4

"Rue!" Tränenüberströmt rennt Viola ins Zimmer, in das die Friedenswächter mich gebracht haben und schlingt ihre Arme um mich. Ihr folgen meine anderen Schwestern und auch meine Eltern. Wir haben nur ein paar Minuten Zeit uns zu verabschieden. "Rue meine Kleine, du kannst das schaffen! Du bist flink und klug", sagt meine Mutter und umarmt mich weinend. "Ich glaube an dich!" Mein Problem ist nur, dass ich selber nicht an mich glaube.

Ich habe bisher kein Wort gesagt, habe versucht den Schock zu verarbeiten. Doch jetzt rollt eine warme Träne über meine Wange und ihr folgen viele mehr. "Rue, du wirst gewinnen!", schluchzt meine kleinste Schwester Blossom. So gerne würde ich ihr glauben, aber ich weiss, dass ich keine Chance habe. Nicht die geringste! Meine ganze Familie umarmt mich, als plötzlich ein Friedenswächter eintritt. "Verabschiedungszeit zu ende!" Er will mich fortzerren. "Nein, neiiin!", schreit Viola hysterisch. " Kümmer dich um alle während ich weg bin!", rufe ich ihr zu. "Ich hab euch alle lieb!" Da schletzt der Friedenswächter mir die Tür vor der Nase zu und trennt mich von meiner Familie. Sehrwahrscheinlich für immer.

Die Kapitolfrau, meine Betreuerin, holt mich ab und bringt mich zum Auto, dass uns zum Bahnhof von Distrikt 11 fährt. Im Auto sitzt bereits Tresh. Tiefe Trauer betrübt mich. Ausgerechnet mit ihm muss ich ihn die Spiele. Elisia, so stellt sich meine Kapitolbetreuerin vor, schwärmt uns vom Kapitol. "Alles ist wunderschön dort! Freut euch!" Doch weder ich noch Tresh freuen uns. Wir sitzen schweigend da und denken über unseren nahestehenden Tod nach. Ich bin mir nämlich sicher, dass ich eh keine Chance habe zu gewinnen. Ich bin erst zwölf und ausserdem könnte ich es nicht über mich bringen, einen Menschen zu töten. "Aussteigen!", flötet Elisia fröhlich. Wir steigen aus dem Auto und befinden uns am Bahnhof von Distrikt 11. Elisia scheucht uns sofort in einen Zug. Mir verschlägt es den Atem, als ich den Waggon betrete. So etwas prächtiges habe ich noch nie gesehen. Auf einem gedeckten Tisch sind schön angeordnete Speisen, so viel wie ich noch nie gesehen habe, und in der Ecke zwei weiche Samtsofas. Sofort lasse ich mich auf eines fallen und sinke fast ein. So weich! Behutsam fahre ich mit dem Finger über den blauen Stoff. Tresh setzt sich neben mich. Seit wir gezogen wurden haben wir kein Wort miteinander gewechselt.

"Ich hole eure Mentoren", sagt Elisia und verschwindet durch eine automatische Schiebetür in einem anderen Waggon. Kurz darauf kommt sie wieder zurück, gefolgt von einem Mann und einer Frau, beide noch ziemlich jung. Der Mann stellt sich als Lay vor und die Frau als Myra. Ich finde beide sofort sympathisch. Myra ist sehr zierlich und schlank. 'Und sie hat trotzdem gewonnen', denke ich mir. Ich versuche mich selbst aufzumuntern, was mir misslingt.

"Toll euch kennenzulernen", sagt Myra und lächelt. "Nimm es nicht persönlich, aber ich hätte lieber auf deine Bekanntschaft verzichtet, als jetzt hier zu sein". Der Satz rutsch mir einfach heraus und sofort bereue ich es. Ich sollte nett sein zu meiner Mentorin, es ist schliesslich nicht ihre Schuld. Und sie wird mir in der Arena ganz nützlich sein, ich sollte es echt nicht verbocken. "Es, es tut mir leid", stammele ich. Elisia schnaubt entrüstet, aber Myra schaut mich einfach verständnisvoll an. Erst jetzt realisiere ich, dass sie vor einpaar Jahren sehrwahrscheinlich genau in der gleichen Situation war, getrennt von ihrer Familie, ihr Schicksal besiedelt, wie sie dachte. Aber sie hat es geschafft, sie ist zurückgekommen. Und das werde ich nicht.

Alle verlassen den Waggon, bis ich alleine bin. Ich schaue aus dem Fenster des Zugs. Die bekannte Landschaft von Distrikt 11 rast an mir vorbei, die Felder und Gärten, bis plötzlich ein Wald erscheint. Wir haben meinen Heimatsdistrikt verlassen. Ich kann die Tränen nicht mehr unterdrücken, in leisen Bächen fliessen sie. Vor meiner Familie wollte ich meine Schwäche nicht zeigen, ich wollte stark sein um ihnen Hoffnung zu machen, obwohl ich sie selbst nicht habe. Ich hätte ihnen noch so viel sagen wollen, ich hätte die wenige Verabschiedungszeit nutzen sollen, aber stattdessen war ich die Hälfte einfach Stumm, versunken in meinem Schock. Ich sehe in Gedanken ihre Gesichter, voller Trauer und Sorge. Und es schmerzt mich, das ich sie so verletze, indem sie mich verlieren.

Meine Augen sind starr auf die Landschaft gerichtet. Plötzlich spüre ich eine warme Hand auf meinen Schultern. Es ist Tresh. Tröstend nimmt er mich in den Arm, sagt aber nichts. Und dafür bin ich ihm dankbar. Denn was helfen mir Sätze wie "es wird schon alles gut werden", wenn ich doch weiss, das es das eh nicht sein wird?

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top