11 - Ein Ort der Zuflucht

Ruby spazierte durch die kleine Siedlung, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Es gab vieles, worüber sie in Ruhe nachdenken wollte. Nach den Ereignissen der letzten Tage fühlte sie sich noch verlorener als zuvor. Als Thyfen ihr von dem Leben in der Wüste erzählt hatte, hatte es sich so angehört, als wären alle Leute hier draußen gefährlich. Doch die Nixe konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die Tiden das auch waren. Sie hatten ihr geholfen, ihre Wunden behandelt…

„Hallo!“ ertönte plötzlich eine Stimme direkt vor ihr und riss sie aus ihren Gedanken. Es war ein kleiner Junge, um die zehn Jahre alt, mit schwarzen, zotteligen Haaren. Um sein linkes Auge zeichneten sich zwei gelbe Ringe.

Erst dann merkte Ruby, dass er nicht der einzige war, der vor ihr stand. Eine ganze Schar anderer Kinder hatte sich bei ihr versammelt und sah sie mit großen Augen an. Und so wie Kinder nun mal waren, stellten sie ihr hunderte fragen. Ohne Filter. Alle gleichzeitig.

„Wieso sind deine Haare so hell? Und deine Haut?“
„Wo kommst du her?“
„Zeigst du uns dein Mal?“ „Darf ich es anfassen?“
„Wie alt bist du?“
„Willst du 'was mit uns spielen?“
„Gibt es noch mehr Nixen, da wo du herkommst?“

Erst versuchte Ruby noch ihre Fragen zu beantworten, aber schnell wurde es ihr zu viel. Sie wollte sich irgendwo verkriechen und in Ruhe ausatmen, doch sie wusste nicht wirklich wohin sie gehen sollte. Also war sie erstmal zurück zum Krankenzimmer geflüchtet und ließ sich auf das Bett fallen.
Es dauerte nicht lange, da klopfte es auch schon wieder an der Tür.

„Kann ich reinkommen?" fragte Taron von der anderen Seite der Tür.

Anstatt zu antworten stand Ruby auf und öffnete die Tür. Mit einem Lächeln sah das Fantom zu ihr runter, doch zog bei ihrem Anblick gleich die Augenbrauen zusammen.

„Alles Okay?" wollte er wissen, „du siehst ziemlich fertig aus."

„Diese ganze Fragerei is' anstrengend", sagte sie mit einem Seufzen, nachdem sie ihm von den Kindern erzählt hatte, „und ich wusste nich' wirklich, wo ich hin sollte..."

Taron sah sie für einen Moment grübelnd an.
"Hier in der Siedlung is' es nich' immer einfach seine Privatsphäre zu bekommen und noch dazu hast du gar keine eigene Hütte. Aber ich wüsste, wo du hingehen könntest, um deine Ruhe zu haben."

„Echt?" äußerte sie sich überrascht.

Taron nickte. „Soll ich dich hinbringen?"

Ruby zögerte. Es war nicht so, als würde sie ihm nicht vertrauen wollen, doch sie wusste, dass sie aufpassen musste. Mittlerweile wusste sie einfach nicht mehr, wem sie trauen konnte...

Toll, jetzt hörte sie sich schon an wie Thyfen.

Allerdings hatte Taron nie den Anschein gemacht etwas im Schilde zu führen. Im Gegenteil, er war der Einzige, der sie ansah, ohne sie zu äugeln - ohne sie zu begutachten. Und Ruby kannte das schon ihr ganzes Leben. Ständig wurde sie von langen Blicken heimgesucht, sei es aus Angst, Eifersucht oder Lust. Sie waren immer da, schweiften über ihre makellose Haut, über ihre seidigen Haare und hielten an ihren perfekten Kurven.

Doch von Taron hatte sie so einen Blick noch nie gespürt - nur Besorgnis und etwas Neugierde. Also nickte sie und ließ sich von ihm aus der Siedlung führen.

Die zwei spazierten durch die steinige Landschaft, bis es an ein paar Felsen bergab ging. Mit weit aufgerissenen Augen sah Ruby hinunter, wo sich zwischen Steinen und sattgrünen Pflanzen eine kleine Oase befand. Das klare, türkise Wasser glitzerte im hellen Sonnenschein, blendete sogar fast in den Augen.

Staunend wanderte Rubys Blick zu Taron, der sich schon darauf zu bewegte. Sie folgte ihm und als sie endlich unten angekommen war, schlüpfte sie schnell aus ihren Schuhen und stellte ihre Füße im Wasser ab. Es war lauwarm, kein Wunder, wenn die Sonne jeden Tag direkt darauf schien. Und trotzdem war es ein tolles Gefühl.

Seit einer halben Ewigkeit war sie nicht mehr im Wasser gewesen. Die Nixe hatte versucht so wenig wie möglich daran zu denken, doch sie vermisste es im See zu schwimmen und herumzutollen. Mit beiden Händen hielt sie sich ihr Kleid hoch und ging etwas weiter rein, bis das Wasser ihre Knie erreicht hatte.
Taron hatte sich derweil auf einen der größeren Felsen ans Ufer gesetzt.

„Es is' wunderschön hier", meinte Ruby, „danke, dass du mich hergebracht hast, Taron."

„Du sahst aus, als könntest du 'ne kleine Auszeit gebrauchen. Hier komme ich immer her, wenn mir Finn, oder wer anders, zu sehr auf die Nerven geht. Soweit ich weiß kennt keiner von den anderen diesen Ort, also solltest du hier deine Ruhe haben."

Ruby musterte das Fantom einen Moment, bevor sie sich entschied ein wenig nachzuhaken.
„Wenn das dein Rückzugsort is', warum hast du ihn mir gezeigt?"

„Wie gesagt, du sahst so aus, als könntest du's gebrauchen. Und außerdem gibt es hier in der Wüste nur wenig solcher Orte. Ich dachte mir, dass dir als Nixe das Wasser bestimmt fehlt."

Kaum zu glauben, dass er über soetwas nachgedacht hatte. Die Nixe fühlte sich geschmeichelt. Mit einem Lächeln auf den Lippen ließ sie sich nach hinten fallen. Das Wasser umschloss ihren Körper und erfrischte sogleich ihre heiße Haut.
Für ein paar Momente blieb sie untergetaucht und spürte einfach nur das belebende Wasser auf ihrer Haut.

Als sie schließlich ihren Kopf aus dem Wasser hob, huschte ihr Blick zu Taron. Das Fantom hatte seine Füße bis zu den Knöchel in der Oase und genoss mit geschlossenen Augen, die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht.

Ruby stand auf und lief zu ihm rüber. Doch das nasse Kleid klebte nun unangenehm an ihrer Haut, weshalb sie leise anfing zu fluchen. Genau deshalb trugen die Nixen in Laothea keine Kleider, sondern nur ihre hautengen Ganzkörperanzüge. Alles andere war nämlich im Wasser nur ein riesen Hinderniss.

„Alles okay?“ fragte Taron, ohne die Augen zu öffnen.

Die Nixe ließ sich auf einen Stein neben Taron nieder und antwortete in einem humorvollen Ton: „Ja, das Kleid is‘ nur nich‘ zum Schwimmen geeignet.“

Taron lachte lautlos auf. „Ne, das ganz sicher nich‘. Leider glaube ich, dass du hier in der Wüste auch nichts passendes finden wirst.“

„Wahrscheinlich“, stimmte Ruby ihm zu, doch erinnerte sich an ihre Klamotten, die sie bei der Auktion hatte ausziehen müssen. Zum Glück war es ihr erlaubt gewesen diese wieder mitzunehmen.
„Hier nich‘“, fuhr sie fort, „aber bei Thyfen…“

Als der Name des Lords ihren Mund verließ, öffnete Taron die Augen. Seine braunen Augen lagen auf dem strahlend blauen Himmel, doch sogar von der Seite, konnte man die Trauer in ihnen erkennen.

„Tut mir leid“, meinte er dann, „Wir haben bisher noch nich‘ drüber gesprochen, aber… Ich hab‘ dich im Anwesen gesehen und dich regelrecht entführt. Und auch wenn ich gute Absichten gehabt hatte…“

„Ich verstehe, warum du mich mitgenommen hast. Und irgendwo bin ich dir auch dankbar dafür. Aber ich hab‘ Angst vor dem Tag, an dem ich zurückgehen muss.“

„Dann geh‘ nich‘ zurück. Bleib bei uns.“

Ruby schüttelte mit dem Kopf.
„Taron, ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber ich weiß so gut wie nichts von der Welt außerhalb meines Stammes. In diesem Land bin ich ein Außenseiter. Ich schaue vom Fenster in eure Welt voller Verrat und Rebellion und fühle mich verloren.
Ich habe keine Seite, auf der ich stehe, oder einen Platz, wo ich hingehöre. Und ich kann mich nich‘ für eine Seite entscheiden, weil…“

„Du willst nich‘ die Falsche wählen“, beendete er und Ruby sah überrascht zu ihm auf.

„Mir ging es damals auch so. Als ich den Tiden zum ersten Mal begegnet bin, wusste ich nich‘ was ich machen sollte. Ich wollte mich ihnen nich‘ anschließen. Im Gegenteil…“

Endlich wandte Taron sich der Nixe zu, doch anstatt weiterzusprechen, riss er seine Augen auf und fluchte.

„Verdammte Scheiße“, flüsterte er entsetzt, während er sich sein orange-rotes Tuch von den Schultern zog und es ihr über den Kopf legte, „Satona dreht mir den Hals um.“

Ruby runzelte verwirrt die Stirn, doch stellte fest, dass ihre Haut sich dabei eigenartig anfühlte. Sie streifte eine Hand über ihre Stirn und schnappte nach Luft. Die Haut dort war siedend heiß und brannte fürchterlich beim Kontakt mit ihrer Hand.

„Komm“, meinte Taron, „Bringen wir dich aus der Sonne raus.“

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