Sixteen.
Unsicher, ob es wirklich die richtige Entscheidung ist zu ihm zu gehen, packe ich mir das nötigste in eine Tasche. Das schlechte Gewissen nagt an mir, scheint mich keine Sekunde mehr los lassen zu wollen. Noch nie habe ich mir mehr gewünscht die Zeit zurück drehen zu können.
Dieses Gefühl etwas verbockt zu haben und nicht zu wissen wie man es wieder gut machen kann, zu wissen es nicht rückgängig machen zu können und jemand anders verletzt zu haben, dieses schlechte Gewisse zerfrisst mich. Noch nie zuvor habe ich Dean so verletzt gesehen und nie wieder möchte ich ihn so sehen. Seinen Blick ich niemals vergessen. Wie seine grüne Augen den Tränen nahe waren. Die Augenbrauen schmerzvoll zusammen gezogen. Vollkommene Enttäuschung und Schmerz wiederspiegelnd.
Luft ausstoßend schultere ich die Tasche und folge Harry zu seinem Wagen. Ein schon etwas rostiges, schwarzes Auto. Der Bezug der Sitze ist teilweise bereits zerrissen, am Radio fehlen einige Knöpfe und die Scheibenwischer sind abgebrochen. Der Motor jault laut auf, als Harry aufs Gaspedal tritt. Wie so oft spricht er die gesamte Fahrt über nicht, aber eine wirkliche Unterhaltung wäre sowieso nicht möglich, da der Motor jedes Geräusch übertönt.
Es wackelt bei jeder kleinen Unebenheit in der Straße. Der unangenehme Geruch von Zigarettenrauch und Benzin steigt mir in die Nase.
Die Fahrt kommt mir vor wie eine Ewigkeit, scheint nie Enden zu vollen und doch kommen wir letztendlich an unserem Ziel an.
Ich sehe auf das Hochhaus vor mir, folge dem Brünetten mit kleinen Schritten. Nie wollte ich zu den Leuten gehören, die in solchen Häusern wohnen. Ich bin immer stolz auf das schöne Vorort Häuschen gewesen und schäme mich schon beinahe, überhaupt in so einer Gegend gesehen zu werden. Was sollen die Leute bloß über mich denken?
Harry lässt mir den Vortritt in seine Wohnung, offenbart mir ein wahres Schlachtfeld.
Egal wo man hin sieht liegen Bierdosen verteilt, manche leer, andere gerade erst angefangen. Fotos, teilweise zerrissen, auf dem Couchtisch und Faustgroße Löcher in der Tür zum Schlafzimmer, lassen vermuten, dass Harry wohl nicht nur einmal die Fassung verloren haben muss.
Erst jetzt, wo ich ihn auch genauer mustere, fallen mir seine blasse Haut und die dunklen Ringe unter seinen Augen, auf.
"Ach du meine Güte. Was ist hier denn passiert? Hast du das etwa alles getrunken? Oh Gott Harry, was ist hier passiert?" Entsetzt lasse ich meine Tasche auf den dreckigen Boden nieder und hebe ein paar Dosen, die vor meinen Füßen liegen, auf. Harry zuckt nur mit den Schultern. Geht schwer fällig zum Sofa, auf welches er sich plumpsen lässt und einen erleichterten Seufzer von sich gibt. Seine Hand reibt von seiner Hüfte aus über seinen Oberschenkel am rechten Bein, während er mit der anderen einige Dosen schüttelt. Wohl auf der Suche nach einer vollen.
Kurz beobachte ich das Geschehen, bevor ich mit schnellen Schritten auf ihn zu gehe. Meine Absätzen hallen auf dem Holzboden unter ihnen, verleihen meinem Gang die nötige Ausdruckskraft. Bestimmt nehme ich ihm das Bier aus der Hand.
Darauf bedacht nichts zu verschütten, stelle ich alle Dosen auf dem Tisch ordentlich zusammen, bevor ich mich auf die Kante setze, um Harry gegenüber sein zu können. Ich muss einmal tief durch atmen, seinen Handbewegungen einen Moment folgen, bevor ich sprechen kann, ohne unfreundlich oder grob zu klingen. "Hast du Schmerzen?"
Augenblicklich nimmt er seine Hand von seinem Bein, schüttelt den Kopf. "Nein. Alles gut." Ich ziehe eine Augenbraue hoch, mustere seine Gesichtszüge kritisch. Abermals kann ich jedoch nichts herauslesen. "Lüg mich nicht an. Ich weiß dass du Probleme mit deinem Bein hast. Steh dazu und ich kann dir vielleicht helfen. Warst du damit überhaupt mal beim Arzt?"
"Hör auf." Seine Stimme schneidet durch die Luft, harsch und bestimmt. Bevor ich überhaupt fragen kann, was er denn meint, fährt er schon fort.
"Hör auf dich einzumischen. Ich hab dir angeboten hier zu schlafen okay? Aber das beinhaltet nicht, dass du meine Wohnung aufräumen sollst oder einen auf heiligen Samariter tun sollst! Halt dich aus meinen Angelegenheiten raus, Rosemary."
Kopfschüttelnd stehe ich auf, nehme so viele Dosen in die Arme wie ich kann, klemme mir welche unter die Achseln um möglichst selten laufen zu müssen. "Ich werde aber nicht bleiben wenn es hier so aussieht. Ich will ja nichts neu dekorieren.. ich bring die Wohnung nur zurück in den alten Zustand, okay?"
In meinem Rücken brenne seine Augen, die jeder meiner Bewegungen folgen, als ich den Boden und die Möbel mit der Zeit von dem Müll und Dreck befreie. Als die Wohnung wieder annehmbar aussieht, biete ich ihm an für ihn zu kochen, da er nicht so auf mir wirkt, als hätte er die letzten Tage etwas richtiges zu essen bekommen.
Ich öffne die Regale und suche nach etwas essbaren, ohne auf Harrys Antwort zu warten, die sowieso nicht kommen würde. Doch wundert es mich irgendwie, dass nicht mal ein blöder Kommentar kommt, weshalb ich mich zu ihm umdrehe. Ein kleines Lächeln legt sich auf meine Lippen, als ich den ungesund aussehenden Mann auf der Couch schlafen sehe. Seine braunen Locken hängen wild in sein Gesicht, seine Arme vor der Brust verschränkt, während seine Lippen ein Stückchen getrennt sind. Auf Zehenspitzen tapse ich zu ihm und decke ihn vorsichtig mit einer Wolldecke zu.
Das erste Mal sieht er unbeschwert aus, erinnert mich so an den Harry von damals. Vielleicht ist er ja doch noch da, eingeschlossen hinter den ganzen Mauern, aber da. Die Hoffnung möchte ich nicht aufgeben. Sanft streiche ich ihm die Strähnen aus dem Gesicht, kann meinen Blick kaum von ihm lösen. Es ist ein so schöner Anblick, den ich bereits damals immer genossen habe. Neben seiner Attraktivität ist es diese Unschuld, die mich immer wieder in seinen Bann zieht. Er, so ein großer, starker Mann, doch schlafend einfach nur ein harmloser Engel.
Ich reiße mich aus meinen Gedanken, mich dran erinnernd dass ich starre begebe ich mich in die Küche. Ich versuche mein Bestes, aus den Dosensuppen und Fertiggerichten etwas leckeres zu zaubern und am Ende habe ich immerhin eine vernünftige Spaghetti Bolognese hinbekommen. Die Teller klappern laut aufeinander als ich sie aus dem Regal hole. Augenblicklich halte ich in meinen Bewegungen inne, kneife die Augen zusammen, bevor ich rüber zur Couch sehe um zu wissen, ob ich ihn geweckt habe. Natürlich. Aufrecht sitzt er da, sieht sich alarmiert um, seine Hand greift instinktiv unter die Couch, holt ein Messer hervor. Purer Horror liegt für einen Augenblick in seinen Augen, welche zuletzt entgeistert auf mir landen. Er scheint eine Weile zu brauchen um zu realisieren, dass keine Gefahr droht. Erst dann legt er seine Waffe zurück in ihr Versteck, fährt sich erschöpft über das angespannte Gesicht.
Sanft lächelnd entschuldige ich mich, als ich den Topf zum Tisch bringe. Harry nickte lediglich, steht auf und humpelt zum Stuhl. Dieser sackt etwas unter seinem Gewicht ein, hält aber noch so gerade eben stand. Ich tische uns beiden auf, bevor auch ich mich setzte und ihn dabei beobachte wie er das Essen in sich hinein schlingt.
Einige Male sehe ich ihm zu, wie er die Spaghetti zur Hälfte auf die Gabel wickelt, bevor er sich diese in den Mund schiebt und die andere Hälfte aufsaugt.
"Erzählst du mir was mit deinem Bein passiert ist? Bitte." Kurz sieht er von seinem Teller auf, schluckt das was er im Mund hat herunter und öffnet seine Lippen etwas. Schließt diese jedoch schnell wieder. Er überlegt etwas bis er seufzend seine Gabel zur Seite legt. "Lässt du mich dann endlich in Ruhe essen?" "Vielleicht." Verschmitzt grinse ich ihn an, verspüre einen kleinen Triumph, als Harrys Mundwinkel kurz nach oben zucken. Auch wenn er sofort wieder seine genervte Maske aufsetzt, kann ich es erkennen, was mich nur noch mehr dazu ermutigt ihn auszufragen.
"Na gut. Es war 1960 glaube ich." Tief holt Harry Luft, sucht nach den richtigen Worten, versucht sich zu sammeln, bevor er weiter sprechen kann.
"Wo fange ich an?" Unsicher fährt er sich durch die Haare, kaut auf seiner Lippe herum und sieht überall hin, nur nicht zu mir. Er wirkt nervös und unsicher. Ob er je mit jemanden über all das geredet hat? Ich bezweifle es.
Erst möchte ich ihm erzählen was ich bereits weiß, dass er nicht von Anfang an erzählen müsse, aber irgendwie empfinde ich es als besser Harry noch vor zu behalten, dass mich seine Briefe erreicht haben. Ich bin mir unsicher wie er auf diese Nachricht reagieren würde und möchte all die Fortschritte, die ich mit ihm gemacht habe, nicht einfach über Bord werfen. Meine Augen kleben an Harrys Lippen, während sie sich bewegen. Kein einziges Mal wage ich es, ihn zu unterbrechen. Habe sogar Angst mich zu bewegen, ihn dadurch abzulenken, denn mit jedem Wort das er spricht versinkt er tiefer in seinen Erinnerungen. Mit jedem Wort das seine Lippen verlassen, scheint Ballast von ihm ab zufallen. All dies scheint schon längst überfällig für ihn und auch wenn die Erinnerungen schmerzhaft sind, scheint es Harry zu helfen.
"Also wie gesagt 1960. Ich war Kriegsgefangener und sie versuchten irgendwelche Informationen aus mir heraus zu bekommen. Naja jedenfalls war es eigentlich ein Tag wie jeder andere. Früh morgens haben sie mich aus meiner Zelle geholt und in einen anderen Raum gebracht. Sie haben ihre übliche Prozedur vollzogen, bis jemand rein kam den ich noch nie zuvor gesehen habe. Für Vietnamesen ziemlich groß gewachsen, fast so groß wie ich. Er war Ende vierzig und hatte so eine große Narbe überm Augen." Leicht schüttelt er den Kopf, versucht scheinbar die Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben.
"Ich werde sein Gesicht nie vergessen können.. Ich glaube er war einer der Ranghöheren, auf seiner Jacke hatte er jedenfalls einige Abzeichen und kommandierte die Anderen ziemlich herum. Auf jeden Fall hat er mich dann nach paar Sachen gefragt, die ich weder beantworten konnte, noch wollte. Aber er gab sich nicht so wie die anderen damit zufrieden mich bewusstlos zu prügeln, anscheinend war es von ziemlich großer Bedeutung, dass sie Antworten bekamen. Er hat dann zu seiner Machete gegriffen und damit auf mich eingeschlagen. Anfangs hat es mir nur ein paar Schnitte eingebracht, aber als ich dann immer noch nicht geredet habe, hat er nur irgendetwas Unverständliches geschrien und dann auf mein Bein geschlagen. Das Nächste das ich noch weiß ist, dass ich in meiner Zelle wieder aufgewacht bin, mit einem provisorischem Verband aus dreckigen Tüchern um meine Leiste. Ich konnte Wochen kaum laufen. Ich weiß nicht genau wie tief er geschnitten hatte, da ich mich erst nach langer Zeit getraut habe den Verband abzumachen, aber er muss wohl einige Muskeln und Sehnen getroffen haben."
Wie paralysiert starrt Harry auf die kalt gewordenen Nudeln vor sich. Zwischen seinen Augenbrauen hat sich eine kleine Falte gebildet, während seine Hände das Besteck umklammern, als wären sie ein rettendes Seil.
Ich brauche eine Weile um zu realisieren, was er mir gerade erzählt hat und die richtigen Worte zu finden. Auch wenn ich selber weiß, dass kein einziges Wort auf der Welt jetzt das Richtige sein würde. Vorsichtig lege ich meine Hand auf die des Veteranen, sehe ihn mitleidig an. "Das tut mir leid, Harry. Du hast so etwas nicht verdient, niemand hat sowas verdient. Das waren Monster und ich wünschte du hättest nicht darunter leiden müssen, dass es solche Menschen gibt."
Wie vom Blitz getroffen zieht Harry seine Hand zurück, wirt mir einen aufgebrachten Blick zu. "Ich brauch kein Mitleid. Mir geht es gut klar?!" Sein Stuhl quietscht laut, als er aufspringt und aus dem Zimmer humpelt. Mit einem lauten Knall fällt die kaputte Schlafzimmer Tür zu, lässt mich alleine und verzweifelt zurück. Ich weiß nicht mehr weiter. Egal was ich tue, egal was ich sage, es ist falsch. Nichts kann ich richtig machen. Tag für Tag verliere ich mehr, zerstöre mehr.
Die Luft geräuschvoll ausstoßend stehe ich auf und stelle das Geschirr in die Spüle, bevor ich mich auf der Couch niederlasse. Meine Händen greifen nach den Fotos auf dem Couchtisch. Ein paar Wenige sind noch heile.
Ich und Harry bei der Silberhochzeit meiner Eltern.
Ich und Harry in seiner Wohnung am Abend unserer Verlobung.
Es ist ziemlich eng in der Wohnung und schön war auch etwas anderes. Doch bin ich gerne dort zu Besuch im Hochhaus gewesen. Immer wieder traf ich dort auf neue Leute. Das ständige ein und aus war etwas neues was ich so nicht gekannt habe. Aber vor allem fand ich es schön dort, weil Harry da war. Harry hat diese Wohnung geliebt, auch wenn er sich selbst immer über die kaputten Wasser und Stromleitungen aufgeregt hat, ist er so stolz auf diese kleine, muffige Wohnung gewesen. Es war seine erste eigene. Der erste Ort an dem er sich vollkommen ausleben konnte, etwas was er komplett selbst finanziert hatte und seins nennen durfte. Mit Harry war jeder ach so schreckliche Ort der schönste Platz auf Erden. Er hat es immer geschafft mich von allem abzulenken, mir die Sonnenstrahlen hinter den Wolken zu zeigen.
Doch seit er gegangen ist, ist es schwer für mich gewesen das Schöne in den Dingen zu erkennen. War etwas nicht perfekt, war es schlecht und selbst wenn etwas perfekt war, war es nicht gut genug. Vielleicht weil danach nichts mehr daran reichte, wie die Welt mit Harry gewesen ist. Weil nichts mehr so schön sein konnte, wie es mit ihm war. Alles hatte plötzlich seinen Glanz verloren.
Nicht nur Dinge oder Orte, auch mein Leben.
Auch Dean hat es nie wirklich geschafft, die Farben von damals zurück zu bringen. Wir haben so viele wunderschöne Dinge zusammen erlebt, so viele unvergessliche Momente, doch ist keiner so gewesen, wie sie mit dem Lockenkopf von damals gewesen sind.
Und jetzt wo ich bei Harry bin, sehe ich hin und wieder eine Rose wieder in einem kräftigen Rot erstrahlen, einen Regenbogen am Himmel oder die Sonnenstrahlen zwischen den Wolken hervorkommen. Doch der Harry der jetzt bei mir ist, scheint auch nicht in der Lage zu sein alles wieder so sehr strahlen zu lassen wie zehn Jahre zuvor. Dafür ist er zu anders. Zu wenig er selbst.
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