Kapitel 7

Der Zug hält an. "Winken, Kinder, winken!" hören wir Elinas Stimme. Ich komme mir fehl am Platz vor, als ich zaghaft eine Hand hebe und zu winken beginne. Ich stelle mir gerade Melanie vor, wie sie weint und sich an meine Mom presst, die sie sanft zu beruhigen versucht. Irgendwann schüttele ich den Kopf, so als könnte ich die unerträglichen Gedanken loswerden, und trete vom Fenster zurück. "Bald werden wir im Kapitol ankommen," erklärt Elina Thresh und mir. "Ihr werdet so begeistert sein von der Größe und der Pracht..." Sie stößt einen unüberhörbaren Seufzer aus und blickt uns beide an. "Solltet ihr nicht etwas essen?" Sie deutete auf das Büffet, die zahllosen Köstlichkeiten, die keiner von uns beiden angerührt hat. "Keinen Hunger", murmelt Thresh leise. "Wisst ihr was? Ihr sollt' prachtvoll für das Kapitol ausehen! Eure Stylisten werden etwas Passendes für euch bereit legen, okay?" Ohne auf eine Antwort zu warten, nickt sie zufrieden und setzt sich in einen Samt-Sessel in der Nähe des Esstisches. Ich kann nicht mit ansehen, wie sie sich Trauben und viele andere köstliche Dinge auf ihren Teller häufte, sondern verziehe mich augenblicklich in mein Zimmer. Dort lasse ich mich auf das Bett mit den seidenen Decken fallen und starre lange die Decke an, unendlich lange, bis mir die Augen schließlich doch zufallen.

Ich werde vom plötzlichen Stocken des Zuges geweckt. Ich seufze. Wir waren im Kapitol angekommen. Es klopfte an meiner Tür. "Ja?" "Du musst aufstehen wir sind da, endlich, stehe doch bitte auf, Schätzchen!" Es war Elina. Natürlich. Ich schließe noch ein paar Minuten lang die Augen, dann erhebe ich mich aus meinem Bett und schaue in den Schrank, in dem die Sachen hängen, die die Stylisten für mich ausgesucht haben. Es gibt ein pinkes Kleid mit roter Schleife, ein violettes Kleid mit grünen Knöpfen und ein goldbraunes Kleid mit blauen Mustern darauf. Ich entscheide mich für das goldbraune, dazu suche ich mir silberne Schuhe aus und lasse mich noch einmal kurz auf mein Bett fallen. Ich würde mich am liebsten auflösen, einfach verschwinden, unsichtbar werden. "Ruuuuuue! Kommst du bitte? Wir warten schon auf dich!" Ich springe schnell auf und renne aus meinem Zimmer, den langen Gang entlang und schlittere zu Elina und zu Thresh, der sich für einen weißen Anzug und braune Schuhe entschieden hatte. "Das Kapitol, meine Lieben! " Sie breitet die Arme aus und deutet aus dem Fenster, und ich muss zugeben, dass sie wirklich nicht übertrieben hat. Thresh starrt mit offenen Mund hinaus und das kann ich ihm nicht verübeln. Riesige Paläste bauen sich vor unseren Augen auf. Es ist so riesig und prächtig und gewaltig, das wir es kaum fassen können. Ich muss mich erst einmal keuchend setzten. "Ich sehe, es beeindruckt euch", sagt Elina sichtlich zufrieden. Sie streicht sich eine ihrer widerspenstigen schwarzen Locken aus dem Gesicht und blickt mit ihren strahlend grünen Augen nach draußen. Sie ist ungewöhnlich wenig geschminkt für diesen "besonderen" Tag, denke ich. Elina nickt Thresh, zu der immer noch mit offenen Mund dasteht. "Du kannst dich auch setzen, Tresh. Esst doch etwas. In der Zeit werde ich mich schminken!" Ich muss mir auf die Lippen beißen, um nicht zu schmunzeln. Das war eben Elina!

Elina kommt herein gerannt. Sie hat ihre Locken jetzt unter einer roten Perücke versteckt, ihre Schminke ist grell und auffallend; blaugrüner Lidschatten, knallroter Lippenstift, grau glitzernder Nagellack. Dazu noch pinke Stöckelschuhe und ein ausladenes, silbernes Kleid mit weißer Spitze. Der Zug ruckelt wieder und ich kralle mich in den Sessel. Elina wirft mir ein aufmunterndes Lächeln zu. "Wir sind da, Liebes. Du darfst aussteigen." Thresh scheint etwas überrascht, genauso wie ich. "Im Kapitol, wir aus 11?" Elina stößt ein hysterisches Lachen aus. "Man merkt, das ihr in 11 nicht groß herurumgekommen seid; jeder Teilnehmer kommt zuallerst ins Kapitol!" Sie unterdrückt ein Lächeln, als sie Threshs skeptischen Blick sieht;"Selbst die aus 11!" Ich stehe zögerlich auf. "Na dann", meine ich. Bevor ich aus dem Zug auch nur einen Fuß setzen kann, zieht Elina mich zurück. "Achte auf deine Gehweise!", ermahnt sie mich. "Du kannst hier nicht so tollpatschig herumstapfen wie in deinem Distrikt, ihr solltet versuchen, einfach einen Fuß vor den anderen zu setzen! Eleganz! Kopf nach oben! Lächeln, ja sehr schön, zeig deine Zähne! Und du Thresh, ein richtiger Gentleman schaut eine schöne Lady nicht nur einfach an, er fragt nach ihrer Hand!" Thresh errötete, da sie bemerkt hatte, dass er einen Blick auf das Mädchen mit den blonden Locken, im Zug hinter ihnen geworfen hatte. "Du Rue, kannst jetzt gehen, aber ja nicht vergessen: Haltung bewahren und lächeln, lächeln!" Ich wende mich ab und trete aus den Zug. Ich blicke mich nach Thresh um, der wie gebannt an den Lippen von, ja, richtig, von dieser Glimmer hängt, während sie etwas zu ihrem Mitstreiter sagt. "Ich sage dir, Marvel, wenn ich diese Hungerspiele nicht gewinne, dann ziehe ich mich wie ein Mann an!" Mit eleganten Schritt stolziert sie eingehakt mit Marvel an uns vorbei. "Aber natürlich, meine Zuckerschnecke!"sagt Marvel, genauso an ihren Lippen hängend wie Thresh. Da fällt es mir wieder ein: wir sollten uns einhaken! Ich laufe zu Tresh hinüber und hake mich bei ihm ein. "Wie oft soll ich dir das noch sagen, Marvel? Ich bin nicht deine Zuckerschnecke!", höre ich die Stimme von Glimmer. Die Art wie sie spricht, scheint für Jungs wirklich anziehend zu sein, aber ich nenne es arrogant. Ich bin sehr froh, dass ich die Karrieros aus Distrikt 1 nun etwas besser einschätzen kann. Jetzt gehen die aus 2 an uns vorbei. Cato ist geradezu ein Muskelpaket und wartet vermutlich nur darauf, sich in das blutige Gemetzel stürzen zu können. Clove, die mit erhobenen Kopf neben ihm geht, wird vermutlich auch eine Gefahr für mich werden. Ich schlucke. Während ich in Gedanken versunken war, hat Thresh mich einfach mit gezogen, er folgt den Karrieros. "Eine richtige Lady lässt sich nicht einfach von einem Gentleman mitschleifen!", höre ich in Gedanken Elinas Stimme und gehe schnell und so beherrscht wie möglich mit einem unsicheren Lächeln neben Thresh her. Da wir mir etwas bewusst: "Tresh, warte! Wir müssen doch gar nicht zu den Karrieros!", zische ich ihm zu. "Still", knurrt er zurück und verbirgt sich hinter einem Zug. Mein Herz pocht wie verrückt. Weiß er überhaupt, was wir da gerade riskieren? Clove, Cato, Glimmer und Marvel stehen sich zu viert gegenüber. "Ihr wisst was unser Motto ist!" meint Cato mit seiner tiefen Stimme. "Töten, töten, töten!" sagt Glimmer sofort und bleckt die Zähne. Dann trittt Thresh aus Versehen auf einen Zweig am Boden und ich halte die Luft an. Zuerst bin ich mir sicher, das sie es nicht gehört haben, weil es so ein kleines Geräusch ist, und will wieder ausatmen. Aber dann tritt Cato plötzlich und völlig überraschend in den Schatten des Zugs. Ich muss einen Schrei unterdrücken; doch er entdeckt nur Thresh, da ich mich ganz klein gemacht habe. "So, so, der Junge aus 11...", lächelt Cato und zerrt ihn wieder auf den Bahnsteig zurück. Ich überlege panisch, wie ich ihm helfen kann. "Hattest wohl mal Lust auf einen morgendlichen Spaziergang, was?" Marvel lächelt breit, aber Glimmer hat nur Augen für Cato.

Da nehme ich allen Mut zusammen, springe aus meinem Versteck und schreie Cato entgegen: "Ihr könnt uns keine Angst einjagen, das werdet ihr schon sehen." Mein Herz schlägt so laut, dass ich das Gefühl habe, alle müßten es hören, es dröhnt in meinen Ohren. Einen Moment lang herrscht eine verblüffte Stille bei den Karrieros, dann schaut mich Cato an und sagt verächtlich: "O.k., Kleine, ganz ruhig - wir werden deinem Thresh schon nichts tun, jedenfalls noch nicht..." Das Gelächter der vier hallt auf dem Bahnsteig wieder, dann wenden sie sich ab; sie haben wohl das Interesse an uns verloren. Ich zittere wie verrückt; Thresh legt mir seine Hand auf die Schulter und sagt: "Danke, Rue. Du magst zwar hier die Jüngste sein, aber Mut hast du für uns alle zusammen. Komm." Wir blicken uns an und ich sehe die Angst in seinen Augen. Und dann folgen wir den anderen. Ins Kapitol.

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