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Wie ein Eichhörnchen flitze ich den höchsten Baum im Feld von Distrikt 11 hinauf. Ich bin ziemlich geschickt im Klettern, sehrwahrscheinlich das einzige neben singen, das ich gut kann. Oben auf dem Baumwipfel erspähe ich die hellblaue Flagge, die den Feierabend ankündigt. Ich pfeife eine viertönige Melodie, die von den Spotttölpel über den ganzen Obstgarten verbreitet wird. So weiss jeder im Distrikt, dass jetzt Feierabend ist. Die Melodie ist schon uralt, mein Vater hat mir erzählt, dass sie schon vor Panem existierte und zu einem ganzen Lied gehörte. Allerdings ist nur dieser kleine Fetzen davon übrig, nicht mal die Ältesten im Distrikt wissen das vollständige Lied.
Ich klettere wieder hinunter und mache mich auf den Weg nach Hause. So mache ich das jeden Tag. Arbeiten, Feierabend verkünden, nach Hause gehen. Das ich 'Feierabend-Verkünderin' bin ist ein glücklicher Zufall. Vor drei Jahren, als ich noch nicht den ganzen Tag arbeiten musste, spielte ich mal wieder mit meinen besten Freunden, den Spotttölpeln, in den Bäumen. Ich sprang von Baum zu Baum, so wie ich es von ihnen gelernt hatte und sang mit ihnen. Dabei wurde ich vom obersten Friedenswächter beobachtet, dem diese Idee mit dem Feierabendverkünden einfiel. Er versprach mir und meiner Familie etwas mehr Nahrung zu geben, wenn ich den Job erledigte. Für das, dass ich ihm ein Teil seiner Arbeit erledige, ist die Extraportion ziemlich mickrig. Aber beklagen kann ich mir nicht leisten. Ich muss für meine kleinen Geschwister sorgen. Mein Vater und meine Mutter arbeiten auch, doch es reicht nicht um die ganze Familie zu versorgen. Distrikt 11 ist ziemlich arm, von der Ernte bekommen wir fast nichts. Den ganzen Tag lang arbeiten ist angesagt, dazu die strengen Friedenswächter vom Kapitol, die kein Mitleid haben. Somit wächst der Hass auf unseren Präsidenten Snow, der an allem Schuld ist. Und ich wette das ist nicht nur in 11 so.
Meistens gebe ich meinen kleinen Schwestern meine Portion Essen und gehe hungrig ins Bett. Ich fühle mich für sie verantwortlich, für ihr Wohlergehen würde ich alles tun.
"Hallo Rue!" Viola erwartet mich bereits an der Tür. Sie ist die zweitälteste nach mir. Ich begrüsse sie und wir gehen zu zweit auf die Wiesen rund um Distrikt 11 und suchen nach Essen. Ein paar Beeren, Nüsse, Wurzeln. Es ist nicht viel, aber wenigstens etwas das unsere knurrenden Bäuche beruhigt. Zumindest für einige Zeit. Da ich, die älteste von sechs Kindern, noch nicht zwölf bin kann ich micht nicht für Tesserasteine eintragen lassen. Meine Mutter würde es mir zwar nicht erlauben, aber ich könnte heimlich hingehen und mich eintragen lassen. Mein Name ist dann mehr in der Kugel, aber was bringt es, den Spielen möglichst zu entgehen, wenn man dabei vor Hunger stirbt?
Ganz Distrikt 11 verabscheut die Spiele. Ich selbst kann es nicht fassen, wie grausam die Kapitolsleute sind und an diesem 'Spektakel' Gefallen finden. 23 unschuldige Kinder die ermordet werden, Jahr für Jahr...
In einem Monat ist es wieder so weit. Der Tag der Ernte...
"Rue", unterbricht Viola mich in meinen Gedanken, " ich habe Angst!" "Wo vor den?", frage ich sanft. Viola ist erst gerade elf geworden. Sie ist im Gegensatzt zu mir eine sehr ruhige und schüchterne Person, aber die beste Schwester, die man sich vorstellen kann. Sie kommt zu mir und legt ihre gesammelten Beeren in den Korb. "Bald ist der Tag der Ernte..." Sie stockt und schaut bedrückt zu Boden. "Du bist doch erst elf", versuche ich sie zu ermutigen und lächle. "Ich schon, du aber bist dann schon zwölf", sagt sie traurig und ihre Augen werden feucht. Ich schlucke unbemerkt. Nur einpaar Tage vor der Ernte werde ich zwölf und mein Name wandert zum ersten Mal in die Lostrommel. Aber es ist ein Zettel unter Tausenden. Die Wahrscheinlichkeit ist so gering, eigentlich sollte ich mir keine Gedanken machen, oder? Und trotzdem bleibt der Kloss in meinem Hals und die ständige Angst, die immer zunimmt je mehr wir uns dem schrecklichen Tag nähern, lässt mich viele unruhige Nächte verbringen. Ich nehme meine Schwester in den Arm und streiche zärtlich über ihre schwarzen Locken. "Ach komm schon, sie werden wohl kaum meinen Namen ziehen. Ich bin doch zum ersten Mal dabei", flüstere ich und versuche meine Zweifel möglichst zu verbergen. Hätte ich damals gewusst, wie falsch ich lag...
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Hey, das war mein erstes Kapitel. Ich hoffe natürlich, dass ihr weiterlest, denn es werden nicht einfach nur die Hungerspiele aus Rues Sicht beschrieben. Lasst euch überraschen! :)
lg
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