Twenty-three.

Augenblicklich bereue ich es, mir diesen Brief genommen zu haben.

Zitternd drücke ich den dünnen Zettel an die Brust, als würde es mir Harry näher bringen. Als würde es ihm Trost spenden. Als würde es ihm helfen und so mein schlechtes Gewissen bereinigen. Doch dieser Versuch ist genauso aussichtslos, wie es ist Harry vergessen zu wollen. Ich kann ihn nicht aus meinem Leben streichen, denn er würde mich immer wieder einholen.

Schon lange ist mir klar, dass ich ihn noch immer liebe, auch wenn er sich verändert hat. Mir gefällt nicht, was ich nun sehe, wenn ich auf den Veteranen treffe. Trotz allem kann ich mein Herz nicht länger ignorieren. Noch immer schlägt es für diesen so besonderen Mann, der schon immer einen ganz eigenen Charakter gehabt hat. Genau das ist es, was mich jedesmal aufs neue beeindruckt. Ob damals oder heute. Harry ist einzigartig. 

Natürlich ist so vieles, was mich Tag für Tag neu in seinen Bann gezogen hat, mittlerweile unter einer tiefen Maske vergraben, doch bin ich mir auch sicher, dass es noch da ist. Man muss ihn nur lange genug bearbeiten, ihm geben was er all die Jahre nicht gehabt hat und langsam würde er aufbröckeln. Schließlich kann er nicht vollkommen verschwunden sein, mein Harry. Er hat sich nur versteckt, geschützt hinter vielen Wänden, die Stück für Stück eingerissen werden müssen. 

Ich lege den Brief, an den ich mich bis gerade  weiter festgeklammert habe, wieder zurück an seinen Platz. Mein Blick fällt auf Dean, wessen leises Schnarchen die Stille durchbricht. Auch ihn liebe ich. So sehr. Sanft fährt meine Hand über seine Wangen. Nur so leicht, dass ich die kleinen Bartstoppeln auf meiner Haut kitzeln fühlen kann. Seine Arme hat er vor der Brust verschränkt, noch nie habe ich verstanden, wie er in einer so unbequemen Position schlafen kann. Geräuschvoll stößt der Ältere Luft aus, seine Hand greift nach meiner um diese zu umfassen. Schon lange ist seine nicht mehr so weich, wie zu dem Zeitpunkt, als wir uns kennen gelernt haben. Das viele Arbeiten im Haus hat seine Hände und seinen Körper geschunden. 

In Gedanken versunken streiche ich über den goldenen Ehering, der seine rechte Hand ziert. Die Hochzeit ist so wunderschön gewesen. Dean hatte keine Kosten und Mühen gescheut, um alles perfekt zu machen. Doch die Nacht danach war noch schöner. Ein wohliges Gefühl steigt in mir auf, als ich mich daran erinnere. Wie diese Nacht wohl mit Harry gewesen wäre? 

Er wäre nicht so sanft gewesen
Nein, das war er nie, aber in allem was er getan hätte, wäre mindestens genauso viel Liebe und Leidenschaft gewesen, wie in Deans Bewegungen. Es ist unmöglich die Beiden zu vergleichen, sie sind so unterschiedlich und doch schlägt mein Herz für jeden dieser Männer, auf eine ganz andere Art und Weise. Meine Hand löse ich aus dem Griff meines Mannes und streiche mit ihr über seine Brust. Ein Kribbeln breitet sich von dort aus in mir aus. Über meinen Arm, legt es sich direkt in meine Brust, bringt mein Herz zum Rasen.

Mit ihm kann ich mir nur zu gut vorstellen in fünfzig Jahren auf einer Veranda zu sitzen, den Enkelkindern beim spielen zu zu sehen, an einem Haus in einem typischen Vorort mit großem Garten und weiter Aussicht. Samuel und Joanne werden sicher in einem ähnlichen Haus ganz in der Nähe wohnen, das Baby, das auf dem Weg ist, natürlich auch. 
Doch wenn ich an den anderen Mann denke, denke ich an eine kleine Wohnung im Dachgeschoss eines Mehrparteienhauses. Vermutlich würde ich mich dauernd sorgen müssen, wie wir über die Runden kommen. Kinder kann ich mir in dieser Umgebung nicht vorstellen, auf Harrys Schoss jedoch schon. Auch liebt er es zu reisen, damals jedenfalls. Ob wir oft in den Urlaub fahren würden? Mit ihm würde das Leben auf jeden Fall niemals langweilig werden, aber auch nie einfach.

Seufzend steige ich aus dem Bett aus und betrete den kleinen Balkon. Kalte Luft umhüllt mich augenblicklich, bringt mich zum frösteln, füllt jedoch auch meine Lungen duschen klare Atemzüge. Meine Zehen bewege ich  etwas auf und ab, stelle mich von einem Fuß auf den anderen, während ich meinen Blick über die beeindruckende Kulisse, aus Fabrik und Hochhäusern vor mir, schweifen lasse. Ich fühle mich ebenso verloren, wie Menschen die so eben vom Lande in die Großstadt gezogen sind. Überfordert stehe ich an einer Kreuzung, derer Ampeln kaputt sind, unaufhörlich von rot auf grün wechseln. Gerade wenn ich einen Schritt machen möchte, wird mir das Zeichen zum Anhalten gegeben. Will ich den anderen Weg nehmen, ist es nicht anders. 

Es ist ein verzweifeltes Hin und Her, das wohl nie ein Ende finden wird, wenn ich mich nicht einfach entscheide und blindlings über die Straße renne. Das Risiko von einem Auto erfasst zu werden muss ich auf mich nehmen, um nicht an dieser Straßenkreuzung für immer stehen zu bleiben.

Lange stehe ich noch in der Kälte, beobachte die wenigen Menschen die noch unterwegs sind, bis mein Körper mich zum Aufgeben zwingt und ich wieder in das Zimmer gehe. Samuel und Joanne fallen mir ins Auge. So ruhig schlafen sie, er schützend einen Arm um seine kleine Schwester. Auf Zehenspitzen mache ich einen zaghaften Schritt auf die Beiden zu, halte vor ihnen inne. Etwas schnürt mir die Kehle zu, mein Magen ist ein einziges Drunter und Drüber, als ich behutsam die Decke der Beiden weiter hoch ziehe. 

Es wird Zeit mich zu entscheiden. 
Doch noch nie zuvor ist mir eine Entscheidung schwerer gefallen.
Vielleicht ist es einfacher, bei meiner Familie zu bleiben. Vielleicht ist es besser für mich zu Harry zu gehen.  Vielleicht ist es aber auch klüger nichts in meinem Leben zu ändern, auf die Sicherheit zu setzen die Dean mir bieten kann. Auf die Liebe, die er mir gibt, auf das Lachen meiner Kinder. Es wäre dumm mich für Harry zu entscheiden. Niemand garantiert, dass wir noch immer zusammen gehören. Niemand garantiert, dass es uns gut gehen würde, wir glücklich wären.  Am Ende würde ich nur mit noch weniger da stehen, als mit nichts. 
Mit einem gebrochenen Herzen, einer zerfallenen Seele und einem ruinieren Ruf.

Dean gibt mir so viel mehr, als Harry es je könnte. Es wäre eine falsche Entscheidung, dumm noch dazu.

Noch einmal fällt mein Blick auf meine Familie. Auf die Menschen, die mich seit so langer Zeit begleitet und unterstützt haben. Auf meinen Mann, der die Sterne für mich vom Himmel geholt hat und mir drei Kinder schenkte. Auf meinen Sohn, auf den man als Mutter nicht könnte stolzer sein und auf meine Tochter, die bereits jetzt der Inbegriff der Schönheit ist. 

Herz über Kopf.

Leise schließe ich die Tür hinter mir und eile aus dem Hotel. Nur das Nötigste habe ich mir in die Handtasche gestopft, unter meinem rechten Arm klemmt die Schachtel mit all den Briefen, von denen bis heute keiner weiß, dass ich sie besitze. Die Bedeutung dieser Briefe kann ich nicht in Worte fassen, für sie würde ich auch ohne jegliche Habseligkeiten verschwinden. Solange ich sie habe. All diese so sorgfältig aufgeschriebenen Worte, sind das was mich zurück in seine Arme treibt.

Dank ihnen habe ich meine Liebe für ihn wieder entdeckt und aus dem tiefen Loch gezogen, in dem ich sie verscharrt hatte. 

In diesem Moment ist es mir egal, was die anderen von mir denken. Mir ist egal, wie ich aussehe. Mir ist egal, wo ich wohnen werde. In diesem Moment zählt für mich nur, in seiner Nähe zu sein.

Jeder Schritt den ich über die Straße mache, bringt mich ihm näher. Doch auch jeder dieser Schritte, bringt mich näher an die tausenden Autos, die mich unverblümt erfassen könnten. Auf dem Bordstein steht Dean, ruft mir nach, läuft so schnell er kann, doch verliert mich  im Gewusel des Großstadtdschungels. Hoffnungslos sieht er mir zu, wie ich mich auf die vom Chaos getriebene Straße stürze, nicht auf all die Gefahren um mich herum achte.

Im Augenwinkel erhasche ich noch einen kurzen Blick auf ihn. Er bricht zusammen. Hockt auf dem Boden, das Gesicht in den Händen vergraben. Die breiten Schultern sind eingesackt. Längst wirkt er nicht so muskulös gebaut wie er es ist. Schwach hebt er seinen Kopf und sieht mir in die blauen Augen. 

Der Glanz ist entwichen, sie sind stumpf und gerötet. Dunkle Augenringe umranden sie, als sie auf seine treffen. 

Nichts kann er tun, als zu zu sehen, wie ich mich für diesen Weg entscheide.
Das weiß er, ebenso wie ich. 

Ich reiße mich los von seinem schmerzerfüllten Blicke. Nur eine Sekunde länger und ich würde zurück rennen, ihn an mich drücken und versprechen, dass ich ihn niemals verlassen könnte. Doch berufe ich mich darauf, dass ich nicht klar denken kann und auf mein Herz hören sollte. 

Mit Adrenalin vollgepumpt rast es schnell, schreit mir zu ich solle mich umdrehen. Ich folge ihm. 

Herz über Kopf.






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