11.
„Mrs. Van Veer und ihr...Freund sind heute Morgen weggefahren", erklärte die Wirtin Edwina, es war ihr anzusehen, dass sie nicht erfreut war, warum auch immer.
Thomas. Suki hatte Thomas gesagt, aber Wina hatte sich vielleicht auch verhört, schließlich war sie völlig übermüdet und am Ende, mehr konnte sie nun wirklich nicht verkraften, aber es tat gut, wieder hier zu sein, in England, und das zu machen, was ihr Spaß brachte und in dem sie sich wohl fühlte. Wahrscheinlich war der "Freund" Nils und Suki hatte ihn in ihr Bett gelassen, was völlig okay war, solange er nicht anfing, zu denken, er wäre jetzt Teilhaber der Show!
„Aber sie müssen noch die Rechnung für den jungen Mann bezahlen, Ms. Lowenstrom", erklärte die Wirtin nun.
„Wie bitte?", wunderte sich Edwina.
„Mr. Andersen ist gestern Abend abgereist, einfach so. Er meinte, Ms. van Veer oder sie regeln das Finanzielle."
Wina stöhnte und holte ihre Kreditkarte heraus. Sie bezahlte und fragte dann, ob noch ein Zimmer frei wäre und wo Ms. van Veer denn hingefahren wäre. Wunderte sich nicht über die Antwort, natürlich nicht. Dann nahm sie sich ein Taxi und fuhr hinterher.
„Was ist hier nur los?", fragte der Taxifahrer amüsiert, den sie wieder erkannte. „Soviel Umsatz hab ich im ganzen Jahr nicht. Und im Winter!"
„Haben sie meine Freundin und einen jungen Mann gefahren?", konterte Wina, ohne darauf einzugehen.
„Natürlich, ich bin doch das einzige Taxi hier! Komischer Typ, der neue Freund ihrer Freundin. Erst hab ich ihn von der alten Poststation mit ihr zusammen abholen müssen, weiß die Hölle, wie der dahin gekommen ist! Er hatte ihren Mantel an! Und nun gerade hab ich die beiden zum alten Allerdale- Grundstück gefahren. Der Kerl hat jetzt einen ordentlichen Haarschnitt und trägt Männersachen. Aber er redet sehr wenig...komischer Typ..."
Wina wußte genau, wen er meinte, aber seit wann konnten andere Leute Geister sehen, wenn sie es selbst als Medium nicht mal konnte? Ihr Herz raste und sie wünschte sich, dass der gemütliche Engländer mal Gas geben würde. Thomas. Thomas...Sharpe! War er es tatsächlich? Und wie zur Hölle hatte Suki es geschafft, ihn zum Materialisieren zu bringen? Kaum vor dem riesigen Grundstück des ehemaligen Herrenhauses angekommen, hielt der Taxifahrer.
„Weiter fahre ich nicht. Es heißt, die rote Erde würde hier alles verschlingen. Viel Glück, Ms. Lowenstrom."
„Wir waren schon zwei Male hier und sind nie verschlungen worden!", gab Wina zurück und bezahlte den Mann. „Bis später."
Sie stieg aus und ging durch das gusseiserne, hoch aufragende Tor, dass nichts schützte, außer schneebedeckten Grund und einige dürre Bäume. Einen verwilderten Garten, durch den sie sich nun kämpfte. Sie hörte Stimmen dahinter und spürte tiefe Traurigkeit, so tief, dass ihr ganz übel wurde, dann noch Mitleid, eine kleine Brise davon, aber es konnte sich nicht durch das überwältigende Gefühl der Zuneigung behaupten, das ganz bestimmt von Suki kam, Wina kannte es, dieses Gefühl galt öfter auch ihr selbst. Aber nun war es etwas anders, es war...lustbesetzt. Wina brach durch eine verdorrte Hecke und stand vor einem großen, freien Platz. Rötlicher Schnee bedeckte ihn und in dessen Mitte standen zwei Gestalten. Die eine davon kam ihr äußerst vertraut vor und war leicht nach hinten gelehnt, während die Größere über sie gebeugt stand. Was ging da vor sich?
Langsam näherte sich Wina und stockte, als der große Mann ihre Freundin unter den Armen fasste und die Amazone scheinbar mühelos auf die Füße stellte.
Das kann nicht sein, dachte sie, da steht er, als wäre er lebendig! Als wäre er zurück von den Toten, befreit von dem Fluch der Maschine, die ihn sicherlich gebunden hatte. „Suki?". Die Angesprochene drehte sich um, als sie hinter sich den Schnee knirschen und die vertraute Stimme hörte. Ihre Augen wurden groß, umgehend setzte sie sich in Bewegung und rannte auf Wina zu. Diese tat es ihrer Freundin gleich und stürmte auf sie zu, bis sich beide Frauen schluchzend umarmten. Eine Weile hielten sie sich, wiegten sich und drückten sich immer wieder, als gäbe es nur noch sie beide auf der Welt. Kein Geräusch war zu hören, bis auf das leise Schniefen ab und zu.
„Es tut mir so leid...", flüsterte Suki irgendwann.
„Quatsch. Du kannst...Moment...hast du ihn...", murmelte Wina und schaute ihre Freundin irritiert an.
„Ja. Das wollte ich dir die ganze Zeit erzählen", erwiderte die Rothaarige schniefend und wischte sich über die Augen. „Ich wollte Thomas nur rufen und hab mich immer Zauberspruch geirrt, und hier..."
Sie drehte sich um, Wina hob ebenfalls den Kopf, um über Sukis Schulter zu schauen, beide blickten auf den leeren, rosafarbenen Platz.
„Thomas?", entwich es der Jüngeren verwirrt.
Sie lief los. Zunächst langsam und unsicher, konnte sie sich schließlich das plötzliche Verschwinden ihres Begleiters nicht erklären. Doch mit jedem Schritt, den sie dem Fleck näher kam, an dem er gerade eben noch gestanden hatte, waren ihre Füße schneller geworden. Sie rief ihn erneut. Diesmal lauter und energischer, aber sie erhielt keine Antwort. Wina eilte hinterher, konnte jedoch kaum mit den langen Beinen der Rothaarigen mithalten...ja, der Boden schien sie immer wieder festzuhalten, er ließ sie leicht einsinken. Die große Suki schien es besser hinzukriegen. Sie war schon an dem Platz angekommen und starrte ungläubig auf den glatten, roten Schnee. Keine Fußspuren, außer ihre eigenen, waren zu sehen, als hätte Thomas nie existiert! Aber es schneite doch gar nicht mehr...Wie konnten seine Fußabdrücke einfach verschwinden?
„Das kann nicht sein!", hauchte Suki.
„Ich habe ihn auch gesehen. Und er hat...gelebt?"
„Er lebt, Wina! Ich habe seinen Herzschlag gespürt, seine Körperwärme, seinen Atem und ich konnte seine Gedanken nicht mehr hören. Du weißt, dass geht nur bei Geistern."
„Ja, aber...wo ist er? Ich kann ihn nicht mehr spüren."
Suki hatte sich hingehockt und strich durch den Schnee. Darunter war rote, schlammige Erde. Wie konnte das sein? In den letzten Tagen war es so kalt gewesen, dass der Boden mindestens einen halben Meter tief hätte gefroren sein müssen. Aber das matschige Rot lief ihr wie dickflüssiges Blut durch die Finger. Es hatte geradezu etwas hypnotisierendes, wie sich dicke Tropfen an ihren Fingerspitzen bildeten und auf den Grund platschten. Winas Räuspern holte sie aus ihren Gedanken und die Ältere fragte besorgt, ob alles in Ordnung sei. Für einen Augenblick hatte sie Sukis Emotionen nicht mehr deuten können. Sie waren ihr ungebremst entgegengeschwappt, wie das modderige Wasser eines über die Ufer tretenden Flusses. 'Chaos' schoss es ihr durch den Kopf.
Suki sah ihre Freundin und Partnerin an und nickte entschlossen. Dann schob ihre Hand in die Erde hinein, nicht in der Hoffnung, dort auf etwas zu stoßen. Aber sie hatte so ein Gefühl.
Plötzlich brach sie durch etwas hindurch. Ihr Arm verschwand völlig im Boden, Wina schrie und packte die Schultern ihrer Freundin, dann ging der Boden unter ihnen auf und verschlang sie beide.
♱
Das ist die Strafe dafür, dass du dein Baby getötet hast, Edwina Löwenstrom, dachte die Dunkelhaarige, als sie langsam erwachte. Denn um sie herum war es dunkel und kalt. Nein, nicht stockdunkel, die Wände warfen rötlich schimmerndes, unwirkliches Licht zurück. Du bist direkt in der Hölle gelandet und mit Recht, du hast deinen Ex in seinem schlimmsten Moment verlassen und...Quatsch, dachte Edwina, Thies ist selbst Schuld, er hat mich ihm einen runterholen lassen, obwohl er wußte, dass es noch eine Andere gab, die es in der Zeit, als ich nicht da war, regelmäßig getan hatte...oder so. Sie seufzte und setzte sich auf. Alles tat ihr weh, also lebte sie noch, oder?
„Suke?", rief sie und ihre Stimme hallte von den Wänden wieder.
Dreck rieselte von oben herunter, sie blickte auf und erkannte, dass über ihr eine Dachschräge war. Um sie herum eine gewölbte Wand, als wäre sie in einem Turm...sie kannte den Grundriss von Allerdale Hall, natürlich. Aber warum zur Hölle war die letzten Male nichts passiert, als sie hier herum stolziert waren? Da hatte kein Schnee gelegen, die Erde war fest gewesen, sie hatten ein wenig in ihr gegraben und waren kaum durch gekommen, als hätte das Haus nicht gewollt, dass sie zu ihm durchdrangen...Wina hörte ein Geräusch und drehte sich um, sie holte ihr Handy aus der Jackentasche und schaltete es ein. Nein, sie hatte nichts von Thies hören wollen, keine Entschuldigungen, keine...kein Empfang.
„Ganz toll!", murmelte sie und entschied sich, es erstmal ohne Lampe zu versuchen, denn sie wollte Akku sparen.
„Suki? Hörst du mich?", rief sie und tapste vorsichtig auf die Holztür zu, die sie zu ihrer linken Seite hin ausmachen konnte.
Es war furchtbar, dass sie ihre Freundin schon wieder verloren hatte! Eben noch war sie bei ihr gewesen, sie waren, soweit Wina sich erinnern konnte, gemeinsam eingebrochen, verschluckt worden von der roten Masse, nein, Erde konnte man es nicht nennen. Dieses Zeug lebte und wollte Futter! Sie stoppte vor der Tür, plötzlich überwältigt von einem oder nein, mehreren Emotionen, so viele! Wina rang nach Luft. Es war nicht Suki, nein, das Muster ihrer liebsten Freundin kannte sie besser, als ihre eigenen Gefühle, selbst, wenn es Chaos war. Was hier auf sie prallte, war ebenfalls Chaos, aber so düster, dass sie eine Gänsehaut bekam. Leid. Tod. Betrug...Mord. Ein Kind, welches nicht wusste, wo es hin gehörte, in welche Welt, was es war, was es fühlte, Wina holte tief Luft und griff nach der Klinke.
Die Tür war abgeschlossen.
„Natürlich", brummte die kleine Frau und rüttelte daran, obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie wirklich da raus wollte.
Doch vor Geistern schützten sie auch keine Türen. Und sie brauchte Suki! Plötzlich hörte sie Schritte näher kommen und wich zurück. Die Schritte stoppten, genau auf der anderen Seite. Wina hielt den Atem an, schloß die Augen und wollte das, was hinter der Tür war, spüren, aber es war plötzlich nur Leere in ihr, als schirmte das Etwas alles andere von ihr ab.
Ich bin doch tot, dachte sie und riss die Augen wieder auf, sie hörte ein Quietschen. Die Klinke bewegte sich langsam nach unten, doch sie musste ja nichts befürchten, die Tür war ja abgeschlossen...
„Hallo?", rief eine männliche, sanfte Stimme.
„Thomas?", fragte Wina, ungläubig, ihn wirklich zu hören.
„Ja! Wer bist du?"
„Sukis Freundin Wina. Suki ist nicht bei mir, hast du sie gesehen?"
Die Tür ging auf und endlich stand sie vor dem Mann, der ihr Leben fast genauso sehr bestimmt hatte, wie Thies. Auf eine andere Art und Weise, verstand sich.
Thomas Sharpe. Sein Blick war unergründlich, als er sie musterte, wie auch immer er die Tür aufbekommen hatte.
"Wir müssen sie finden", sagte er barsch und stapfte schon davon, auf großen Schritten, nun, dass bin ich ja gewohnt, dachte Wina.
Nur ihre liebste Suki achtete darauf, dass Wina folgen konnte! Dieser Typ hier meinte anscheinend, Wina sei eine gestandene Frau und würde ihren Weg schon machen. Ich bin alles andere. Verloren, im wahrsten Sinne des Wortes, dachte sie. Sie konnte kaum etwas sehen und hatte ständig Angst, zu fallen, während Thomas anscheinend im Dunkeln sehen konnte, oder er orientierte sich blind. Wina fragte sich, wo die Geister waren, die sie vorhin noch spüren konnte, und bekam noch mehr Angst. Die Furcht überrollte sie schier, denn wenn diese Geister nicht mehr hier waren, wo sie sich befand, waren sie vielleicht woanders. Da, wo Suki war! Die Dunkelhaarige lief schneller und packte Thomas am Arm, er zuckte zusammen.
"Schneller!", befahl sie besorgt.
"Ich war im Gegensatz zu dir schnell", brummte der Engländer.
"SUKI?", brüllte Wina nun, doch er presste seine Hand auf ihren Mund.
"Shhht!", murmelte er, "Still! Oder sie findet uns."
Nun riss Wina die Augen auf. Sie wusste genau, wen er meinte!
♱
„Verfickte Scheiße nochmal!" fluchte die gebürtige Holländerin ziemlich undamenhaft, rappelte sich mit dem Oberkörper vom Boden hoch und hielt sich beim Versuch aufzustehen die Hüfte. „Ein Glück bin ich so gut gepolstert. Das hätte sonst böse ausgehen können...", murmelte sie und stellte sich langsam hin. „Wina?", rief sie, hörte aber nur ihr gedämpftes Echo. Um sie herum herrschte fast komplette Dunkelheit und ihr wurde schwindelig, weil sie keinerlei Anhaltspunkt auf ihre Umgebung hatte. Wo war sie hier?
Sie drehte sich um sich selbst, wollte unbedingt irgendetwas erkennen, was sich jedoch als übler Fehler herausstellte. Ohne ihr Umfeld sehen zu können, machte ihr Gleichgewichtssinn diese Faxen nicht mit und setzt für einen Moment aus. Sie taumelte und griff beim Versuch, irgendetwas Haltbringendes in die Finger zu bekommen ins Leere.
Mit einem dumpfen Knall donnerte sie erneut auf ihren Hintern. Ihr wurde die Luft aus den Lungen gepresst, als ein stechender Schmerz durch ihren Steiß zuckte und sie hielt kurz inne, um sich wieder zu sammeln.
Als sie sich gefasst hatte, fing sie an vorsichtig mit den Fingerspitzen über den Boden zu streichen und ihre Umgebung zu ertasten. Edwina hatte direkt neben ihr gestanden, als sich der Boden unter ihnen aufgetan und sie verschlungen hatte. Sie musste in ihrer Nähe sein und... Suki stockte. Was, wenn die Ältere sich bei ihrem Sturz verletzt hatte und irgendwo bewusstlos in der Dunkelheit lag? Sie wurde panisch, stemmte sich auf die Knie und krabbelte unsicher über den mit Unrat und Dreck bedeckten Grund. „Edwina!", flehte sie nun etwas leiser, weil sich ihre Sorge um ihre Freundin nun auch noch mit der Angst vor dem, was vielleicht hier unten lauerte vermischte.
Nichts. Kein weicher Körper, keine vertraute Stimme. Nichts.
Suki ließ sich nach hinten fallen und schlug sich angesichts ihrer aussichtslosen Lage die Hände vor die Augen. Sie spürte Druck hinter den Augen und unmittelbar stiegen ihr Tränen auf. Es war einfach auf einmal alles zu viel.
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