PROLOG
Der alte Kirschbaum stand schon seit ich denken konnte am Rande unseres Anwesens.
Flicker stutzte ihm jährlich ein paar Äste, damit er den Zaun rund um die Villa herum nicht beschädigte, aber eigentlich war es jeden Tag der gleiche Baum, den ich sah, wenn ich aus meinem Schlafzimmerfenster im zweiten Stock guckte.
Umzingelt von einer Armee aus Gänseblümchen stand der knorrige Baum auf unserer Gartenfläche neben der Auffahrt und strahlte mit Mums geliebten Blumenbeeten voller Tulpen, Narzissen, Rosen und Mohn im Sonnenlicht um die Wette.
Dieser Baum barg eine Menge Erinnerungen.
Dad war unter seinem Blätterdach vor Mum auf die Knie gegangen und hatte ihr die Frage aller Fragen gestellt.
Jonas war mit dreizehn beim Klettern in seinen Zweigen abgerutscht und hatte sich beim Herunterfallen den Arm gebrochen.
Mum hatte als Teenager die Anfangsbuchstaben von Dad und sich in die Baumrinde geritzt und Jahre später einen Abdruck von unseren Kinderhänden direkt unter das Herz gestempelt.
Grandma und Grandpa hatte ich mit sieben unter diesem Baum beim Küssen zugesehen.
Flicker hatte ich an diesem Baum zum ersten Mal fluchen hören.
Jonas und ich hatten in dieser Baumkrone das beste Versteck gefunden, um das Anwesen und alles hinter dem Zaun gut im Auge zu behalten und dann und wann einen Passanten zu erschrecken.
Ich verband mit dem Kirschbaum bunte Tage meines Lebens, Fetzen meiner Kindheit und die Menschen, die ich am meisten liebte.
Ich verband mit dem Kirschbaum das Glück und Freude – ein Lachen.
Bis zu dem Tag, an dem das Glück starb, an dem die Freude den Tränen wich und mir das Lachen ein für alle mal verging.
Es war an einem Mittwoch.
Eigentlich ein Tag wie jeder andere.
Den Vormittag über hatte es geregnet, aber gegen Abend war es draußen wieder trocken gewesen und ich hatte mich auf leisen Sohlen aus dem Haus gestohlen, um vor dem Abendessen noch ein paar Minuten für mich zu haben und etwas in mein Tagebuch zu schreiben.
Es hatte sich erst vor einigen Jahren so entwickelt. Erst seitdem Jonas mich einmal erwischt und mir das türkisblaue Buch mit goldenem Einband geklaut und dann laut daraus vorgelesen hatte.
Seitdem schrieb ich meine Zeilen lieber draußen unter dem freien Himmel und auf einer Höhe von zwei Metern, sodass Jonas gar nicht auf die Idee kommen konnte.
Wer hätte ahnen können, dass er das sowieso nie wieder vorgehabt hatte?
Wer hätte ahnen können, dass er nie wieder dazu fähig sein würde, aus meinem Tagebuch vorzulesen?
Ich nicht.
Ich hatte es nicht geahnt.
Nicht ahnen können.
Und so saß ich draußen unter dem dunklen Meer der Sterne und betrachtete das hell erleuchtete Anwesen meiner Eltern, das mir so vertraut war, bis mich meine Gedanken packten und durch meinen Kugelschreiber auf das beigefarbene Papier druckten.
Buchstabe für Buchstabe schrieb ich nieder, was mir durch den Kopf flog, was mir einfiel, womit ich mich den Tag über beschäftigt hatte, bis ich wie ausgeleert war, bis mein Kopf wieder frei war.
Eigentlich war ich dabei zu gehen. Ins Haus zu gehen.
Ich hatte meine Mutter bereits nach mir rufen hören und Jonas übereilend durch die Eingangshalle trampeln sehen, wie er es immer tat, wenn Mum zum Essen rief.
Wie oft schon war der Idiot auf der Wendeltreppe ausgerutscht, weil er nicht schnell genug im Esszimmer sein konnte? Unzählbar oft.
Aber so war er eben mal.
So liebte ich ihn.
Und das war das Erste, woran ich dachte, wenn ich an ihn dachte.
Jonas und seine Liebe zu Essen.
Lebensmittel und er, das gehörte einfach zusammen.
Aber es sollte nie wieder zusammen sein.
An der Fußzeile der Seite angekommen, schrieb ich gerade meine Initialen neben Datum und Uhrzeit unter das Blatt, als ein lauter Knall ertönte und das große Fenster der Küche in tausend Teile zersprang.
Klirrend schlugen die Glasscherben auf dem Kiesweg der Auffahrt auf und zersplitterten zu Millionen, ehe sie im Schein des Küchenlichts scharf und gefährlich schön glitzerten.
Für einige Sekunden war es unheilvoll still.
Mir rutschte das Herz in die Hose.
Ich war nicht fähig, es länger schlagen zu lassen oder gar zu atmen.
Dann aber hörte ich meinen Vater schreien, markerschütternd brüllen und als wäre das mein Stichwort sprang ich vom Ast des Kirschbaums ließ mein Tagebuch an Ort und Stelle liegen und rannte Richtung Haus.
Je näher ich der Villa kam, desto mehr Stimmen hörte ich, die durch das Haus kreischten und brüllten oder etwas zerdepperten.
Von Furchtlosigkeit gepackt, schlüpfte ich zurück ins Haus, nur um dann direkt inne zu halten und nicht glauben zu können, was hier geschehen war.
Stühle waren umgekippt, Bilder von den Wänden gerissen und Mums geliebter Tonkrug aus Griechenland lag zerdeppert am Boden.
Das Haus glich einem Schlachtfeld und nur ein paar Minuten später stellte ich fest, dass es genau das war.
Ein Schlachtfeld.
Ein Kriegsschauplatz.
Und ich war live dabei.
Live dabei, als mein Vater plötzlich rückwärts in den Flur taumelte und zu Boden fiel, die Kleidung zerrissen, die Handflächen aufgeschürft, mit nichts als weit aufgerissenen Augen, als er mich erkannte.
»Ruby«, hauchte er in die Stille.
»Ruby«, hauchte er in Panik, bis ein paar Meter hinter ihm plötzlich eine dunkle Gestalt aus dem Wohnzimmer trat, ihm ein Messer unter die Kehle hielt und mich hämisch angrinste, ehe es die Klinge tief in Vaters Hals versenkte.
Das war der Moment, in dem die Zeit still stand.
Der Moment zwischen Leben und Tod.
Und ich spürte nichts.
Spürte keinen aufkommenden Schrei, keine Tränen.
Da waren nur das Rauschen in meinen Ohren, das laute Pochen meines Herzens und meine Augen, die meinen Vater sahen, als er leblos und schlaff in den Armen der maskierten Person zusammensackte und eine Welle von Blut ausspuckte, in dessen Lache er starb.
Blass und mit seinen verschleierten, toten Augen auf mir fiel er in das Meer aus Blut – das Messer vergraben in seinem Hals – und hatte jeglichen Widerstand aufgegeben.
Ich war in dem Moment zu nichts fähig.
Da war kein Fluchtinstinkt, der mich dazu anleitete, das Weite zu suchen, wo der Mörder meines Vaters doch direkt vor mir stand und sich mit einem breiten Grinsen auf mich zu bewegte.
Da war keine Angst, keine Panik.
Bloßer Schock.
Schock, der mich lähmte und stocksteif stehen ließ, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Mein Vater war tot.
Mein Vater lag dort in seinem eigenen Blut.
Erstochen.
Mein Vater war tot.
Und ich war auch bald tot.
Würde ihm gleich nachfolgen, mit einem Messer mitten durch mein Herz.
So sah es aus.
So schien es.
So sollte es sein.
Aber so kam es nicht.
Als der durch und durch schwarz Gekleidete über die Leiche meines Vaters stieg und das silbergraue und von Blut getränkte Messer mit einem einzigen Ruck aus Vaters Hals zog, um es dann auf mich zu richten, Schwung zu holen und abzuwerfen, um mir die scharfe Klinge durch die Brust zu rammen, polterte es links von mir auf der Treppe. Ehe auch mich der Tod einholen konnte, riss mich jemand zu Boden und fing den Himmel für mich ab, um mich in der Hölle sitzen zu lassen.
Unversehrt ging ich zu Boden, bald darauf von einem Körper bedeckt, der leblos auf mich nieder sackte und mit Blut beschmierte, das aus einer Wunde am Kopf floss, dort, wo das Messer ihn getroffen hatte.
Mit großen Augen drehte ich meinen Kopf, versuchte zu realisieren, was geschehen war, wieso mein Herz noch immer schlug, aber, als ich in verklärte braune Augen sah, die mir mehr als die Welt bedeutet hatten, gab es nichts mehr zu realisieren.
Es gab nur noch eine einzige Sekunde, einzige letzte Worte, die über seine blau gewordenen Lippen glitten und mir mit Schmerz auf das Herz gebrannt wurden.
»Wir gegen den Rest der Welt, weißt du noch, Ruby?«
Ja, das wusste ich noch.
So war es immer gewesen.
Wir beide gegen den Rest der Welt.
»Dabei bist du die stärkere von uns beiden. Du schaffst das auch allein.«
Nein.
Nein.
Nein!
Nein!
»Ich liebe dich, Schwesterherz.«
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