10 - Die Tiden

Ruby stolperte noch ein paar Schritte rückwärts, bis sie mit dem Rücken gegen etwas solides stieß. Nein, nicht gegen etwas, gegen jemanden. Erschrocken fuhr sie herum und blickte auf einen breiten, muskulösen Oberkörper.

„Alles Okay?“ erklang eine Stimme, die sie durch das Rauschen in ihren Ohren kaum wahrnehmen konnte. Ruby schüttelte nur wild mit dem Kopf.

Nichts war okay. Rein gar nichts!

Sie atmete hektisch ein, aber bekam einfach keine Luft. Ihre Luftröhre war wie verschlossen.

Auf einmal verschwand der Oberkörper aus ihrem Blickfeld und stattdessen stand dort Sara. Die junge Mutter sprach leise auf Ruby ein und führte sie zurück zum Sofa.

„Einfach atmen“, sagte sie in einem beruhigenden Ton, “ruhig atmen.“

Nach einer gewissen Zeit löste sich die Panik in Rubys Kopf. Sara saß nun neben ihr auf dem Sofa und strich ihr sanft mit einer Hand über den Rücken. Bis auf die zwei, war niemand mehr im Raum.

„Ich hab‘ alle rausgeschmissen“, meinte Sara, als sie Ruby’s suchenden Blick sah.

Die Nixe wollte ihr dankbar zulächeln, doch es kam nur eine Grimasse dabei raus. Ein paar Augenblicke blieben die beiden still.

„Geht’s wieder einigermaßen?“

Ruby nickte leicht und bedankte sich für ihre Hilfe.

„Kein Thema“, antwortete Sara, „Es war auch falsch so über dich herzufallen, obwohl du doch noch gar nich‘ lange hier bist. Aber zu ihrer Verteidigung… Keiner von uns hat jemals eine Nixe gesehen. Sie waren einfach nur neugierig.“

Bevor Ruby darauf reagieren konnte, klopfte es an der Tür.
„Hier is‘ Satona.“

„Soll ich sie reinlassen?“ fragte Sara dann. Überrascht, dass sie überhaupt gefragt wurde, nickte Ruby. Kurz darauf kam die Drakonierin auch schon durch die Tür gelaufen.

„Taron is‘ gerade ganz aufgelöst zu mir reingekommen“, erklärte sie, „Was is‘ denn los?“

Sara erklärte ihr grob was passiert war, woraufhin Satona sich auf einen der Stühle fallen ließ und müde den Kopf schüttelte.

„Kinder, Kinder“, murmelte sie, "die ändern sich wohl nie."

Die drei Frauen blieben noch eine Weile sitzen und die zwei Rebellinen erzählten Ruby von ihrem Leben hier. Besonders Sara's Geschichte, faszinierte die junge Nixe. Die Naja war von außerhalb der Wüste gekommen und hatte hier Malhi, ihre große Liebe, kennengelernt. Sie erzählte viel von Aren, ihrem Sohn, welcher bald ein halbes Jahr alt sein würde.

Die zwei Frauen schafften es Ruby einen Großteil ihrer Ängste zu nehmen und als sie soweit war, öffnete sie nochmals die Tür und trat hinaus.

„Hi“, grüßte Taron sofort. Er war jetzt der einzige, der noch draußen stand. Alle anderen hatten sich wohl kleinlich gemacht, was die Nixe noch etwas weiter beruhigte.

„Tut mir leid wegen vorhin“, meinte er, „Die Leute hier können etwas… aufdringlich sein, aber sie meinen es gut.“

Ruby sah zu ihm rauf. Seine schwarzen Haare waren leicht zerzaust, so als hätte er sich oft mit den Händen hindurch gefahren.

„Du musst dich nich‘ entschuldigen“, sagte sie dann, „es war meine eigene Schuld.“

Verwirrt runzelte er die Stirn, doch er frage nicht weiter nach. Stattdessen fragte er: „Was willst du jetz‘ machen? Willst du immer noch zurück?“

Ruby überlegte kurz. Satona hatte Recht, dass sie es in diesem Zustand nicht zurück schaffen würde. Ihr blieb fürs erste nichts anderes übrig, als zu warten, bis sie wieder fit war.
„Ich werde ein Weilchen bleiben...“

Taron lächelte ihr zu, auch wenn er dabei etwas traurig aussah.
„Komm. Dann führ‘ ich dich ein bisschen 'rum.“

Also folgte Ruby dem Fantom durch die kleine Siedlung. Viel gab es nicht zu sehen, aber so konnte sie die einzelnen Leute nach und nach kennen lernen, was ihre Nervosität etwas verringerte. Die Leute schienen nun auch viel entspannter zu sein, als zuvor. Nachdem sie sich der Nixe vorgestellt hatten, folgten sie wieder ihrem Tagesablauf.
Nur ein paar neugierige Kinder liefen Ruby eine Weile hinterher. Und auch als Taron sie endlich weggescheucht hatte, konnte sie die neugierigen Blicke aus der Ferne spüren.

Als nächstes trafen sie auf zwei Männer.

„Ruby“, sagte Taron, „Das sind Rion und Lenny. Sie waren die Nacht mit mir beim Anwesen.“

Die Nixe ließ ihren Blick über die beiden Männer schweifen. Rion war fast so groß wie Taron, jedoch etwas breiter gebaut. Seine dunklen Haare waren ganz kurz geschoren, wodurch man auf seiner linken Kopfhälfte grün-gelbe Schnörkel sehen konnte. Er war also, wie Thyfen, ein Metamorph.

Der andere Mann war etwas kleiner und sah allgemein auch etwas jünger aus, so um die sechzehn. Er hatte sich ein Tuch über den Kopf gewickelt, weshalb sie seine Haarfarbe nicht sehen konnte, doch Ruby nahm an, dass er, ähnlich wie Rion, dunkle Haare besaß. Was die Nixe jedoch besonders gut sehen konnte und, was sie total faszinierte, waren seine Augen. Seine großen, runden Augen leuchteten in einem intensiven Orange. Ein Strix.

„Das heißt dann wohl, dass du 'ne Weile bleiben wirst“, stellte Rion fest. Ruby nickte, erwähnte aber nicht, dass sie immer noch vor hatte zurückzugehen.

„Soll mir recht sein“, murmelte der Metamorph und wandte sich an Taron, „Du solltest als nächstes zu Finn gehen. Ich glaub‘ wenn ihr da nich‘ bald auftaucht, platzt der.“

Taron schmunzelte nur und begann weiterzulaufen.

„Wer is‘ Finn?“ fragte sie ihn mit kratzendem Hals, als sie sich von den beiden verabschiedet hatte.

„Tja, Finn is‘… anstrengend. 'N total netter Kerl, wirklich, aber er redet einfach viel zu viel,“ erklärte er, „… Und da sind wir auch schon.“

Taron ging auf die Tür einer Hütte zu, doch anstatt anzuklopfen, öffnete er schwungvoll die Tür. Mit einem schrillen Schrei fiel ein junger Mann vor ihre Füße.

„Autsch“, winselte dieser, als er sich wieder aufraffte. Mit einer Hand schob er sich seine Schulterlangen Haare nach hinten und sah das Fantom genervt an.

„Echt jetz‘? Kannst du nich‘ klopfen, wie bei allen anderen auch?!“

„Ne“, antwortete Taron kühl, „ich klopfe nich‘ an meiner eigenen Hütte an.“

Ruby sah überrascht zwischen den beiden hin und her. „Ihr wohnt zusammen?“ entwich ihrem Mund.

„Ja“, antwortete Finn blitzschnell, „du hast es vielleicht noch gar nich‘ gemerkt, aber wir leben alle in Wohngemeinschaften. Eigentlich kann man unsere ganze Siedlung so sehen, aber egal. Jedenfalls wohnen Taron und ich zusammen, weil wir uns so gut verstehen.“

„Du meinst, weil kein anderer es mit dir aushält“, raunte Taron dazwischen, aber wurde gekonnt ignoriert.

„Ich bin übrigens Finn. Freut mich dich auch endlich kennenzulernen.“

Finn war ein Strix, wie Lenny. Doch irgendwie passte es nicht wirklich zu ihm.
Die Strix lebten in der Nacht, da sie dort den Vorteil hatten im Dunkeln sehen zu können. Sie waren Flink und unscheinbar, aber aufgrund ihrer erhöhten Reflexe auch gute Kämpfer. Finn schien in allen Hinsichten eine Ausnahme zu sein.

Ruby war sich nicht sicher, wie lange sie dort vor der Hütte stand und dem Strix beim Reden zuhörte, aber irgendwann holte die Aufregung des heutigen Tages sie ein und sie unterdrückte ein Gähnen. Die Nixe wollte nicht unhöflich sein, aber je länger sie dort stand, desto schwerer fiel es ihr die Augen offen zu halten. Die Müdigkeit nagte an ihrer mittlerweile fast aufgebrauchten Kraft.

Als sie es endlich schaffte sich zurückzuziehen, lief sie schnurstracks zu Satonas Krankenzimmer und ließ sich ohne weiteres in das weiche Bett fallen.

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