Seven.
Verloren blicke ich ihm hinterher, wie er mit strammen Gang, welcher einzig und allein durch ein leichtes Nachziehen des rechten Beines beeinträchtigt wird, zu seinem Auto geht und sich reinsetzt. Zuvor habe ich sein Humpeln gar nicht bemerkt, doch jetzt scheint es so auffällig in seinen sonst so militärisch perfektionierten Bewegungen. Es verletzt mich zu sehen, dass er anscheinend auch heute noch, dem Drill untersteht, dem er damals unterzogen wurde.
Ohne noch einen weiteren Blick auszutauschen, verschwindet er auf der Straße, noch gerade rechtzeitig. Samuel kommt mit Joanne an der Hand den Bordstein entlang spaziert, sie lachen und kichern, während Joanne Sam's Arm hin und her schwingen lässt. Mit einem teils glücklichen, teils traurigen Lächeln beobachte ich meine Kinder, bis sie an mir vorbei im Haus verschwinden, jedoch nicht ohne zuvor brav ihre Schuhe auszuziehen und mich mit einer Umarmung zu grüßen. Ich habe wundervolle Kinder, der Stolz über sie breitet sich erneut in meiner Brust aus.
Ich stelle sicher, dass beide mit ihren Hausaufgaben beschäftigt sind und danach brav ihre Instrumente proben würden. Ich habe noch etwas Zeit bevor ich anfangen müsste zu kochen und Dean sollte auch noch etwas für den Heimweg brauchen, also schließe ich die Schlafzimmertür hinter mir und krame das Paket aus dem Schrank. Ich greife nach dem ersten Brief, bedacht darauf den Stapel nicht umzuschmeißen, da alles sorgfältig geordnet ist.
24. Dezember 1956
Geliebte Rose,
Mir wurde heute zugetragen, dass wir heilig Abend haben. Ich hätte es beinahe vergessen, wir haben viel zu tun und oft vergesse ich was für einen Tag wir haben. Zeit ist längst überflüssig geworden, wir versuchen bis zum nächsten Sonnenaufgang unbeschadet zu überleben, ob dies der Tagesanbruch eines Montags oder Sonntags ist, spielt keine Rolle mehr. Dennoch freue ich mich von heute erfahren zu haben.
Wir haben entschlossen an einem heiligen Tag wie heute nicht weiter zu wandern. Wir legen eine Rast ein und hoffen wenigstens heute ohne entdeckt und angegriffen zu werden schlafen zu können. Auch wenn ich noch Wache halten muss, ist dies wie ein freier Tag für mich. Ich wollte ihn unbedingt damit füllen dir zu schreiben. Noch immer besteht nicht die Möglichkeit für uns die Briefe in einem zentralen Lager abzugeben, aber in wenigen Monaten soll es so weit sein. Du wartest sicherlich sehnsüchtig auf meine Briefe und ich möchte dir mit ihnen die Angst um mich nehmen. Ich habe zwar einige kleinere Verletzungen davon getragen, aber mir geht es gut. Viel schlimmer als die körperlichen Schmerzen sind die die mein Herz verursacht. Ich vermisse dich Tag für Tag mehr, ich wünschte ich könnte dich in meinen Armen halten, deine Stimme, dein Lachen hören, in deine strahlenden blauen Augen sehen, dein glänzendes blondes Haar an meinem Kinn kitzeln fühlen. Ich trage dich im im Herzen, doch die Erinnerungen fühlen sich entfernt und fremd an. Als hätte nicht ich all dies erlebt sondern in einem Film gesehen. Ich habe versprochen dich nie zu vergessen und das werde ich auch nie. Ich werde immer den Klang deines Namens kennen und dein Bildhübsches Gesicht in Tausenden erkennen, ich werde immer das Gefühl erkennen dass nur du in mir verursachst, doch im Hier und Jetzt scheint alles zu verblassen. Hattest du Sommersprossen? Hattest du dein Grübchen rechts oder links, oder auf beiden Seiten? War dein kleiner oder dein Zeigefinger etwas krumm durch einen Bruch? Ich weiß es nicht mehr und ich habe Angst. Ich habe Angst, dass ich immer mehr vergessen werde und Nichts mehr habe was mich bei Verstand hält. Jeden Tag schließe ich meine Augen und versuche mich zu erinnern, an unser erstes Treffen, unsere Verlobung doch so viele Dinge sind mir unklar geworden.
Wir haben uns das erste Mal in einem Café getroffen. Ich hatte meine Cola über deinem Kleid verschüttet. Doch anstatt wütend zu sein, lachtest du, bezaubernder als ich es je zuvor gehört hatte. Ich erinnere mich an dein Lachen, wie könnte ich es je vergessen? Doch was war danach? Habe ich dir Geld für die Reinigung gegeben? Habe ich mich entschuldigt? Ich habe es vergessen, verzeihe mir.
Verzeihe mir. Wie oft ich diese Worte wohl noch lesen und hören müsste? Wie oft würde ich sie noch selber sagen müssen, wie oft wird es ein hoffnungsloses Flehen für Vergebung sein, für Taten die nicht zu vergeben sind? Wie oft wird noch jemand verletzt und wie oft würde noch jemand versuchen mit unbedeutenden Worten alles wieder gut zu machen?
Ich binde mir meine nervenden Haare zu einem Zopf zusammen, aus dem einige Strähnen unordentlich raus hängen bevor ich das Blatt wieder aufnehme und es in meinen Händen wende, auf der Suche nach dem restlichen Text. Am unteren Rand ist der Brief ausgefranst, die Rückseite ist auch nicht beschrieben. Irgendwie muss die zweite Hälfte verloren gegangen sein. Sie wurde grob und rücksichtslos von ihrem Gegenstück gerissen ohne an die Folgen zu denken. Ohne daran zu denken, dass nun beide Hälften nutzlos waren, ohne daran zu denken wie kaputt beide ohne einander waren und dass es doch kein anderes passendes Gegenstück für sie gab als dieses eine einzigartige. Sie waren für einander geschrieben und getrennt waren sie nichts als zwei nutzlose, kaputte, sinnlose Teile eines Ganzen.
Luft aus meinem Brustkorb entlassend, greife ich nach dem nächsten Umschlag, nachdem ich den halben Brief zu den anderen gelegt habe.
Eine Falte legt sich zwischen meine Augenbrauen, der Umschlag ist unverschlossen, der Brief ragt noch mit einigen Ecken heraus, unordentlich war er reingestopft worden. In krakeliger Handschrift steht "Rose" auf dem Umschlag. Sonst nahm Harry sich immer die Zeit in ordentlichster Schrift meinen vollen Namen und Anschrift zu notieren. Ein ungutes Gefühl macht sich in mir breit, er musst es eilig gehabt haben.
6. Mai 57
Ich habe Schwierigkeiten die Zahlen zu entziffern, doch als ich begreife was da steht, spielt mein Körper verrückt. Eine riesige Last scheint sich auf meine Brust zu legen, das Atmen tut weh, mein Magen verkrampft sich, am liebsten will ich mich übergeben, schreien und nicht daran erinnert werden doch all die Erinnerungen von meinem schlimmsten Tag, kommen unvermeidbar hoch. Es war der 09. Mai an dem ich las Harry wäre verschollen, es war der Tag an dem ich mein Leben und sich aufgegeben habe. Doch all die Jahre plagte mich die Unsicherheit nicht genau zu wissen was Harry zugestoßen war, die Unsicherheit ob er noch lebte oder wirklich tot war. Letzteres wurde mir heute bereits genommen, doch es senkt nicht meine Angst zu lesen was nun wirklich passiert war.
Ich wollte zwar immer Antworten auf meine Fragen doch im Moment kämpfe ich mit mir weiter zu lesen. Auf einmal ist meine Neugierde vollkommen verflogen, das Gefühl, dass es eine schlechte Entscheidung wäre weiter zu lesen, macht sich in mir breit. Doch trotz allem tue ich es. Ich bin es Harry schuldig, selbst kurz bevor er für zehn Jahre verschwunden ist, dachte er nur daran mir einen Brief zu hinterlassen. Da ist es nur mehr als gerecht, diesen auch zu lesen.
Ich habe nicht viel Zeit. Sie haben uns entdeckt. Sie kommen. Es sind mehr als wir, viel mehr mit besseren Waffen. Ich habe Angst, aber ich werde kämpfen. Ich kämpfe für dich und ich werde das hier schaffen, denn du gibst mir Kraft.
Vergiss nie, dass ich die Liebe.
Harry
Er stopfte den Zettel in den Umschlag und legte ihn auf den Tisch mitten im Zelt, damit er hoffentlich gefunden werden würde, bevor er raus rannte. Raus, wo bereits alles drüber und drunter ging, der General schrie Befehle, die Soldaten rannten hin und her, sammelten Waffen und Helme ein, suchten ihren Platz und die Neuankömmlinge versuchten keine Panikattacke zu bekommen. Arme Jungen, dachte sich Harry. Teilweise waren sie noch jünger als er und wurden direkt ins kalte Wasser geschmissen, frisch aus den Armen der Mutter entrissen und in den kalten, hemmungslosen Krieg geworfen der alles zerstörte was ihm zu nahe kam.
Harry küsste das Kreuz, das an einer dünnen Schnurr stets um seinen Hals hing. Erfahren durch die letzten Monaten schnappte er sich sein Gewehr und folgte hirnlos den Anweisungen seines Vorgesetzten. Er stand in zweiter Reihe, hinter den altgedienten, teils hochrangigen Soldaten, vor den unerfahrenen Jünglingen. Rechts von ihm Holdman, ein grimmiger, groß gebauter Mann Mitte dreißig. Harry und er verstanden sich nicht gut, Holdman hasste Amerika dafür dass er in diesen Krieg geschickt wurde, er hasste aber eigentlich alles und jeden.
Harry hingegen kämpfte mit Stolz und Patriotismus im Herzen. Links von ihm stand Sam Winchester, er war knapp einen Kopf größer als Harry und nicht weniger muskulös, doch noch sehr jung. Er wurde aus seinem Studium gerissen und nach Vietnam geschickt, doch er schlug sich gut. Er machte es nicht gerne, aber er tat was nötig war. Er war ein guter Mann, ein kluger, junger Mann der so oft von seinen Träumen redete, nach dem Krieg zurück zu seinem Bruder und seiner Frau Jessica zu kehren. Harry klopfte ihm noch einmal auf die Schulter, woraufhin er ein schwaches Lächeln zurück bekam. "Für Jessica." "Für Rosemary." Sie nickten sich zu, richteten ihre Helme und hoben ihre Gewehre.
Der General gab Befehle, führte den Trupp auf die Feinde zu. Er stand selbst in der ersten Reihe, er fiel schon zu Beginn des Elends.
Harry sah nichts als Blut, hörte nichts als Schüsse und Schreie. Seine Sinne waren benebelt vom Adrenalin. Er dachte nicht mehr, er reagierte nur noch. Er schoss, er stach und wich aus. Er hielt den Leichnam eines Kameraden vor sich zum Schutz. Er rannte vor, er tötete Feinde. Er tötete Väter, Söhne, Brüder und Ehemänner. Er tötete ohne Rücksicht. Er tat was er tun musste und fühlte nichts in sich. Er war in einem Rausch. Er blendete alles andere aus, die stechenden Schmerzen in seiner linken Schulter und die qualvollen Hilfeschreie.
Nur flüchtig nahm er Sam war wie er Harry Rückendeckung gab als er weiter nach vorne preschte, immer weiter und weiter ins feindliche Gelände, nur aus dem Augenwinkel sah er wie Sam ihm das Leben rettete, nur verschwommen fiel ihm Sam's großer Körper auf als er zu Boden fiel mit leeren Augen. Schlaff und leblos lag er zwischen den anderen. Ob Amerikaner oder Vietnamese, alle lagen sie gemeinsam am Boden, auf der selben Erde aus dem selben unsinnigen Grund.
"HARRY!" Es nahm Sams letzte Kraft in Anspruch, es war ein von Blut erstickter Schrei. Harry drehte sich um und schlug mit seinem Gewehr nach dem Mann vor sich. Er schlug sich gut obwohl er nie jemand für den Nahkampf war. Harry schlug und trat, versuchte Distanz zwischen sich und seinem Gegenüber zu bringen. Er wehrte noch gerade rechtzeitig das auf ihn zukommende Messer ab, stolperte zurück und gegen die Brust eines anderen. Eine scharfe Klinge befand sich an seiner Kehle, bevor er realisieren konnte was passierte. Er saß in der Falle. Er ließ seine Waffe fallen, seine letzte Chance auf Erbarmen.
Harry sackte zusammen. Sein Kopf pochte von dem dumpfen Schlag, seine Sicht wurde schwarz, die Geräusche verschwammen bis sie völlig verstummten. Sein geschundener Körper wurde unsanft mitgezogen, seine Füße blieben hingen an Steinen auf dem unebenen Boden, an Beinen, Armen und Köpfen der Gefallenen. Doch er wurde weiter gezogen.
"Ich bin wieder da." Dean steht lächelnd in der Tür, eine Hand hinter dem Rücken versteckt. Aus dem Augenwinkel erhasche ich einen Blich auf ihn, sitze aber mit dem Rücken zu ihm. Schnell wische ich mir die Tränen von den Wangen und schiebe den Karton, mit dem Fuß, unters Bett. Ich habe mir die schlimmsten Dinge ausgemalt, die Harry bei dem Überfall passieren konnten und mein schlechtes Gewissen wächst mit jedem Gedanken. Ich habe ihn aufgegeben und in der Hölle zurückgelassen. ohne mich weiter zu kümmern. Stattdessen habe ich nur an mich gedacht und mir einen Neuen gesucht. Jetzt nach zehn Jahren, lebt Harry, irgendwie hat er es daraus geschafft und steht nun allein da, weil ich nur an mich gedacht habe.
Wie schon so oft am heutigen Tag setze ich ein falsches Lächeln auf und drehe mich zu meinem Mann, dessen Lächeln sofort zu einer besorgten Miene wechselt. "Alles gut mein Schatz? Hast du geweint?" Lächelnd schüttel ich meinen Kopf. "Nein, die Pollen machen mir nur wieder zu schaffen, alles gut."
Dean entspannt sich etwas, lässt die Schultern wieder locker. "Ich hab dir etwas mitgebracht." Er hält mir die weißen Rosen hin und lächelte stolz. "Sie sind wunderschön, danke." Strahlend küsse ich Dean, bevor ich den Strauß entgegen nehme und eine Vase raussuche. Dean kauft mir immer Rosen, wenn er Blumen holt. Du hast nicht nur den selben Namen wie sie, sondern bist auch genauso schön, sagt er immer. "Womit habe ich das verdient?"
"Damit, dass du es mit mir Tag für Tag aushältst." Liebevoll umarmt er mich von hinten, während ich die Blumen in die Vase stecke. Sanft liebkosen seine Lippen meinen Hals, seine Hände ruhen auf meinen Bauch.
"Weißt du," er küsste meine Schulter, hinterlässt da Gänsehaut wo er war. Ich schließe die Augen und genieße die sanften Berührungen, vergesse für einen Moment all meine Sorgen. "Joanne bettelt schon die ganze Zeit nach einer kleinen Schwester und ich dachte wir sollten ihr vielleicht diesen Wunsch erfüllen." Ein liebevolles Lächeln liegt auf Deans Lippen während er weiter meinen Schulter hinunter küsst, seine Arme über meine Seiten streichen.
In seinen Armen drehe ich mich, lege meine um seinen Nacken und mustere sein Gesicht. Heute scheint er ausgeschlafener, nicht ganz so gestresst wie sonst.
Natürlich hätte ich gerne weitere Kinder mit ihm, doch die Sache mit Harry nimmt mich im Moment vollkommen ein. Weder habe ich Lust, noch glaube ich, dass ich die Kraft hätte mich um ein drittes Kind zu kümmern. Vorsichtig spreche ich meine Bedenken aus, sage ich brauche noch etwas Zeit, zum nachdenken.
Um ihn zu beschwichtigen küsse ich seine Wange, bevor ich mich aus seinem Griff löse.
"Okay." Etwas Enttäuschung schwingt in seiner Stimme mit, aber er scheint es zu verstehen es.
"Würdest du mit mir nachher zu Sam gehen? Ich denke da würden einige neue Blumen mal ganz gut tun und ich war lange nicht mehr dort."
Leicht lächelnd sage ich zu, glücklich über Deans Verständnis und den Themenwechsel.
"Ich koche und nach dem Essen mache ich die Kinder ausgehfertig, dann können wir gehen."
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