6.

Wina beobachtete das emsige Umherlaufen des Personals auf der Intensivstation und langsam drangen wieder Gefühle zu ihr durch. In den letzten Stunden war sie so voller Angst um Thies gewesen, dass sie völlig geblockt gewesen war. Sie hatte immer noch Panik, gerade jetzt, wo Thies' im OP war, den Brustkorb aufgesägt bekam und an seinem Herzen herum geschnippelt wurde. Nein, stop jetzt, dachte sie und wünschte sich, gar nicht so genau zu wissen, wie eine Bypass- OP abläuft- der Fluch eines medizinischen Berufes, eben. Ablenkung war gut. Sie würde gerne Suki anrufen, doch wollte sie damit bis nach der OP warten, um ihr gleich mitteilen zu können, wie es gelaufen war. Die dämlichen Klatschzeitschriften brachten es nicht und sie hatte in der Eile vergessen, ein Buch mitzunehmen. Aufgeräumt hatte sie schon, und Conny, die kurz herein geschaut hatte, Thies' Kleidung zum Waschen mitgegeben. Später würde sie ihm frische Wäsche holen, doch jetzt traute sie sich nicht fort.

Die griesgrämige Schwester, die sie in den frühen Morgenstunden begrüßt hatte, war immer noch da, eigentlich hatte Wina angenommen, sie wäre vom Nachtdienst gewesen. Sie spürte, dass die Frau viel zu müde war, um sich konzentrieren zu können, und darüber verzweifelt war. Und sie hatte Angst, einen Fehler zu machen. Sie las gerade einen Beipackzettel und eine andere Intensivpflegekraft legte ihr eine Hand auf die Schulter. Die Berührte zuckte zusammen und schnauzte ihre Kollegin an. Wina seufzte. Sie nahm an, dass die zickige Schwester Überstunden machte - es war zehn Uhr am Vormittag, also nahezu Doppelschicht! Und dieser Frau sollte sie Thies anvertrauen? Wina stand auf und ging in den Vorraum, wo in der Mitte der große, runde Tresen war, der Stützpunkt der Station.

„Ich hole mir noch einen Kaffee. Kann ich ihnen einen mitbringen?", sprach sie die Zicke an.

Diese bedachte sie zunächst mit einem giftigen Blick, nach dem Motto: „was quatscht du mich an?", doch dann lächelte sie und nickte. „Das ist nett von ihnen. Ohne Alles. Danke", erwiderte sie und guckte wieder auf den Zettel.

„Ähm...ich hatte nach ihrer Aussage angenommen, sie wären im Nachtdienst gewesen?" versuchte Edwina es.

Natürlich spürte sie die Abwehr. Die hagere Frau nickte, zu Wina's Überraschung.

„So in etwa. Ich bin um Mitternacht gekommen, sonst hätte ich den Frühdienst nicht machen können."

„Es hat sich nichts geändert...", hauchte Wina.

„Warum sollte es? Niemand schert sich darum, und die da oben...", begann die Frau, die wohl nur etwas älter als Wina war.

Doch ein Arzt kam dazu und sie verstummte. Im Weggehen hörte Wina, wie der Arzt fragte, ob die Infusion denn nun bereit wäre. Wina ging durch die Schleuse, zog ihren Kittel aus und den Mantel über, denn in dem Krankenhaus zog es an jeder Ecke und sie wollte nicht noch krank werden. In der hochmodernen Cafeteria war die Hölle los. Edwina seufzte schwer und stellte sich an, sie hatte ja Zeit genug. Das Mitternachtsmahl - eigentlich deftiges Frühstück- hatte bisher vorgehalten, Hunger hatte sie nicht, aber die Müdigkeit begünstigte ihren Jieper auf Süßes. Die Gebäckstücke, die in der Auslage lagen, sahen einfach köstlich aus, aber sie fühlte sich schlecht dabei, zu genießen, wenn Thies gerade so etwas durchmachte. Bei dem Anblick der Torten musste sie wieder an Suki denken. Wenn sie nur hier wäre, dachte sie. Ja, am Nachmittag würde die passionierte Bäckerin zwar wieder in Deutschland sein, aber ein paar hundert Kilometer entfernt, in Münster. Die Tochter eines niederländischen Fernfahrers und einer deutschen Kauffrau wohnte dort in einer urigen Dachgeschosswohnung, um die Wina sie immer beneidet hatte. Sie selbst hatte sich in der alten, verlassenen Fabrik, in der sich ihr kleines „Studio" befand, eingenistet. Nach und nach aus alten Möbeln ein Zuhause erschaffen - nein, es war nie mein Zuhause, dachte Wina traurig. Es hatte sich immer nur wie ein Zwischenstopp angefühlt...

Wieder wurde sie aus ihren Tagträumen gerissen und schaute den lächelnden Bistroangestellten, der sie angesprochen hatte, erschrocken an.

„Einen Kaffee schwarz und einen Latte bitte", orderte die Brünette.

„Geht sofort los!", gab der Typ zurück. „Sonst noch etwas?"

Schon wieder war ihr Blick zu dem Kuchen gehuscht.

„Nein..." murmelte Wina und zog ihre Geldbörse aus der Tasche.

Als sie wieder auf der Intensivstation war, fand sie die griesgrämige Schwester nicht. Sie fragte nach und der Pfleger deutete auf Thies' Zimmer. Winas Herz machte einen Satz. Sie eilte zu ihm und sah, dass er noch schlief und die Schwester mit den Ableitungen beschäftigt war. Die werde ich gleich noch mal kontrollieren, dachte Wina.

„Er ist zurück!", stellte sie fröhlich fest. „Alles gut gelaufen?"

„Ja. 3- fach ACVB mit...", begann die Grimmige genervt zu erklären.

Wina seufzte und hielt der Schwester den Warmhaltebecher hin.

„Schon gut, der Doc kommt ja bestimmt noch. Hier, der Kaffee. Machen sie mal Pause."

„Geht nicht", kam knapp zurück. „Und danke."

Sie rauschte davon und Wina stellte ihren eigenen Becher auf Thies' Nachttisch. Streichelte ihn kurz, bevor sie ihn und die Apparaturen checkte. Alles schien okay zu sein. Sie nahm den Becher wieder und verließ die Station, um Suki anzurufen. Es dauerte eine Weile bis ihre Freundin abnahm.

„Hey, Suke. Störe ich gerade beim Drehen?"

„Nein, gar nicht. Hab das alles schon in den Morgenstunden erledigt, konnte eh nicht schlafen..."

Edwina lachte.

„Wenn das mit Thies nicht wäre, dann wären wir bestimmt beide losgezogen, weil's uns nicht losgelassen hätte, nicht? Meinst du denn, dass das Material jetzt reicht? Und hast du...was ja am Wichtigsten ist, oh Gott, nur die Vorstellung, dass ich das verpasst habe...mit Thomas gesprochen?"

Pause. Wina hörte wie es raschelte und ihre Freundin ganz leise: „Lass das!" auf englisch zischte.

„Was ist los bei dir?", hakte Wina amüsiert nach. „Bist du schon zuhause und nerven die Katzen?"

„Äh...nein...ich...", setzte Suki an und wirkte außer Atem, als würde sie mit etwas oder jemandem ringen.

Atemlos fuhr Suki fort: „Also ich bin noch in England und...sag, wie geht es Thies?"

Edwina seufzte. Warum antwortete Suki so ausweichend?

„Thies ist gerade aus dem OP. Ich wollte dir auch nur kurz Bescheid...sag mal, ist Nils bei dir, oder wer quatscht da im Hintergrund?"

„Ja, ja. Nils. Und ist Thies stabil?"

„Suke, du bist irgendwie komisch" seufzte Wina, „Was ist denn los? Nein, warte...nicht...du und Nils, oder?"

Stille. Ein Brummen im Hintergrund, dann ein Klatschen. Wina vernahm ein altes, englisches Wort für Flegel, wenn sie es richtig verstanden hatte. Suki shhht'te jemanden.

„Ich bin nur übernächtigt, und... Hast du ne Macke?!", gab sie mit gespielter Aufregung zurück. „Wir schneiden gerade das Material zusammen. Ist gut geworden."

„Super. Und?"

Wieder fauchte Suki etwas auf englisch „Klappe jetzt!" und fragte dann bemüht ruhig: „Was und?" an ihre Freundin gewandt.

„Thomas?", murmelte Wina, „Thomas Sharpe. Ist er dir noch einmal erschienen?"

„Oh, verdammt, mein Akku ist gleich leer. Richte Thies schöne Grüße aus, ja? Du bleibst doch erstmal bei ihm?"

„Ja, Suki, hör zu...er wird eine Anschlussheilbehandlung machen, und ich möchte für diese Zeit bei ihm bleiben", berichtete Wina leise.

„Verstehe ich! Mach nur, Nils und ich kriegen das schon hin. Wir telefonieren, ja?"

Plötzlich nahm Wina Unruhe hinter sich war, die Leute auf der Station, die sie durch die Glastür beobachten konnte, liefen umher.

„Ich muss wieder zu Thies. Pass auf dich auf, Süße", erklärte Wina besorgt und legte auf.

Hektisch zog sie den Kittel über und desinfizierte ihre Hände, schoß durch die zweite Tür und lief in Richtung Thies. Er schlief immer noch friedlich und sie atmete erleichtert auf. Hinter sich hörte sie, dass mit jemandem geschimpft wurde und dann lief die Schwester, die die Doppelschicht machte, mit versteinertem Blick an ihr vorbei in Richtung Ausgang.

„Das ist gerade noch mal gut gegangen", hörte sie einen Arzt sagen.

In der Eile hatte Wina ihr Handy angelassen und spürte, dass es in der Tasche vibrierte. Sie nahm es heraus und blickte darauf. Und verstand die Welt nicht mehr.

                                                                              °°°

Mit einem schweren Seufzen ließ Suki sich auf die Bettkante fallen und stützte müde ihren Kopf in beide Hände, nachdem Nils vor Wut schnaubend ihr Zimmer verlassen hatte. Thomas stand noch immer mitten im Raum, die Hände zu Fäusten geballt und schaute kopfschüttelnd auf die Tür, die der kleinere Mann mit einem lauten Knall hinter sich zugeschlagen hatte.

„Dieser ungehobelte...", weiter kam er nicht, denn die Rothaarige fiel ihm ins Wort.

„Ach, darauf brauchst du nichts geben. Den sind wir eh los", gab sie leise zurück und ein Gähnen entfuhr ihr. Direkt schlug sie sich die Hand vor den Mund. „Verzeihung...", murmelte sie und spürte, wie eine schwere, niederdrückende Müdigkeit von ihr Besitz ergriff.

Sie durfte jetzt unter gar keinen Umständen einschlafen. Nicht auszudenken, was Thomas alles anstellen konnte, wenn sie ihn nicht beaufsichtigte!

Mühsam erhob sie sich, sah den großen Engländer aus brennenden Augen an und machte sich auf den Weg an ihm vorbei ins Bad. Eine kalte Dusche war genau das, was sie jetzt brauchte, um wieder einigermaßen wach zu werden.

„Thomas, ich werd mich mal frisch machen. Bitte versprich mir, dass du keine... Dummheiten machst, während ich im Bad bin." Sie war noch einmal stehen geblieben und schaute ihn flehend an.

Ein beleidigter Ausdruck erschien in seinen Augen und er reckte das Kinn.

„Dummheiten... Ich bin doch kein Kind! Was glaubst du, sollte ich schon groß anstellen?"

Geräuschvoll stieß sie die Luft aus. „Du hast vollkommen recht. Bitte entschuldige, ich bin gleich wieder da...", nickte sie, war einfach zu erschöpft, um noch eine freche Gegenantwort zu geben und verschwand dann im Badezimmer, hoffte, dass sie ihm vertrauen konnte und lehnte sich kurz gegen die Tür.

Sie atmete tief durch. Was mach ich hier eigentlich? fragte sie sich, stützte sich nach vorn und schaute sich im Spiegel an. Sie sah fürchterlich aus. Tiefe, dunkle Schatten unter den geröteten Augen, das Make-Up verschmiert und die Haare völlig zerzaust.

Wie die Gewitterhexe höchstpersönlich...

Sie zog sich das Kleid über den Kopf und warf es unachtsam in einem Knäuel auf den Toilettendeckel, sie würde sich nach dem Duschen ohnehin in frische Klamotten schmeißen. Gerade wollte sie sich ihres BHs entledigen, als ein merkwürdiges Geräusch an ihr Ohr drang. Es dauerte einen Moment, bis sie realisierte, was es war. Doch als sie es geschnallt hatte, konnte es gar nicht schnell genug gehen. Sie schnappte sich ein Handtuch von dem großen Heizkörper, wickelte es sich flink um den Oberkörper - sie trug ja noch die schwarze, blickdichte Strumpfhose - und rannte nahezu aus dem winzigen gekachelten Raum, ohne sich darum zu scheren, was ihr neuer Begleiter nun von ihr und ihrem Aufzug halten mochte und griff nach dem am Ladekabel hängenden Telefon, welches wie wild vor sich hinklingelte, bevor Thomas die Hand danach ausstrecken konnte. Mist, Wina... dachte sie und fühlte sich im nächsten Moment unglaublich schlecht wegen ihrer Gedanken.

Sie wischte über das grüne Hörersymbol und hielt sich das Handy ans Ohr.

„Hey, Suke. Störe ich gerade beim Drehen?", legte ihre Freundin direkt los.

„Nein, gar nicht. Hab das alles schon in den Morgenstunden erledigt, konnte eh nicht schlafen...", klärte Suki sie auf und trat dabei von einem Fuß auf den anderen.

Wina erkundigte sich, ob sie es tatsächlich geschafft hatte, zu Thomas Kontakt aufzunehmen. Was sollte sie dazu sagen? Sie wollte sie nicht anlügen, aber sie konnte ihr doch jetzt auch nicht einfach so ganz nebenbei erzählen, was tatsächlich passiert war. Sie hatte dem großen Kerl den Rücken zugedreht, während sie mit Edwina sprach und hörte hinter sich auf einmal ein Rascheln. Er hatte sich vor ihrer Reisetasche hingehockt und fing gerade ernsthaft an sie durchzusehen. „Lass das!", zischte sie auf Englisch, als er bei ihrer Wäsche angekommen war.

Nun hatte Thomas sich wieder aufgerichtet und kam auf sie zu, wollte nach dem Gegenstand in ihrer Hand greifen. Immer wieder duckte sie sich vor ihm weg, was zur Folge hatte, dass sie irgendwann ziemlich japsig wurde.

Suki erkundigte sich nach Thies' Befinden, ignorierte ganz bewusst die Frage der Kleineren, um sich nicht unnötig zu verstricken. Sie war einige Schritte vor Thomas zurückgewichen, eben soweit es das Kabel zuließ und drehte ihm wieder den Rücken zu. Abstöpseln kam nicht in Frage, dann wäre die Verbindung sofort unterbrochen worden, weil der Akku am Ende war.

„Suke, du bist irgendwie komisch", seufzte Wina. „Was ist denn los? Nein, warte...nicht...du und Nils, oder?"

Das hatte sie doch jetzt nicht wirklich gefragt? Suki wollte gerade antworten, als sie bemerkte, wie der Große hinter sie trat. Plötzlich spürte sie eine Berührung auf der nackten Haut ihrer Schulter. Er hatte einen Finger unter ihren BH-Träger geschoben und ihn etwas angehoben. Starrte fasziniert auf das rote Netzgewebe und murmelte etwas unverständliches mit dieser tiefen Stimme. Empört schlug sie ihm auf die Hand, schimpfte ihn einen Flegel.

„Ich bin nur übernächtigt, und... Hast du ne Macke?!", echauffierte Suki sich gespielt. Dann erklärte sie, dass sie gerade das Material schneiden würde.

„Kein Grund gleich handgreiflich zu werden...", grummelte Thomas zwischendurch, was Suki mit einem gefauchten: „Klappe jetzt!", quittierte.

Ein weiteres Mal fragte Wina nach Thomas und ob er ihr nochmal erschienen wäre, aber die große Frau wimmelte sie mit der Ausrede ab, dass der Akku ihres Smartphones fast leer war. Nun, das war ja zum Glück nicht vollständig gelogen. Gute Güte, war das anstrengend! Auch, wenn das schlechte Gewissen an ihr nagte. Sie war heilfroh, als Edwina sagte, dass sie wieder zu ihrem Mann musste und sich verabschiedete.

Seufzend ließ Suki das Mobiltelefon sinken und den Kopf hängen. Das war einfach alles viel zu viel für sie...

Bevor sie einen erneuten Versuch startete, sich frisch zu machen, wühlte sie ein Buch aus ihrer Tasche - zum Glück war es eine englische Ausgabe - und drückte es Thomas in die Hand. Hoffte, dass sie ihn so einen Augenblick beschäftigen konnte.

Als sie etwas später aus der Dusche kam, war er jedoch nicht am Lesen, sondern saß im Schneidersitz auf dem Bett und betrachtete ihr wieder aufgeladenes Smartphone. Anscheinend hatte er ihren Code geknackt und sagte begeistert: „Fantastisch! Wie schnell man mit Menschen überall auf der Welt sprechen kann! Hör mal: ..."

Er hielt es hoch und Suki konnte die Bandansage irgendeiner teuren Hotline vernehmen. Sofort riss sie ihm das Telefon aus der Hand und drückte genervt stöhnend auf den roten Button.

„Thomas, ich sagte doch, lass meine Sachen in Ruhe! Mann, was du jetzt gerade getan hast, kostet mich ein Vermögen, vielen Dank!",  knurrte Suki und rubbelte sich dabei die Haare trocken.

Ihr Blick fiel auf das am Boden liegende Ticket und sie bückte sich automatisch danach, um aufzuheben, als Thomas rief: „Halt! Tu das nicht!"

Suki zuckte zusammen. Sie drehte sich zu ihm und guckte irritiert.

„Es ist besudelt, sagte dieser...schreckliche Kerl. Mit Exkrementen", schloß Thomas angewidert.

Suki brauchte nach all dem, was sie erlebt hatte, und durch die extreme Erschöpfung, die auch die kalte Dusche nur bedingt hatte beseitigen können, sehr lange, bis sie kapierte, was der Mann aus der anderen Zeit meinte. Dann lachte sie kurz auf.

„Wegen dem „Scheiß- Ticket"? Das sagt man so, wenn man genervt ist, es ist nicht wirklich verdreckt. Und es ist wichtig, wir können uns ein weiteres Ticket nicht leisten."

Sie strich das Papier glatt und schob es dann in ihre Börse. Plötzlich bemerkte sie ein Kribbeln, das über ihre Haut lief, und schaute auf. Thomas beobachtete sie. Als sich ihre Blicke trafen, spürte sie Hitze in sich aufwallen und biss sich auf die Unterlippe. In Natura war dieser Mann noch beeindruckender, noch gutaussehender, als auf den Fotos, und ja, sie konnte Edith langsam verstehen. Am liebsten wäre sie einfach über ihn hergefallen...

Meine Güte Frau, jetzt krieg dich mal wieder ein!

„Wofür brauchen wir das?", fragte er.

Suki schluckte das aufkochende Verlangen auf ihn zuzugehen, ihre Hände in seinen Nacken zu legen und ihre Lippen auf die seinen zu drücken runter und erklärte ihm warum dieses Ticket so wichtig war.

„Ich soll mit dir nach Deutschland kommen?", stieß er erschrocken aus.

„Für's Erste, ja...", entgegnete sie, als wäre überhaupt nichts dabei.

„Das verstehe ich nicht, eben noch...nun ja, anscheinend sorge ich doch immer wieder für Ärgernisse?",  entgegnete er irritiert und deutete auf ihr Telefon, das sie auf den Tisch gelegt hatte.

Dann holte er tief Luft, stand vom Bett auf und kam langsam auf sie zu. Ihr Herz schlug schneller und drohte fast, aus dem Brustkorb zu springen, als er sanft ihr Kinn nahm und es hochzog.

„Hör zu, Suki van Veer. Vielen Dank für alles, was du bisher für mich getan hast. Aber ich denke, ich komme ab jetzt alleine zurecht."

Suki riss ruckartig ihren Kopf nach hinten und brachte mit einigen Schritten Abstand zwischen sich und den gutaussehenden Wiedergeborenen.

„Aber... Thomas, das geht nicht. Du...", sie konnte ihren Satz nicht beenden.

Mit einer raschen Handbewegung hatte er sie zum Schweigen gebracht, sein Blick ließ keinen Zweifel daran, dass ihm ihre Antwort nicht gefiel.

„Warum sollte das nicht gehen?!", rief er nun aufgebracht. „Ich bin ein erwachsener Mann, ich brauche deine Erlaubnis nicht!"

Suki hatte sich während seines Ausbruchs auf die Unterlippe gebissen und beobachtete, wie er nun, ähnlich wie ein wildes Tier in einem Käfig, anfing durch den Raum zu laufen und unverständlich vor sich hin murmelte. Er klang furchtbar ärgerlich.

Vorsichtig näherte sie sich ihm, aber er blieb abrupt stehen, hob eine Hand und bedeutete ihr so zu bleiben, wo sie war. Augenblick stand sie wieder still und sah ihn aus großen, grauen Augen an. Erneut versuchte sie auf ihn einzureden, ihm zu erklären, warum er nicht einfach gehen durfte.

„Du weißt doch gar nicht, was da draußen alles los ist, wie du an Geld kommst, wo du wohnen sollst... Es muss ja nicht von Dauer sein... nur... solange bis du dich an diese Zeit gewöhnt hast..." Den letzten Teil hatte sie so leise gesagt, dass er es gar nicht gehört hatte.

Er war viel zu wütend, um vernünftig auf ihren Einwand zu reagieren. Plötzlich verfinsterte sich sein Blick, sollte das überhaupt möglich sein, noch mehr und mit schnellen Schritten kam er auf sie zugeschossen. Vor Schreck war Suki zurückgewichen und stieß nun mit dem Rücken gegen die Wand. Ihre Atmung beschleunigte sich, als er weiter auf sie zukam und ganz dicht vor ihr stehen blieb. Er beugte sich nach unten, war ihr nun so nahe, dass sie seinen Atem auf ihrem Hals spüren konnte.

„Das ist deine Schuld", raunte er ihr ins Ohr und in diesem Augenblick war es, als würde jemand seine Hand um ihr Herz legen und zudrücken.

Ihr blieb die Luft weg, ohne es zu wollen schluchzte sie auf und erste Tränen füllten ihre Augen. Ihn so nah vor sich stehen zu haben, war für die Rothaarige kaum zu ertragen, wenn er so wütend war und sie für sein Unglück verantwortlich machte. Aber er hatte doch recht... wäre sie nicht so leichtsinnig gewesen, mit seinem Blut herum zu experimentieren, würde er sich doch gar nicht in dieser verfahrenen Situation befinden!

Der Engländer hatte sich wieder aufgerichtet und ging ohne ein weiteres Wort zu verlieren auf die Zimmertür zu.

„Thomas...", rief sie seinen Namen erstickt, aber er reagierte nicht, stürmte einfach hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

Unfähig, sich zu bewegen, stand sie da und starrte auf den Fleck, an dem sich eben noch der große Engländer befunden hatte. Er hatte ja recht... Sie konnte es gar nicht schön reden. Überwältigt von ihren Schuldgefühlen rutschte sie an der Wand hinter sich hinunter und blieb dort wie ein Häufchen Elend sitzen. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und heulte los.

Lange verlieren konnte sie sich darin allerdings nicht. Kurz, nachdem Thomas abgerauscht und sie sich hier zusammengekauert hatte, klingelte ihr Telefon. Sie quälte sich mühselig hoch, um ran zu gehen, als ihr etwas einfiel. Schuldgefühle hatte sie doch jetzt nur, weil ihr das Schicksal etwas geschickt hatte, das dies alles erst möglich gemacht hatte- der Grund für diese ganze Misere musste sich jedoch noch in diesem Zimmer befinden und nach dem, was das Hexenbuch ihr vermittelt hatte, sollte Thomas gar nicht in der Lage sein, es zu verlassen! Suki stürmte zur Garderobe und griff in ihre Manteltasche, wühlte nach der Dose. Taschentücher. Halsbonbons. Doch keine Dose! Verzweifelt stülpte sie beide Taschen nach außen, als sie auch in der anderen nichts ertastet hatte, und dann begann sie hysterisch, dass ganze Zimmer auf den Kopf zu stellen.

Auf der Suche nach Thomas' verhängnisvollem Blut!

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