5 - Der wahre Lord
Einige langlebige Tage waren nach dem musikalischen Abendessen vergangen und Ruby war wirklich froh, dass Thyfen ihn seitdem nicht mehr erwähnt hatte.
Sehr viele Möglichkeiten hatte er jedoch auch nicht bekommen, denn der junge Lord hatte die meiste Zeit in seinem Arbeitszimmer verbracht. Ruby wusste nicht genau, was er dort tat, aber sie wollte ihn auf keinen Fall stören. Und trotzdem machte sie sich auf den Weg dorthin.
Sie musste ihm irgendwie erklären, dass er keinerlei Schuld an ihrem Verhalten trug. Wie genau sie ihm das klar machen sollte, wusste die Nixe allerdings noch nicht.
Nervös stand sie vor der geschlossenen Holztür. Sie hob eine Hand, um zu klopfen, traute sich aber nicht. Während sie mit sich rang, hörte die Nixe Stimmen von der anderen Seite der Tür. Hatte Thyfen Besuch oder sprach er mit sich selbst?
Neugierig drückte Ruby ihr rechtes Ohr gegen die Tür. Sie konnte Thyfens Stimme wahrnehmen, wie sie in leisen Sätzen sprach.
Eine lange Pause entstand, doch dann hörte sie auch eine andere Stimme. Sie war eindeutig männlich, klang aber irgendwie gezwungen, so als würde dem Mann das Sprechen schwer fallen.
Plötzlich ertönte ein Schrei. Die Nixe schreckte von der Tür zurück und fiel von dem Schwung rückwärts auf den Boden.
"Au..." stieß sie stöhnend aus und versuchte schnell wieder aufzustehen.
Bevor sie überlegen konnte, was sie nun tun sollte, ging die Tür zum Arbeitszimmer schon auf und Thyfen sah mit einem überraschten Gesichtsausdruck zu ihr herunter.
Ein leises Winseln erklang aus dem Raum hinter ihm und Rubys Blick suchte sofort nach der Quelle.
Der junge Lord seufzte und fuhr sich einmal durch seine kurzen, dunkelbraunen Haare. Dann bat er Ruby zu sich hinein.
Ihre Beine bewegten sich nur schwer, ein träger Schritt nach dem anderen.
Es war das erste Mal, dass sie Thyfens Arbeitszimmer von innen sah. Wie in ihrem Schlafzimmer gab es zwei große Fenster, welche den Raum mit viel Licht versorgten. Eine der Wände war voll mit Regalen, die von oben bis unten mit Büchern bestückt waren und an der gegenüberliegenden Seite stand ein großer Schreibtisch. Allerdings konnte Ruby sich nicht darauf konzentrieren, welche Art von Büchern in den Regalen lagen, oder was für Dokumente auf dem Tisch verteilt waren. Denn in der Mitte des Raums, auf einem soliden Holzstuhl, war ein Mann festgebunden.
Seine Beine waren mit einem Strick an je ein Stuhlbein befestigt und seine Arme genauso an den Armlehnen.
Cole...
Ruby erkannte den Mann vor ihr, als den Naja wieder, an den ihr Vater sie verkauft hatte. Ängstlich sah sie an ihm herunter, wo ihr eine dunkle Blutlache auf dem sonst so hellen Boden auffiel. Das Blut tropfte kontinuierlich von einem der Armlehnen hinunter. In ihr lag etwas kleines, längliches und als sie Cole etwas näher betrachtete, bemerkte sie auch was.
Es war ein Finger.
Die junge Nixe presste sich die Hand vor den Mund. Sie war sich nicht sicher, ob sie schreien oder brechen musste. Was es auch war, sie schluckte es runter.
Die Tür des Folterraums schloss sich hinter ihr und der junge Lord kam an ihr vorbeigelaufen und hockte sich vor dem Gefangenen hin. Sein Gesicht war frei von jeglichen Emotionen. Er sah Cole einfach nur an.
"Ich glaub' wir sind hier eh fertig", seufzte er und dann...
Rammte er ihm ein Messer durchs Herz.
Ruby hätte aufgeschrien, doch es war so schnell passiert, dass sie gar nicht in der Lage gewesen war darauf zu reagieren. Im Nachhinein war das wahrscheinlich auch besser gewesen.
In was war sie gerade hineinspaziert?
Sie schluckte und senkte endlich die Hand von ihrem Mund. Eisern biss sie die Zähne zusammen, damit ihr kein Missgeschick passierte. Die Offenbarung ihrer Sirenen-Kräfte würde jetzt nur noch fehlen...
Thyfen. Wie hatte sie sich so stark in ihm irren können? War sie wirklich so naiv zu glauben, dass er eine gute Person war? Oder hatte sie sich nur so sehr nach einem glücklichen Leben gesehnt, dass sie all die Zeichen verdrängt hatte?
"Es is' eine Schande, wirklich", sagte Thyfen plötzlich mit kühler Stimme, "Deine Leute konnten es natürlich nich' wissen, aber dieser Mann is' ein Schwindler. Er hatte nie vor euer Geheimnis zu bewahren. Aber jetz' brauchst du dir darum keine Gedanken mehr zu machen."
Was sagte er da? Das machte doch keinen Sinn. Selbst wenn Cole sein Versprechen brechen wollte, gab das Thyfen doch nicht das Recht ihn umzubringen. Und auch noch auf diese grausame Weise...
Der Metamorph stand auf und drehte sich zu ihr.
"Tut mir leid, dass du das mitbekommen hast", meinte er mit seinem charmanten Lächeln.
Ruby fiel ein paar Schritte rückwärts, bis sie letztendlich an die Wand stieß. Der junge Lord lief gemächlich auf sie zu und hinterließ dabei blutige Abdrücke auf dem Boden.
Die Nixe presste ihren Rücken fester gegen die Wand, wünschend, dass sie einfach hindurchgleiten und fliehen könnte.
Das Lächeln hatte Thyfens Lippen noch immer nicht verlassen. Jeder einzelne seiner Schritte drang wie ein Alarm in ihre Ohren ein und löste eine weitere Welle von Panik aus. Er kam näher und näher, bis er nur wenige Zentimeter vor ihr endlich zum Stehen kam.
Rubys Herz schlug wild gegen ihren Brustkorb; Aber wo es gestern vielleicht noch aus Verlegenheit oder Freude geklopft hatte, schlug es diesmal aus purer Furcht.
Thyfen kicherte, doch auch das klang nun bedrohlich und jagte der blonden Schönheit einen Schauer über den Rücken.
"Wie süß. Sag bloß du hast Angst vor mir."
Rubys Körper bebte. Verzweifelt presste sie ihre Lippen aufeinander und schloss die Augen.
Das passiert nicht wirklich. Nein, das kann nicht real sein. Zähl einfach bis drei und dann ist alles wieder gut.
1... 2...
"Ruby", flüsterte Thyfen, "du brauchst keine Angst vor mir zu haben..."
Doch Rubys Angst nahm nicht ab. Sie traute sich nicht die Augen zu öffnen.
Der heiße Atem auf ihrer Wange ließ das Blut in ihren Adern gefrieren. Jeden Moment. Thyfen könnte auch sie jeden Moment umbringen. Aber warum tat er es nicht?
Ein Seufzen kam von dem jungen Lord und er strich ihr mit einer Hand durchs Haar.
"Ich werde dir nichts tun", versuchte er nochmal.
Nun öffnete Ruby doch vorsichtig wieder ihre Augen. Daraufhin lächelte Thyfen nochmal und legte ihr eine Hand auf die Wange. Sein Blick schweifte über ihr Gesicht.
"... Auch wenn ich das unheimlich gern tun würde."
Ruby war kurz davor gewesen sich etwas zu beruhigen, doch dann erfasste ihr Verstand den Sinn seiner Worte.
Ihr Körper erstarrte erneut und sie sah mit großen, ungläubigen Augen zu ihm auf.
"Aber keine Sorge, ich habe mich ganz gut im Griff... solange ich bekomme was ich will."
Seine Hand trennte sich von ihrer Wange und wanderte durch ihre Haare hinunter zu ihrem Hals und ihrer Schulter.
"Und jetz' gerade... bist das du."
Alles was als nächstes passierte, geschah im Bruchteil einer Sekunde. Ruby schlug seine Hand von ihrem Körper weg und schubste den Lord mit all ihrer Kraft zurück.
Um ehrlich zu sein, hatte sie keinen blassen Schimmer, wo diese Aufständigkeit herkam. Ihr ganzes Leben lang hatte sie doch immer das getan, was von ihr verlangt wurde, ohne Widerworte.
Wieso hielt sie es gerade jetzt nicht mehr aus? War es ihre neue Freiheit, die sie dazu drang? Die Hoffnung auf ein anderes Leben?
Überrascht von ihrer Ablehnung, taumelte Thyfen einen kleinen Schritt rückwärts. Doch brauchte er nicht lange um darauf zu reagieren.
Seine Augen verdunkelten sich und sein kleines Lächeln verschwand. Die Nixe erkannte zu spät, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
Im nächsten Moment spürte Ruby seine Hände an ihrem Hals. Erschrocken versuchte sie einzuatmen, doch ihre Luftröhre wurde komplett zugedrückt.
Es dauerte nicht lange, bis ihre Lungen verzweifelt nach Luft schrien. Panisch krallten sich Rubys Fingernägel in seine Handgelenke, aber es schien ihm nichts auszumachen. Der Druck an ihrem Hals verringerte sich nicht.
Schwarze Flecken begannen vor ihren Augen wild herum zu tanzen. Sie verbreiteten sich blitzschnell, bis Ruby nur noch Thyfens kalte, leere Augen sah...
Und dann nichts mehr.
————
Heey! 👋
Ich weiß nicht, ob man es merkt, aber ich habe mich mit diesem Kapitel echt schwer getan... 🙈 Umso besser, dass ich es jetzt endlich geschafft habe 💪
Tja, dann erzählt mal. Habt ihr das kommen sehen? Oder hab ich euch ein bisschen überrascht?
Bisous ❤️
MarSuu
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