KAPITEL 8

RUBY

Die Eingangstür knallte mit einer solchen Heftigkeit zu, dass ich nur auf den Moment wartete, bis das Glas der Fensterscheiben zerbarst und aus dem Holzrahmen auf den Marmorboden rieselte wie Schnee.

Entgegen der Erwartung allerdings blieb es unheilvoll still und nur Schritte waren zu hören, die auf dem Boden hallten und sich konsequent in Richtung des Wohnzimmers bewegten.

Wir alle hoben gleichzeitig den Kopf, als eine Gestalt in einem tiefschwarzen Anzug in den offenen Türrahmen trat und breitbeinig zum Stehen kam.

Wie alle Männer dieses Haushaltes war auf Logan ein Exempel für sich.
Breite Schultern, blasser Teint, eine angespannte Kiefermuskulatur und dazu die hasserfülltesten und abgeneigtesten braunen Augen, in die ich jemals geblickt hatte.

Ganz automatisch sah er mich an.
Als hätte er mich gesucht und zugleich darauf gehofft, mich nie wieder zu sehen.
Als hätte ich mich in den zweiten Tagen seiner Abwesenheit nicht vielleicht doch wieder in Luft aufgelöst.

Ganz eindeutig war alles, das in seinen Augen loderte, gegen mich gerichtet.
Dieser Mann konnte mich auf den Tod nicht ausstehen.
Er hasste mich mehr, als er sich selbst hasste und das rechnete ich ihm hoch an.

Jeder dieses Hauses begegnete mir freundlich oder hielt kühle Distanz.
Aber Logan sprengte die Grenzen.
Was auch immer seine Gründe waren, aber er wollte mich am liebsten tot sehen und das ließ ihn eine gewisse Gefahr für mich ausstrahlen, während in derselben Sekunde tiefe Lust auf Provokation in mir aufwallte.

Ich liebte Menschen, die hassten und nach Rache lechzten. Sie waren die, die sich für die Stärksten hielten und die Schwächsten waren.

Mit einer gewissen Gleichgültigkeit und Genugtuung, als ich die violetten Umrisse meines Fußabdrucks an seinem Hals sah, hielt ich seinem Feuer mühelos stand.
Das Wohnzimmer blendete ich einige Sekunden komplett aus, weil wir es mit dem bloßen Blickduell in Asche und Glut zerrissen.

So lange, bis Tyson sich plötzlich räusperte und unsere Blicke sich automatisch lösten und in seine Richtung schnellten.

Ein kühler Schauer erfasste mich, als ich nach links sah.
Einen Moment fühlte es sich an, als würde der dunkelhaarige Lockenkopf alles Feuer, das durch Logan in mir entzündet worden war, auf der Stelle löschen.
Unsere Blicke begegneten sich nur Millisekunden, dann löste er sich auch schon und schenkte seinem Bruder seine Aufmerksamkeit.

Aber diese Millisekunden reichten.
Und obwohl Tyson mich gekonnt ignorierte, hielt ich einen Augenblick an ihm fest.
Musterte seinen tief angespannten Körper und den zusammengepressten Kiefer. Einen Moment sah er wirklich aus, als würde er in dieser Haltung zu einem Steinblock mutieren.

Dann aber klappte er sein Tablet zu, heftete den magnetischen Stift an die graue Hülle und erhob sich urplötzlich in einer galanten Bewegung, die mich innerlich zusammenzucken ließ.

Voll aufgerichtet waren die beiden Brüder fast gleich groß. Tyson überragte Logan um schmale Zentimeter und auch sein Körperbau war nur im Detail ein wenig breiter und stämmiger.

In wenigen, langen Schritten hatte er den Raum durchquert und dabei einen unangefochtenen Blickaustausch mit seinem Bruder geführt.
Es brauchte keine Worte und Logan drehte urplötzlich wieder um und verließ den Raum.
Tyson ihm dicht hinterher mit einem letzten Schulterblick auf mich, der sich direkt durch meinen Körper bohrte und dort wie eine Pfeilspitze meine Haut durchlöcherte.

Kühl, konsequent, wütend – auf was auch immer – aber mit einem glühenden Funken, der mich wie ein Blitz von Kopf bis Fuß erschütterte.

»Was war das denn?«, hauchte Jonah und sah sich im Raum um, als hätte er die unsichtbaren Flammen auch an jedem Möbelstück brennen sehen.

Unheilvolle Stille legte sich über den Raum.

Ich habe keinen Schimmer, Jonah. Keinen Schimmer.

xxxx

Stunden später saß ich in vollkommener Dunkelheit auf der Fensterbank in meinem neuen Schlafzimmer und starrte aus dem Fenster in die Nacht hinaus.

Es war merkwürdig seltsam dies einfach ohne Umstände tun zu können.
Meine Kammer im Horrorhaus hatte nur ein spärliches Fenster besessen, aus dem man nicht mehr als die nächste Wand des Nachbarhauses anstarren konnte.
Noch dazu hing ein furchtbarer Geruch nach Pisse und Müll in der Luft, sobald man das Fenster nur auf Kipp öffnete, weswegen ich Situationen wie diese dort bloß gemieden hatte.

Diese Nacht war wunderschön.
Die Sterne glitzerten am Himmel, weit und breit schattete keine Wolke den Halbmond und eine kühle Frische blies durch das Erkerfenster direkt durch meine Haare hindurch in das große Zimmer.

Diese Nacht erinnerte mich an viele andere der Vergangenheit, die ich ähnlich sesshaft am Fenster in der Villa meiner Eltern verbracht hatte – damals, als es noch ein Zuhause für mich gegeben hatte.

Mum hatte immer gesagt, dass gute Nächte kostbar waren.
Denn gute Nächte waren Grundvorraussetzung für gute Tage.
Ich hatte ihr damals nur mit halbem Ohr zugehört.
Heute bereute ich kaum etwas mehr als das.

Sie hatte mich beinahe alles im Leben gelehrt.
Hatte mir so viele Botschaften mit auf den Weg gegeben, die ich nie verstanden hatte.
Jetzt, in einem stillen Moment der Vollkommenheit, tauchten sie wieder auf und ergaben plötzlich so viel Sinn.

Ich wünschte, sie hätte niemals aufgegeben, mir Ratschläge zu geben.
Aber hier saß ich nun und musste mir selbst mit dem Leben zu helfen wissen.

Die Leere, die ich dabei empfand, war unermesslich.
Ich hatte das nie gewollt.
Ich war immer das weniger unabhängige Kind meiner Eltern gewesen.
Ziellos und planlos war ich durch das Leben geirrt und hatte hier und da versucht, mir einen Weg zu bahnen.
Mein Leben war damals schon eine einzige Landschaft aus Hügeln und Bergen und tiefen Tälern gewesen, während Jonas neben mir geradewegs seinen Träumen gefolgt war.
Mitten durch die Mitte.
Zielstrebig, fest entschlossen und kühn.

Wir waren einander so ungleich gewesen.
Aber komischerweise hatte sich das hervorragend ergänzt.
Wir waren perfekt gewesen – obwohl wir das niemals hatten sein wollen.

Und heute?
Heute war mein Leben nicht mehr als ein unendlich tiefer Abgrund mit nichts, als Dunkelheit, Dreck und Bodenlosigkeit.
Da war nichts mehr, das mich hielt.
Und alles was perfekt gewesen war, obwohl es das niemals hatte sein wollen?
Es existierte nicht mehr.

Es existierte nicht mehr.
Es war ausgelöscht, fort, zerbrochen und weggekehrt.
Und mit ihm seine Träume.

Seine unfassbar kostbaren Träume ...

Ein leises Geräusch riss mich aus meinen Gedanken.
Mein Magen meldete sich nach Tagen des Lebensmittelverzichts zu Wort. Seit meinem Verschwinden hatte ich keinerlei Essen mehr angerührt, mich lediglich am Leitungswasser in der Küche bedient.
Die kleine Portion Milchreis war seit Tagen meine letzte Mahlzeit gewesen. Bis hier hin war mir das gar nicht weiter aufgefallen. Ich kümmerte mich herzlich wenig um Essen und verspürte schon seit langer Zeit kein Bedürfnis mehr danach.

Die Mahlzeiten hier in der Villa hatte ich bis jetzt immer gekonnt überschlafen oder mit meiner Appetitlosigkeit abgewunken, was die Jungs bis jetzt unkommentiert gelassen hatten. Natürlich hatten sie mich schon ein klein wenig skeptisch gemustert, aber das war es dann auch schon wieder gewesen.

Essen war für mich zu einer Nebensache geworden.
Ich sah darin schon lange keine Notwendigkeit mehr und dass ich wirklich Hunger verspürte war äußerst selten.

Das Signal meines Körpers war eine Rarität, auf die ich mir nicht sonderlich viel einbildete, aber um den Tränen zu entkommen, die sich mit meinen letzten Erinnerungen anbahnen wollten, war es eine gelungene Ablenkung.

Kurzerhand nahm ich meine Füße in die Hand und verließ das Zimmer auf leisen Sohlen, um die längst schon schlafenden Jungs nicht durch meine Lautstärke zu wecken.
Die Eingangshalle war durch den Mond in leichtes Licht getaucht, das mir den direkten Weg in die Küche mit Leichtigkeit wies.

In der WG hatte Leander es sich zu der lächerlichen Aufgabe gemacht, mir Essen vorzusetzen. Er hatte es mir nicht aufgezwungen, aber mich alle paar Tage daran erinnert, dass es da etwas gab, das ich mal wieder zu mir nehmen sollte.
Manchmal kam ich mir vor, als wäre ich eine alte Dame, die jeden Morgen ihre Herztabletten zur selben Uhrzeit einnehmen musste, dann wieder wurde mir klar, dass wenn ich jene Dame sein sollte, schon lange unter der Erde liegen würde.

Die Villa unterlag der tiefen Nacht.
In der Küche surrte leise der Kühlschrank, die Digitaluhr am Backofen zeigte mir die Uhrzeit von viertel nach drei in der Nacht an.
Kein Wunder, dass alle anderen längst in ihre Betten gehüpft waren.

Nach dem Vorfall im Wohnzimmer war nicht mehr sonderlich viel passiert. Landon war kurz nach Logans Auftritt und Abgang ins Wohnzimmer gekommen und hatte für uns alle beschlossen, dass eine Runde Mario Kart gar keine schlechte Idee sein würde und damit war die ganze Sache schon wieder fast vergessen gewesen.

Wehrlos hatte ich mich dem ganzen hingegeben, mir einen Controller geschnappt und das Rennen von hinten nach vorne aufgeräumt.
Dann irgendwann war es schon spät gewesen und wir alle hatten uns von einander getrennt.
Logan und Tyson waren bis dahin nicht wieder aufgetaucht und das war mir auch ganz recht gewesen.

Die Spannung im Wohnzimmer war wirklich eine zu viel gewesen und so langsam wurde es seltsam.

Aus meinem ersten Bauchgefühl heraus beschloss ich, mir einen Kakao zu machen.
Nach all dem Essensverzicht lechzte mein Körper nach etwas nahrhaftem, aber mir war nicht danach, ein Brot zu essen oder an den Resten des Abendessens zu kauen, die im Kühlschrank verstaut waren.

Genau darum holte ich lediglich die Milch aus dem Kühlschrank und stellte sie auf die Arbeitsplatte, ehe ich mich auf eben diese hochzog, um an den Hängeschrank mit den Gläsern und Tassen zu kommen.

Die Küche war für mich eine einzige Hürde.
Die Jungs waren allesamt mindestens einen Kopf größer als ich und hatten dementsprechend auch eine höher gehängte Küche.
Mir kam das alles nur zum Nachteil. Schon für das dritte Fach im Kühlschrank musste ich mich auf die Zehenspitzen stellen, das Gewürzregal an der Wand erreichte ich höchstens mit einem Sprung und, um an die Hängeschränke zu gelangen brauchte es eine deutliche Erhöhung – die Arbeitsfläche.

Mit bloßen Füßen auf der Anrichte stehend, suchte ich im Regal nach der größten Tasse, die ich finden konnte.
Im Horrorhaus hatten überall bunte Tassen mit Tiermotivik oder "Der frühe Vogel ..." Zitaten gestanden, alles war kitschig kindlich angehaucht gewesen. Umso froher war ich, als ich eine schlichte weiße Tasse fand, die groß genug für meine Portion Zucker und Schokolade war.

Die Tasse unter mir abstellend, lief ich einen halben Meter weiter nach links, um an den Schrank mit dem Kakaopulver zu kommen. Kaum hatte ich diesen allerdings geöffnet und wollte nach der Verpackung greifen, griff plötzlich ein nackter und tätowierter Arm an mir vorbei und schnappte es mir weg.

Ein unwiderstehlich herber und maskuliner Geruch stieg mir in die Nase und ließ mich unterbewusst die Luft anhalten, als ich genau wusste, wessen Präsenz ich unmittelbar hinter mir spürte.

Der Arm war unverkennbar,
die geräuschlose Art seines Gangs unverkennbarer und die Stimme am unverkennbarsten.

»Was soll das werden, Rubinia

Seine raue und dunkle Stimme jagte mir einen angenehmen Schauer über den Rücken und wie schon so oft spürte ich Hitze an den Stellen, wo alles kalt sein sollte.

»Kakao. Wonach sieht es sonst aus?«, hauchte ich und warf ihm einen Schulterblick zu, den ich in dem Moment bereute, als mich seine grauen Augen innerhalb von Millisekunden gefangen nahmen und an einen Ort verschleppten, den ich nie zuvor kennengelernt hatte.

An diesem Ort herrschte Sturm.
Seiner und meiner.
Und obwohl sich das abstoßen sollte, die scheinbare Ungleichheit das Unwetter in einen Krieg projizieren müsste, der alles mit sich niederriss und uns beide zerstörte, standen wir vollkommen unberührt von der Handlung mitten in ihr.
Die Welt um ihn und mich schien unterzugehen, und doch lebten wir und waren lebendiger, als jemals zuvor.

Ein Ziehen lief durch meinen Körper je länger wir uns anstarrten.
Eine kurze Sekunde lang glaubte ich den Drang zu verspüren, mich rückwärts in seine Arme fallenzulassen und nie mehr wieder losgelassen werden zu wollen.

Die Vorstellung seiner Arme rund um meinen Körper, seinem Atem direkt vor meinem, die Regung seines Herzens unmittelbar neben der Regung des meinen und seinen Lippen, die ihre Kunst überall auf meiner Haut hinterließen, war unglaublich reizvoll.

So reizvoll, dass ich mir in den Arm kneifen musste, um zurück zur Besinnung zu kommen.

»Und wieso stehst du auf meiner Küche, um Kakao zu machen?«

Ich wusste ganz genau, dass diese Frage nicht aus Ernsthaftigkeit gestellt worden war. Er wusste, weshalb ich auf der Anrichte stand. Die Worte waren aus reinster Provokation gestellt worden und es gefiel mir, weil jegliche Konversation mit ihm rar und interessant war.

»Weil die Luftkonsistenz hier oben deutlich besser ist. Vermischt sich diese mit der Milch bekommt sie eine extra frische Note und bleibt länger in ihrer angenehm luftigen Form, wohingegen das Kakaopulver von hier oben einen noch schokoladigeren Geschmack bekommt und das gesamte Erlebnis damit  verstärkt«, faselte ich irgendeinen Blödsinn vor mich hin, der ihm doch tatsächlich ein leichtes Zucken um den Mundwinkel zauberte.

Noch immer verschlangen sich unsere Augen. Es war als würden sie sich gegenseitig anziehen.
Und urplötzlich ließ sich Tyson in diese Anziehung fallen und kam mir näher.
Unmittelbar schwebte sein Gesicht vor meinem, sein Kinn stützte sich auf meinen Arm, der noch immer die Schranktür offenhielt, seine Augen trennten sich für wenige Sekunden von meinen und hinterließen ihre heißen Spuren überall auf meinem Körper, den sie für sich zu beanspruchen schienen.
Seine Hände fanden ihren Weg zu meiner Taille.

Hatte ich es zuvor nicht getan, zuckte ich jetzt leicht zusammen, als sich seine langen Finger mit den kühlen Ringen über das dünne T-Shirt direkt auf meine Hüfte legten und mich leicht nach hinten zu sich zogen, sodass ich an seinen Körper stieß.

Ein heißer Schauer überfiel mich, dessen Empfindung mir einen Moment die Sprache verschlug.
Was war bloß los mit mir?
Und was tat er da?

Er festigte seinen Griff und dann hob er mich urplötzlich mit ziemlicher Leichtigkeit von der Arbeitsplatte zurück auf den Boden.
Für Sekunden hielt ich die Luft an.

Meine kleine Gestalt stand eng an seinen muskulösen Körper gepresst und vor lauter Emotionen wusste ich nichts mit mir anzufangen.
Ich war ... verwirrt, womöglich überfordert, aber irgendwie auch direkt angezogen von diesen Berührungen.
Und das obwohl sie nicht lange hielten.

Im Gegenteil.
Viel zu schnell verließen sie mich wieder und ganz plötzlich stand Tyson hinter der Kücheninsel einige Meter von mir entfernt und zog so scharf die Luft ein, als hätte er sich an mir verbrannt.

All die Anziehung wich von mir, zog sich langsam zurück wie die Ebbe nach der Flut.
Nur die Spannung unserer Körper blieb zurück und hinterließ einen bitteren Nachgeschmack.

Ich brauchte einige Sekunden um mich zu sammeln und zu verarbeiten, was da gerade zwischen uns gewesen war.
Es war mir unumschreiblich.
Aber damit schien es nicht nur mir zu gehen.
Auch Tyson fand für einen Moment keine Worte oder zumindest schien es so hinter seiner kühlen Maske auszusehen, die er eben noch von sich gerissen hatte.

»Machst du mir auch einen?«, unterbrach er die Stille dann schließlich und ließ mich perplex blinzeln.
Er wollte auch ...

»Einen Kakao?«, fragte ich dümmlich und begegnete seinem Blick, der einen Funken Belustigung ausstrahlte.

»Ja, mit jedem frische Geschmack und jeder Kakaonote, die du zu bieten hast.«
Er zwinkerte mir zu und das war so surreal, dass ich mich schnell abwandte und einmal tief einatmete, ehe ich nickte.

»Klar mache ich dir auch einen«, beantwortete ich ihm seine Frage ohne ihn dabei anzusehen und machte mich dann daran eine zweite Tasse für ihn zu holen, seinen brennenden Blick wissend in meinem Rücken. 

xxxx

»Dass heißt ihr seid alle adoptiert? Ich habe es mir schon gedacht, als Landon von einer Cousine von Louis sprach, aber sicher war ich nicht.«

»Du meinst Melissa? Na ja nicht ganz. Wenn ich von meinen Eltern spreche, dann spreche ich tatsächlich auch von meinen biologischen Eltern. Ich bin der erste und einzige leibliche Sohn, den meine Mutter jemals auf die Welt bringen konnte, aber das hat sie in ihren Träumen nach einer großen Familie, mit ganz viel Chaos und Trubel nie aufgehalten. Als ich vier Jahre alt war, adoptierte sie Tristan und Landon. Die beiden waren damals gerade ein paar Wochen alt und durch die Babyklappe von ihrer leiblichen Mutter abgegeben worden. Meine Mutter begegnete den Babys durch Zufall im Krankenhaus, als sie dort wegen einem ihrer Mandanten war. Tristan hatte zu dem Zeitpunkt eine starke Bronchitis. Es war nicht sicher, ob der kleine Kerl es schaffen würde und Landon war ein ziemliches Schrei-Baby. Meine Mutter hatte sie sofort ins Herz geschlossen. Und die familiäre Lage ließ sie innerhalb von wenigen Wochen alle Papiere und Besuche durchführen, um die beiden so schnell wie möglich nach Hause zu holen.
Ich kam damit super klar. Da war kein Funke von Eifersucht oder Missverständnis. Auch nicht, als mit zwölf Jahren Louis hinzukam, den meine Mutter auf der Straße kennengelernt hatte, als er ihr mit seinen gerade einmal sechs Jahren beim Einkaufen die Tüten zum Auto getragen hatte und ein Monate später der kleine Jonah, der von dieser hässlichen Gesellschaft mit nicht einmal fünf Jahren wie ein dummes Objekt von einem Waisenhaus zum nächsten geschoben wurde. Meine Mutter bekam als Anwältin eine Menge der Prozesse mit, wusste, dass Jonah nur deswegen so behandelt wurde, weil er als extrem schwierig zu erziehen galt. Sie haben ihn wie einen Ball hin und her geworfen, ohne ernsthaft einmal darüber nachzudenken, weswegen er so war, wie er war. Seine Eltern waren Junkies, sie hatten sich einen Scheiß um ihn gekümmert und was meinst du bitte wird aus einem solchen Kind, ohne Rückhalt und Bezugsperson? Natürlich ist es kein Engel und auch keine Maschine, die man ausschalten kann. Wir alle waren froh, als meine Eltern sich entschlossen, ihn schleunigst da herauszuholen und es war die beste Entscheidung unseres Lebens.
Logan war der letzte, der zu uns kam. Da war ich dreizehn. Er hat unser Familienbild vollkommen gemacht, obwohl er immer ein wenig in sich gekehrt und ruhiger war. Über seine Lebensgeschichte wissen wir alle nicht viel. Er redet nie über seine Vergangenheit, ist dankbar für jede Gegenwart und wir akzeptieren das.
Wir alle haben unser Päckchen zu tragen und es reicht das Wissen, dass wir im Falle des Falles füreinander da sind. Und das sind wir.
Jeder in diesem Haus gehört hier her und es gibt niemanden, der bevorzugt wird. Meine Eltern lieben jeden ihrer Söhne auf dieselbe Weise und, ehrlich gesagt, ist uns dieses Wort "Adoption" auch kein geläufiger Begriff. Auf dem Papier mag es sein, dass man es so nennt, aber in einer Familie geht es nicht um irgendwelche Formalen oder das Blut, es geht umeinander.«

Das hatte er schön gesagt.
Das hatte er schmerzlich schön gesagt.
So schön, dass ich einen Stich durch mein Herz fahren spürte.

Jeder in diesem Haus war ein Opfer dieser Gesellschaft, war von der Regierung zerfetzt und ausgelacht und wie ein Ball durch die Stadt gerollt worden, weil er noch nicht als ein vollwertiger Mensch angesehen worden war.

Und heute ... heute waren diese Menschen zu den höflichsten Wesen mutiert, die mir in den letzten zwei Jahren begegnet waren.

Eine kleine Weile legte sich die Stille über uns.
Tyson nippte an seiner Kakaotasse, auf die ich Sahne gesprüht und Karamellsirup geschüttet hatte, um das Getränk zu perfektionieren.

Gespannt, was er dazu sagen würde, musterte ich ihn. Beobachtete seine Lippen und spielte ein wenig nervös mit meinen Fingern, weil sein Anblick mein Innerstes zum Kribbeln brachte.

Zu Anfang schien er skeptisch zu sein. Der erste Schluck jedoch, war ein Versprechen für sich.

»Wow, du hast recht. Von da oben schmeckt die Milch tatsächlich besser«, kommentierte Tyson den Kakao und schenkte mir ein halbes Lächeln.
Ich grinste.

»Na klar, hast du gedacht, ich würde lügen?«

Gespielt empört legte ich die Hand auf mein Herz.

»Sagen wir es so«, begann Tyson sich zu rechtfertigen, »ich wollte die Wahrheit selbst erschmecken.«

»Gut, da hast du sie.«
Ich deutete auf seine Tasse und nahm dann meine eigene um die letzten Reste der Schokolade vom Boden des Porzellangefäßes zu kratzen.

Genüßlich schloss ich einen Moment die Lider
– Dieses Getränk habe ich wirklich gebraucht. –
als aber warme Augen über mein Gesicht fuhren, öffnete ich sie schnell wieder und erwiderte Tysons Blick.

Von der Intensität und ihrer Kühle, trotz der verspürten Wärme, war ich immer wieder überrascht.
Wenn er mit mir redete, vertuschte er sein Image, aber eigentlich war sein Erscheinungsbild stets das eines knallharten Geschäftsmannes, der niemals jemanden hinter seine graue Fassade blicken ließ und mit seinem selbstbewussten Auftreten und Aussehen den ein oder anderen mächtig einschüchterte.

»Du scheinst Kakao wirklich zu lieben«, stellte er irgendwann fest und musterte mich halbherzig. Seine Stimme war klar und in gewisser Weise warm, sein Körper jedoch strahlte wie immer eine gewisse Distanz aus.

»Ja, obwohl ich meist lieber Kaffee trinke.«

Tyson nickte.
Und so sinnlos es auch war, aber die leichte Konversation fühlte sich wirklich angenehm an. Lange nicht mehr hatte ich mich einfach nur unterhalten und über diese Welt geplaudert, als sei sie nicht komplett verdreht und kaputt und in sich zerrissen.

»Geht mir ähnlich. Kaffee schwarz. Ohne alles.«

Ich schmunzelte.
Das passte ganz hervorragend zu Tyson Mallion. Das Getränk so bitter wie seine Stimmung die meiste Zeit des Tages – oder zumindest die Stimmung, die er preisgab.

Wenn er mich so ansah, wie jetzt, wo wir uns kindisch immer nur dann musterten, wenn der andere wegsah und es wegen des Feuers zwischen uns dennoch spürte, wirkte er auf eine unerklärliche Art und Weise wie die einfühlsamste und emphatischste Person, der ich jemals begegnet war.

»Lass mich raten und deine Lieblingsspeise ist Gemüseauflauf mit dem bittersten Spinat, den man im Supermarkt finden kann. Und als Nachtisch kredenzt du dir noch eine Stange Lauch, komplett roh, und eine ungeschälte Möhre.«

Ich verzog das Gesicht.
Ich war weder ein Spinat noch ein Kaffee-Schwarz-Ohne-Alles-Fan und dass Menschen es lieber salzig und herb mochten, als süß und fluffig konnte ich absolut nicht nachvollziehen.

Während ich mir meine Überlegungen noch weiter ausmalte und meine Ideen gar nicht so abwegig fand, wo doch kein Gramm Fett an diesem Mann zu hängen schien, unterbrach Tyson mich mit rauem Gelächter, das so unerwartet wie ein Schauer Regen im Frühsommer auf mich einprasselte und mir das Herz stehen ließ.

Noch nie zuvor hatte ich ihn lachen sehen, ihn lachen hören und so plötzlich wie es gekommen war und den Raum mit Energie geladen hatte, so schnell vergingen die Laute seiner Belustigung auch wieder, dass ich mir augenblicklich einredete, sie mir eingebildet zu haben.

Aber das hatte ich nicht.
Er hatte gelacht.
Dieser Eisklotz von Mann hatte gelacht.
Wegen mir.

Und diese Tatsache legte sich wie ein warmer Mantel um mein Herz und ließ es einen Moment in all der Hitze zergehen.

»Was hast du denn für Vorstellungen? Wenn ich nur auf mein Gewicht achten und ungeschälte Karotten –«, er prustete leicht, »essen würde, dann hätte ich auf diese Kalorienbombe da auf dem Tisch wohl verzichten müssen. Ich esse nicht ausschließlich gesund und schon gar nicht zuckerfrei. Kaffee ist beinahe die einzige Ausnahme, in der ich Bitterkeit der Süße vorziehe. Aber das war es dann auch wieder. Und außerdem hasse ich Spinat.«

Demonstrierend hob er die Tasse mit dem Kakao wieder an seine Lippen und trank einen großen Schluck daraus.
Ich schmunzelte ergeben.

»Na fein, dann habe ich dich eben falsch eingeschätzt. Aber ich kann nichts dafür. Schließlich waren das meine ersten Eindrücke von dir und bei deiner Ausstrahlung kommt einem eben so etwas in den Kopf.«

Er zog eine Augenbraue in die Höhe.

»Bei dem was ich ausstrahle, kommen dir ungeschälte Karotten in den Kopf? Das ist sonderbar. Hat mir noch nie jemand gesagt.«

Ich sah den Schalk in seinen Augen. Seine Augen lachten und das war alles, was zählte.
Alles, was mich in diesem Moment leben ließ.

»Dann ist es ja gut, dass ich es mal angesprochen habe.
Irgendjemand muss dir ja mal sagen, was Sache ist:
Tyson, du hast die Ausstrahlung einer ungeschälten, verschrumpelten Karotte«, gestand ich und kicherte, als er amüsiert schnaubte und die unsichtbaren Spannungen zwischen uns mit einem Streichholz anzuzünden schien.

Ich erhob mich. Schlenderte von der Couch, auf der Tyson schon zuvor gesessen und gearbeitet, ehe ich ihn in die Küche gelotst hatte, zu meinem Sessel nur einige Meter entfernt und ließ mich seufzend darauf fallen.

Tysons Blick verfolgte mich glühend. Jede kleinste Zuckung, jeden Wimpernschlag schien er wahrzunehmen. Er achtete auf Details. Das war sein Job.
Darin war er gut und was mir immer Angst gemacht hatte, schien mir in seiner Nähe vollkommen absurd.

»Hätte ich zuvor gewusst, wie frech du bist, hätte ich es mir zehnmal überlegt, ob ich dich wirklich hier aufnehmen möchte«, feixte er und ließ meinen Blick wieder zu ihm gleiten.

Ich streckte ihm die Zunge heraus.

»Jetzt ist es zu spät. So schnell wirst du mich nicht mehr los.«

Er nickte nachdenklich, dann wandte er sich ab.
Seine Miene zerfiel und wurde wieder undruchdringbar. Das vorherige Gespräch war beendet.

Ich rollte mich auf meinem Sessel zusammen und döste vor mich hin. Die Müdigkeit überfiel mich schlagartig und schon nach dem ersten Gähnen, war ich zwischen zwei Welten gefangen.

Das Jenseits riss an mir und irgendwann überwältigte es mich.

»Ich will dich auch gar nicht loswerden, kleine Rubinia.«

———————

Ein wenig mehr Logan und ein bisschen viel mehr Tyson?

Was sagt ihr zu den beiden?
Favorit?
Und wer hat vielleicht etwas zu verbergen?

Liebe Grüße und noch eine schöne Woche! ❤️

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