9 - Eine weitere Gefangenschaft?

Ruby trat zum ersten Mal aus der kleinen Hütte und sah sich um. Das Lager bestand aus nicht mehr als Zehn kleinen Holzhütten. Sie sahen schäbig aus, so als hätte man sich beim Aufbau keine Mühe gegeben. Warum lebten die Leute in dieser tristen Gegend, wenn es nicht weit entfernt eine wundervolle Stadt gab?

Die Nixe folgte Taron den steinigen Weg entlang bis zu einer etwas größeren Hütte.

"Du solltest als aller erstes mal den Boss kennenlernen", meinte er, während er an die Tür klopfte.

"Boss?" fragte sie ihn verwirrt, woraufhin Taron mit einem Lächeln zu ihr runtersah.

"Ja, keine Sorge, er wird dir gleich alles erklären."

Tausend Fragen schwirrten in Rubys Kopf herum. Wer war dieser Boss? War er wie einer der Ältesten von Laothea? Und vor allem, würde er sie denn so einfach gehen lassen?
Nach allem, was sie erlebt hatte und dazu noch von Thyfen erzählt bekommen hatte, bezweifelte Ruby, dass ihr Aufenthalt hier ein Zuckerschlecken werden würde.

Die Tür öffnete sich mit einem tiefen Knarren. Zu Ruby's Überraschung war es kein Mann, sondern eine junge Frau, die in der Tür stand. Sie hatte eine hellere Hautfarbe, als die meisten Leute hier in der Wüste und hob sich so von den anderen ab. Ihre glatten, hellbraunen Haare waren locker an ihrem Hinterkopf zusammengebunden.
Mit einem Finger vor ihren Lippen, zeigte sie uns, dass wir leise sein sollten und deutete dann auf das Baby in ihrem Arm.

"Er is' gerade eingeschlafen", wisperte sie und nahm einen Schritt zurück, sodass Taron und Ruby die Hütte betreten konnten.
Dann hielt sie der Nixe ihre freie Hand hin. "Ich bin Sara. Freut mich dich kennenzulernen."

Bei dem breiten Lächeln in Sara's Gesicht, wäre Ruby fast zusammengezuckt. Ihre dünnen Spitzen Giftzähne waren da nämlich nicht zu übersehen.
Ruby musste an Cole zurückdenken, der einzig andere Naja, dem sie bislang begegnet war. Allerdings sah sie nun auch wieder seinen leblosen Körper vor ihrem geistigen Auge. Sein blutüberströmter Körper fest an einen Stuhl gebunden. Die weite Blutlache auf dem Boden.

Die Nixe schüttelte die Bilder aus ihrem Kopf und nahm höflich die Hand der jungen Frau. Sie hoffte inständig, dass keiner ihre zitternden Hände bemerkte.
"Ruby", brachte sie noch heraus, bevor ihre Stimme wieder versagte.

"Ihr wollt bestimmt zu Malhi. Moment ich hol' ihn", sagte Sara dann und verließ kurz das Zimmer.
Ruby sah sich ein wenig in dem Raum um, in dem sie standen. Ein großes Sofa mit einem kleinen Tisch und Stühlen, viel mehr gab es nicht.

"Na, sieh mal einer an, wer wach is'", erklang eine tiefe Stimme. Ruby drehte sich zu der fremden Person um und sah nervös zu ihr hoch.
Der sogenannte 'Boss' kam in schweren Schritten auf sie zu und streckte ihr lächelnd die Hand entgegen. Wie bei Sara nahm sie seine Hand und hoffte, dass man ihr nicht ansah, wie viel Angst der große Mann ihr machte.

Er stellte sich als Malhi vor, Sara's Ehemann. Ruby hatte es bis zu dem Zeitpunkt nicht zusammengefügt, aber sie hatte mit ihren Gedanken ja auch schon genug zu kämpfen.

"Kommt, setzt euch", sagte der Boss in einer weniger befehlenden, sondern eher bittenden Stimme.

Ruby setzte sich neben Taron auf das Sofa, während Malhi sich ihnen gegenüber auf einen der Stühle setzte.
Die Nixe wusste nicht wem sie hier vertrauen konnte, geschweige denn ob sie hier überhaupt jemandem vertrauen konnte, aber wenn sie sich entscheiden müsste, würde sie sich an das Fantom richten. Taron hatte sie offensichtlich aus guten Absichten hierher gebracht und sie würde einfach hoffen, dass er ihr weiterhin helfen würde.

"Also, Ruby, richtig? Taron hat mir erzählt, dass du ziemlich angeschlagen warst. Schön, dass du schon wieder rumlaufen kannst."

Sie wusste nicht wirklich, was sie dazu sagen sollte, also blieb sie still.

„Ruby kann noch nich‘ ohne Schmerzen sprechen“, erklärte Taron.
Die Nixe warf ihm einen dankbaren Blick zu, bevor sie sich wieder Malhi zuwandte. An seinem Lächeln konnte sie auch bei ihm zwei spitze Zähne sehen.

„Du hast bestimmt viele Fragen“, meinte Malhi dann und Ruby nickte wieder. Zum Glück brauchte sie ihre Fragen nicht extra auszusprechen, denn der Naja begann gleich zu erzählen.
„Wie dir sicher schon aufgefallen ist, liegt unsere Siedlung weit außerhalb von Ashra. Das liegt ganz einfach daran, dass wir hier sicherer sind, als in der Stadt. Weißt du, wir sind eine Gruppe von Rebellen, die sich gegen Lord Thyfen auflehnen. Die Tiden. Vielleicht hast du ja sogar schon von uns gehört.“

Ruby schüttelte leicht ihren Kopf. Von einer Gruppe Rebellen hatte sie noch nichts gehört. Ihr wurde zwar erzählt, dass es ein paar Leute gab, die Thyfen schlecht gesinnt waren, aber mit einer ganzen Schar hatte sie nicht gerechnet.

„Unsere kleine Familie besteht aus Außenseitern“, erklärte Malhi weiter, „Leute, die es in ihrem Leben nich‘ leicht hatten und, die durch den Lord großes Leid erfahren haben. So wie du auch.“

Es stimmte. Thyfen hatte Ruby verletzt… Aber er war nicht derjenige gewesen, der sie an eine Gruppe zwielichtiger Leute verkauft hatte. Er war nicht derjenige gewesen, der sie so behandelt hatte, als wäre sie keine lebende, fühlende Person. Nein, er hatte erst angefangen sie schlecht zu behandeln, als sie sich ihm widersetzt hatte – weil er nicht nochmal verletzt werden wollte und ihr deshalb zuvor gekommen war. Nur zu gerne erinnerte sie sich an ihre ersten Tage in Ashra. Die Freude, die sie dank ihrer neuen Freiheit verspürt hatte.

„Thyfen is‘ ein verbitterter Mann“, sagte sie endlich, „Er is‘ in vielen Hinsichten grausam… aber auch er hat schwer leiden müssen.“

Genau, denn das alles hatte erst angefangen, als seine Eltern ermordet wurden. Und der Verrat seines besten Freundes hat ihn über die Schwelle gestoßen. Wenn, dann gab Ruby diesem ‚Freund‘ die Schuld an Thyfens gefühlskaltem Wesen. Und auch wenn sich die Nixe unwohl dabei fühlte, den Lord zu verteidigen, musste sie einfach erwähnen, dass nicht alle Schuld nur ihm zugesteckt werden sollte.

Offenbar überrascht von ihrer Aussage, sahen die zwei Männer sie mit großen Augen an. Ruby wusste nicht, was sie davon halten sollte, aber sie wurde mit jeder Sekunde unruhiger. Hatte sie etwas falsches gesagt? War sie zu weit gegangen? Ihr Herz pochte wild in ihrer Brust und wurde schneller, mit jedem Augenblick der Stille, der sich durch den Raum zog. Würde sie jetzt für ihre Worte bestraft werden? Eine erdrückende Hitze breitete sich, bei diesem Gedanken, in ihrem Körper aus. Es war nicht auszuhalten.

Mit einem Satz sprang die Nixe vom Sofa auf und lief zur Tür. Jemand rief ihren Namen, doch sie reagierte nicht. Sie traute sich nicht, sich umzudrehen und riss stattdessen so schnell wie möglich die Tür auf. Sofort spürte sie, wie sich die Sonne wieder in ihre viel zu helle Haut brannte.

Doch dann erstarrte ihr Körper in der Türschwelle. Keinen einzigen Schritt konnte sie mehr machen. Es war nicht, dass sie es nicht wollte, nein, wenn es nach ihr ginge, wäre sie schon lange weit weg von diesem Ort. Doch so kam es nicht, denn mindestens ein dutzend Leute hatten sich vor der Hütte versammelt und versperrten ihr den Weg.

Ihr verängstigter Blick fuhr über die vielen unbekannten Gesichter, bis er an einem Bekannten hängen blieb. Iari. Die junge Drakonierin schmunzelte ihr schelmisch zu, so als würde sie Rubys schockiertes Gesicht richtig genießen.

Mit all den Augen, die auf ihr lagen, fühlte sie sich plötzlich wieder wie auf der Auktion. Wildes Geflüster ertönte aus der Menge und Ruby hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Mehrmals konnte sie das Wort ‚Nixe‘ hören.
Verzweifelt wischte sie ihre schwitzenden Hände an dem weichen Stoff ihres bodenlangen Kleides ab und nahm einen unsicheren Schritt zurück. Sie wollte einfach nur weg. Sie musste weg. Aber wohin? Sie konnte nirgendswo hin, konnte sich nicht verstecken.
Es gab kein Entkommen. Die Tiden hatten sie umstellt.

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