leises Schluchzen aus dem Nebenzimmer. Ryan. Er musste wieder einen Albtraum gehabt haben. Sofort sprang ich aus dem Bett und lief in den Flur. Dann klopfte ich an seine Tür.
„Ryan?"
Das Schluchzen stoppte und es wurde still. Kurzer Hand öffnete ich die Tür und trat ein. Im Zimmer war es dunkel, bis auf einen blassen Schimmer, der durch das Fenster hereinschien. Die Sonne würde bald aufgehen.
Ryan saß aufrecht auf seinem Bett und sah mich aus schreckgeweiteten Augen an. Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, setzte ich mich vorsichtig neben ihn. Sanft nahm ich ihm das Kissen aus der Hand, das er fest umklammerte.
„Was ist passiert?", fragte ich.
Mein Bruder schluckte und fing an zu zittern. Ich nahm ihn in den Arm. Haltsuchend klammerte er sich an mich und fing an zu sprechen.
„Ich w-war wieder dort. A-am Meer. Und d-da war auch der H-hai. Er griff mich an u-und sagte etwas."
Bei der Erinnerung an den Albtraum, zitterte Ryan noch mehr. Tränen der Angst rannten seine Wangen hinab.
„Schhhht. Alles ist gut. Das war nur ein Traum", versuchte ich ihn zu trösten.
Vehement schüttelte er den Kopf.
„Er fühlte sich real an. Realer als alle anderen."
Besorgt runzelte ich die Stirn. Reichte es denn nicht, dass er ein Trauma hatte? Musste er jetzt auch noch verrückt werden? Wieso musste das Leben so grausam sein?
„Vielleicht hast du dich getäu-"
„Nein! Ich bin mir sicher. Ich war tatsächlich dort. Nur nicht körperlich", widersprach mir Ryan.
Jetzt hatte er den Verstand verloren. Wäre er jünger, hätte ich das vielleicht als Spiel aufgefasst, aber mit zwölf Jahren war er für so etwas definitiv zu alt. Er wusste, dass ich mir Sorgen um ihn machte. Ich gab mir an seiner Verfassung die Schuld. Hätte ich ihn vor zwei Jahren nicht allein gelassen, wäre es bestimmt nie so weit gekommen. Hätte ich direkt nach ihm Ausschau gehalten. Wären wir doch bloß nicht ins Wasser gegangen.
„Fina? Hörst du mir überhaupt zu?"
Ryan hob seinen Kopf und schaute mich aus tiefblauen Augen an. Schnell schob ich meine Selbstvorwürfe beiseite und widmete ihm meine volle Aufmerksamkeit.
„Ich? Äh, ja... Was hast du gerade gesagt?"
Leichte Röte stieg in meine Wangen, was man im Dunkeln zum Glück nicht erkennen konnte. Ryan verdrehte die Augen und setzte erneut an.
„Der Hai hat gesprochen. Mir gedroht."
„Was hat er denn gesagt?"
Langsam wurde ich neugierig, dennoch überwog die Sorge um Ryans geistige Gesundheit.
„Wir sollen uns vom Meer fernhalten. Besonders du. Er drohte, wenn einer von uns das Meer noch einmal betreten sollte, würden wir das bereuen. Dann hat er zugebissen", erzählte Ryan.
Ich war für einen Moment sprachlos. Armer Ryan. Er durfte das nicht noch jemandem erzählen, sonst würde er definitiv für verrückt abgestempelt werden. In der Schule wurde er sowieso schon gemobbt, wegen seinen Fantasien und der Dinge, die er sah, die aber gar nicht wirklich existierten - vor einem Jahr hatte er behauptet, er hätte einen Mann gesehen, der sich in eine Möwe verwandelt hatte -, den Besuch eines Psychologen konnte er nicht gebrauchen.
„Hör mal, Ryan."
„Hm?"
„Versprich mir, dass du es sonst niemandem erzählst, ja?"
„Na gut. Ich versprech's."
Erleichtert seufzte ich auf.
„Versuch jetzt zu schlafen. Du musst schließlich fit für die Schule heute sein. Morgen ist dann Wochenende."
„Bleibst du dann noch bei mir?", fragte er und sah mich flehentlich an.
Während ich noch mit mir rang, hatte ein Teil von mir schon längst eine Entscheidung getroffen. Diesen Augen konnte man einfach nichts abschlagen.
„Wenn es sein muss."
Ich legte mich neben Ryan und zog die Decke über uns. Er kuschelte sich an mich und schlief kurz darauf ein. Sein gleichmäßiges Atmen beruhigte mich. Trotzdem lag ich noch lange wach und verfluchte den Tag, an dem Ryan fast gestorben war. Auch sein Albtraum gab mir zu denken. Schließlich schlief ich doch ein.
*
„Hai!"
Der Ruf schallte über den ganzen Strand. Panische Leute rannten umher und stießen sich gegenseitig zur Seite. Ich stand zwischen ihnen und suchte den Platz ab. Wo war Ryan?
Plötzlich stand ich in knietiefem Wasser. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Sie waren alle geflohen. Ich drehte mich um und sah Ryan nur wenige Meter von mir entfernt stehen. Das Wasser ging ihm bis zur Brust.
„Fina! Hilfe!", schrie er immer wieder.
Ich watete so schnell wie möglich auf ihn zu, aber er schien sich nur noch weiter zu entfernen.
„Ryan! Pass auf!"
Eine graue Flosse durchschnitt das Wasser und kam zielstrebig auf ihn zu. Der Hai packte ihn und zerrte ihn tiefer ins Meer. Mit aller Macht kämpfte ich mich vorwärts, um ihm zu helfen.
Im nächsten Moment war Ryan verschwunden und ich schwamm im offenen Meer. Es war kein Land oder Schiff in Sicht. Wo war Ryan hin? Auf einmal packte mich etwas am Fuß und zog mich unter die Wasseroberfläche. Ich trat um mich und versuchte mich zu befreien. Es brachte nichts. Immer tiefer wurde ich hinunter gezogen. Bald schon erkannte ich die Oberfläche nur noch anhand des leichten Lichtschimmers. Doch auch dieser verblasste und mich umgab völlige Dunkelheit. Meine Lungen wurden eng, ich brauchte Luft. Das Etwas zog mich noch immer in die Tiefe. Ich sah herab und schaute in zwei schwarz glänzende Augen. Der Hai, der Ryan angegriffen hatte. Er ließ mich los und ich sank noch ein Stück herab, bevor ich mich mit kräftigen Schwimmzügen an die Wasseroberfläche zu kämpfen versuchte. Ich kam kein Stück voran und hörte auf, meine Energie unnötig zu verschwenden. Das Gefühl, nach Luft schnappen zu müssen, wurde immer präsenter. Panisch drehte ich mich um und sah wieder in die schwarzen Augen. Sie bohrten sich tief in meine. Wie schon einmal. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden.
„Du hast viele Feinde, Serafina."
Sprach der Hai da etwa mit mir? Wie war das möglich? Das konnte nicht real sein, das musste ein Traum sein. Meine Fantasie ging wirklich mit mir durch.
„Halte dich fürs Erste vom Meer fern. Zu deinem Besten. Es gibt viele Meeresbewohner, die dich tot sehen wollen. Und nicht nur Meeresbewohner. Hüte dich."
Der Hai sah mich eindringlich an und wollte schon davonschwimmen, aber ich hielt ihn zurück.
„Warte. Wer bist du? Und wieso sagst du mir das alles?"
„Ich bin ein Hai, wie man sieht."
Er grinste und zeigte Reihen messerscharfer Zähne. Es war ziemlich gruselig.
„Aber wenn du mit der Frage eigentlich beabsichtigt hast, meinen Namen herauszufinden, so will ich dir eine Antwort geben. Mein Name ist Rune. Zu deiner zweiten Frage, ich warne dich, denn ich will, dass du am Leben bleibst. Du musst. Bald wirst du den Grund kennen."
„Warum hast du meinen Bruder angegriffen und in seinen Träumen bedroht?"
Ich kam mir komplett bescheuert vor. Ich unterhielt mich in einem Traum mit einem Hai.
„Es war eine Warnung. Eine Abschreckung."
Der Hai verschwand und ich blieb zurück. Tief atmete ich ein und aus. Moment, ich atmete?! Unter Wasser? Wie war das möglich? Obwohl... Es war doch ein Traum, also warum nicht?
Ich versuchte dem Hai hinterherzuschwimmen, aber weit kam ich nicht. Vor mir tauchte plötzlich ein Riesenkrake auf. Sein Auge war gigantisch. Er schlang seine Arme um mich und drückte zu. Ich schrie auf. Die Saugnäpfe waren messerscharf und bohrten sich tief in meine Haut.
Ich fuhr aus dem Schlaf und versuchte mich noch immer zu befreien, bis ich bemerkte, dass ich mich nur in der Decke verheddert hatte. Schnell warf ich einen Blick auf die Uhr. Es war 6:47 Uhr. Ryan war bereits aufgestanden, denn seine Hälfte war leer. Ich befreite mich von der Decke, stand auf und ging nach unten, um zu frühstücken.
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