KAPITEL 4


RUBY

Der Raum, den ich betrat, war ein geräumiges Büro mit hohen Wandregalen aus kernigem Eichenholz, die vollbestückt waren mit Büchern und ziemlich kunstvoll bemalten Vasen und Leinwänden.

Gegenüber der Tür sah man durch hohe Fenster, die in kleine quadratische Gläser geteilt waren, auf die weitläufigen Grünflächen rund um die Villa, die immer wieder von Blumenbeeten voller roter und weißer Rosen besehen waren.

Auf dem cremigen Marmorboden, der sich durch das gesamte Anwesen zog, stand inmitten des Raumes ein massiver Holzschreibtisch auf dessen Oberfläche sich Blätterstapel voller Bleistiftzeichnungen und Skizzen stauten.

Mein Blick ging weiter durch das geräumige, helle Zimmer, aber bis auf zwei braune Ledersofas und ein weiteres Bücherregal konnte ich nichts auffälliges oder gefährliches entdecken.
Keine Waffen, keine Kameras und auch keine Messer oder dergleichen.

Langsam ließ ich meine Hand sinken und meine angespannte Körperhaltung fallen, ehe ich mich der dritten Person im Raum widmete, die auf dem braunen Ledersessel hinter dem Schreibtisch saß und ihren Kopf gehoben hatte, sobald wir hereingekommen waren.

Es war ein Mann Ende zwanzig. Ich schätzte ihn ein paar Jahre älter als Landon.
Seine schwarzen Locken krausten sich perfekt geformt auf seinem Kopf und schmeichelten seinem gesamten Aussehen.
Er war ein Mann gemeißelt aus Stein, so hoch standen seine Wangenknochen und so kantig war sein sonnengebräuntes Gesicht, das mir ausdruckslos entgegensah.

Er trug eine schwarze Jeans und ein weißes Hemd, das sich eng um seinen breiten und muskulösen Oberkörper spannte und an den Armen bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt war, sodass die schwarzen Tintenstriche mehrerer Tattoos nicht verborgen blieben.
Seine Arme hatte er seelenruhig auf der Tischplatte vor sich liegen, seine Finger, an denen mehrere Ringe in schwarz und grau glänzten, ineinander verknotet.

Ich musterte ihn genau, wagte aber erst am Ende einen Blick in seine grau-blauen Augen, die mich kühl und ohne jegliche Emotion anstarrten und trotz ihrer Eiseskälte eine plötzliche Wärme durch meinen Körper gehen ließen.

Mir lief ein Schauer über den Rücken und ich konnte fühlen wie sich eine elektrisch geladene Spannung im Raum ausbreitete und ihn für sich einnahm.

Wir schluckten gleichzeitig, dann wandten wir beide unseren Blick ab und drehten unsere Köpfe zu Landon, der das Schauspiel mit Überforderung beobachtet hatte und sich nun räusperte.

»Also ... Ähm ... Ich schätze, den Rest schafft ihr zwei allein. Ruby, es war mir eine Freude, mit dir Bekanntschaft gemacht zu haben!«

Landon grinste mir kokett zu, ehe er sich an den mir noch fremden Lockenkopf wandte, ihm ernst zunickte und dann aus dem Raum verschwand.

Eine beunruhigende Stille legte sich nach dem Zuknallen der Tür über uns.
Ich starrte ins Leere, sträubte mich innerlich dagegen, ihm erneut in die Augen zu sehen und das merkwürdige Strömen warmer Gefühle über mir ergehen zu lassen.

Als aber nichts geschah, blieb mir kaum eine andere Möglichkeit und so sah ich zögerlich auf und begegnete abermals dem kühlen und doch so feurigen Blick des Lockenkopfs, der sich durch meine Haut brannte und mein Innerstes in Feuer schmoren ließ.

Eine Gänsehaut rannte mir vom Kopf die Wirbelsäule hinab und hinterließ eine Spur hitziger Glut, die sich jederzeit erneut entzünden konnte.

»Rubinia Sullivan«, sagten seine Lippen irgendwann in die Stille hinein und wow, diese dunkle und raue Stimmfarbe hatte es in sich.

Sein Aussehen allein hatte ihn selbstbewusst erscheinen lassen und mit einer düsteren Aura umgeben, aber seine feste und raue Stimme, die dennoch klar zu verstehen war und nichts anbrennen ließ, riss einmal mehr an meinen Nerven.

Ich glühte förmlich, so dick schien mir die Luft mit einem Mal und so heiß war mir, ohne dass ich mich bewegt hatte.
Meine Nackenhaare stellten sich auf und irgendwo in mir wollte eine klägliche Stimme, dass er meinen Namen öfter in den Mund nahm.

Das war ja verflucht heiß.

Ich räusperte mich.
Dann kniff ich mir unauffällig in den Finger und rang mit meiner Vernunft, um mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Meine Haltung wieder aufrecht, wandte ich mich ihm ganz zu und schluckte das angefangene Chaos von Emotionen hinunter, um neutraler zu scheinen.
Mein Gegenüber wirkte noch immer stets gefühllos.
Aber ich wusste, dass das eine Illusion war.
Ich war nicht die Einzige, die gespürt hatte, dass es im Raum wärmer geworden war.

»Man sagte, man wolle mit mir über Projekte meines Vaters sprechen!«, sagte ich gleich heraus und verschränkte meine Arme vor der Brust, während ich das Gesicht meines Gegenübers genau unter die Lupe nahm, um jeden verdächtigen Gesichtsausdruck zu bemerken.

»Allerdings«, bestätigte mir der Lockenkopf und löste sich dann aus seiner Statur ähnlichen Haltung, um mir einen Platz auf den zwei Sesseln vor sich anzubieten.

Störrisch löste auch ich meine angespannte Haltung und ließ mich schließlich vor dem fremden Mann in einen der Sitze fallen.

»Ihr Vater war ein Kunde von mir«, setzte er fort, kaum das ich mich niedergelassen hatte.
»Er hat mich für eine äußerst teure und aufwendige Idee engagiert und keine Kosten für das Folgende gespart.«

Eine durchsichtige Klarsichthülle schob sich über den Tisch auf mich zu und blieb unmittelbar vor meinen Augen liegen.

Es waren ein Haufen von Skizzen und Bauplänen für ein großes Haus irgendwo mitten in San Francisco.

Mein Vater hatte dort ein leeres Grundstück gekauft und angefangen, ein ziemlich extravagantes Gebäude zu bauen.

Verwundert darüber, dass ich nicht einen Hauch von Ahnung gehabt hatte, zog ich die Folie näher an mich und holte ihren Inhalt hervor, um mir die weißen Zettel genauer anzusehen.

Stapelweise fielen mir gelistete Bauobjekte und Auftragsbestätigungen vor die Linse, bis die endlos scheinenden Listen, Verträge und Baupläne zu Bildern wurden, die ein Haus zeigten, das mehr als teuer aussah.

Die Villa erhob sich aus grauem Naturstein und wurde rings von hohen Buchsbaumbüschen umgeben, die Privatsphäre schafften.
Das Anwesen stand am Rande eines Berges und versprach einen der besten Blicke auf die Golden Gate Bridge.

Ausgestattet war die Villa mit einem großen Pool, zwei Balkonen zur Ost- und West Seite, den üblichen Wohnräumen inklusive einer Sauna, einem Fitnessraum und einer Bar.

Ich staunte nicht schlecht, als ich sowohl die Inneneinrichtung, als auch den ausgebauten Garten sah.
Aber gleichzeitig spürte ich ein unheilvolles Zittern meine Hände befallen, das ich nur schwer kontrollieren, spätestens mit der aufkommenden Übelkeit, aber nicht mehr unterdrücken konnte, weswegen ich alles losließ und mich ruckartig zurücklehnte, als hätten mich die Blätter verbrannt.

Sie waren Dokumente der Qual und es kostete mich wirklich alle Mühe, nicht auf der Stelle vor ihnen wegzurennen.
Sie höhnten mich an, grinsten hämisch, lachten mich lautstark aus.

Bebend schloss ich die Augen und bekämpfte den Teil meines Innersten, den ich so lange schon tief unter der Oberfläche begraben und totgeredet hatte und der jetzt wieder hervorgekrochen kam und mich überwältigte.

Wieso gerade jetzt?
Wieso überhaupt?
Warum heute?

Es standen eindeutig zu viele Fragen im Raum.
Zu viele Fragen, die ich nicht beantworten konnte, die ich nicht beantworten wollte.

Und neben den Fragen hatte mir dieses Projekt so viele Antworten gegeben, so viele Informationen geliefert, die ich noch nicht bereit war, zu bekommen, die ich nie hatte bekommen wollen.

Minutenlang blieb ich still und versuchte meine Fassade zu wahren, was mir zunehmend schwerfiel.

Die Erinnerung und Verbindung, die Intention, die mein Vater gehabt hatte, mir aber niemals selbst hatte beichten können, war so dunkel und schmerzhaft, dass es mich viel meiner Beherrschung kostete.

»Wieso zeigen Sie mir das?«, fragte ich nach einiger Zeit und schnaubte verächtlich, weil ich die Botschaft nicht erhalten hatte.

Warum hielt er mir das alles vor die Nase?
Wollte er mich damit quälen, mir irgendetwas Bestimmtes mitteilen?

Der Vertrag war unterzeichnet. Ich erkannte die geschwungene Unterschrift meines Vaters genau. Jeder Bogen lag an genau der richtigen Stelle.

Und all die angegebenen Kontonummern und Daten unserer Bank waren auch richtig angegeben.

Wo lag dann das Problem?

»Weil dieser Auftrag Ihrem Vater sehr am Herzen lag. Er war einer meiner treuesten Kunden und Geschäftspartner, aber während der Planung dieser Villa lernte ich ihn von einer ganz neuen Seite kennen.
Er hat in diese Seiten eine Menge Kosten und Mühen gesteckt. Ich wollte sicher gehen, dass Sie davon erfahren.«

Ich hob eine Augenbraue.

»Das ist alles?«, fragte ich dann und sah skeptisch zu meinem Gegenüber.

Das sollte wohl ein Scherz sein.

»Nein«, gestand man mir zuletzt, »Das ist nicht der einzige Grund, weswegen ich Ihnen das Haus zeige.«

Sondern?

»Wie Sie vielleicht ahnen, war die Villa ein Geschenk Ihres Vaters an Sie. Er betonte mehrfach, dass das Haus für seinen Rubin war.
Zu einer Vollendung der Villa kam es, aus Ihnen bekannten Gründen, allerdings nie.«

Oh, ja ...

»Die Villa existiert momentan nur in ihren Grundmauern. Ich musste den Bau kurz nach dem Vorfall stoppen lassen, da niemand mehr für die Kosten aufkam. Die Bank sperrte jegliche Geschäfts- und Privatkonten und niemand bezahlte auch nur einen Pfennig mehr, trotz der beschlossenen Verträge.
Dieses Projekt war eines der teuersten und wertvollsten in meiner gesamten beruflichen Laufbahn und Sie verstehen sicher, dass ich das rechtmäßige Geld trotz der misslichen Umstände und dem eventuellen Abbruch trotzdem haben will. Es steht mir zu.«

Darum ging es also.
Um die Finanzen, um den Haufen Geld, den mein Vater ihm noch schuldete.

»Wie viel?«, fragte ich trocken, beinahe ausgenüchtert von den Informationen, die ich soeben erhalten hatte.

»Noch knapp sechzig Millionen Pfund«, verriet man mir.
Ich nickte andächtig.
Das war eine schöne Summe.

»Und wo genau liegen die Probleme mit unserer Bank? Ich sehe ein, dass Ihnen das Geld zusteht und bin sicher, dass mein Vater ähnlich darüber empfunden hat.«

Der Lockenkopf lehnte sich mit ernster Miene in seinem Ledersessel zurück und durchbohrte mich mit seinen grauen Augen.

»Die Probleme, wie Sie es selbst ganz schön ausgesprochen haben, liegen bei Ihnen«, stellte er klar.
»Ich hatte gleich mehrere Termine mit Mister Ross, Ihrem Finanzberater und Betreuer bei der Bank, aus denen ich erfuhr, dass bei Todesfällen einer oder beider Elternteile jegliches hinterlegtes Geld mit sofortiger Wirkung auf die Konten der Erben überschrieben werden würde und ohne ein bestimmtes Dokument bis zur Volljährigkeit derer nicht anzurühren ist.«

Bei dem leicht verbissenen Tonfall meines Gegenübers huschte mir urplötzlich ein Lächeln über die Lippen.

»Was hatten Sie denn gedacht?«, fragte ich  provokant geradewegs heraus.
»Meine Eltern waren zwei der reichsten Menschen Londons. Natürlich haben sie für den Fall der Fälle vorgesorgt. Zu recht.«

Mein Gegenüber nickte.
»Allerdings«, pflichtete er mir bei.
»Aber das löst den Konflikt nicht, denn ich will mein Geld haben. Und wenn Ihre Eltern nicht fähig sind, mich zu bezahlen, dann fällt das jetzt unter Ihre Aufgaben.«

Ich lehnte mich fragend vor.

War dieser Kerl schwerbehindert?

»Und wie stellen Sie sich das vor? Wie Sie bereits erwähnt haben, ist bis zu meiner Volljährigkeit jegliches Erbe hinter Gittern versperrt und nur durch benanntes Dokument aufzuheben, das ich nicht bei mir führe, falls Sie das vermuten.«

Mein Gesprächspartner schüttelte mit dem Kopf.

»Ich vermute es nicht. Ganz im Gegenteil, ich weiß, dass Sie benanntes Dokument nicht bei sich führen. Ich vermute allerdings, Sie wissen, wo es sich befindet. Und genau darum möchte ich dir einen Deal vorschlagen, Ruby

Der plötzliche Umschwung von Formalität zu einem höflichen Du ließ mich hellhörig werden.

Was hatte er vor?

»Du holst das benannte Dokument, wo auch immer es ist, und zahlst mir das Doppelte der ausstehenden Summe und ich helfe dir dagegen, deine Freiheit zurückzubekommen.«

Er sah mich fordernd an.
Fordernd, aber ehrlich.

Und ich verlor mich einstweilig hinter der grauen Fassade, die das Feuer barg, vor dem ich mich nicht eine einzige Sekunde lang fürchtete.

»Warum solltest du mir helfen wollen? Und vor allem wie soll das passieren? Die Polizei wird mich, den Ereignissen entsprechend, suchen und du wirst dich für jeden Beweis als Komplize und meine Deckung strafbar machen!«

Nicht dass es mir etwas ausmachen würde, wenn dieser Typ in den Knast gehen müsste, aber warum sollte er das Risiko eingehen?
Er konnte doch einfach vor Gericht gehen und sein Geld einfordern, mich verklagen oder was weiß ich was tun.
Es gab keinen sinnvollen Grund für seine Hilfe und, dass er einfach nur mehr Geld haben wollte, konnte ich mir auch nicht vorstellen.
Dieser Kerl saß längst auf einem eigenen Geldhaufen.
Wieso wollte er das aufs Spiel setzen ... für mich?

»Ich ahnte schon, als du hereinkamst, von deinem gesunden Misstrauen«, berichtete mir mein Gegenüber und ließ ein knappes Grinsen über seine Lippen huschen.
Ich hob eine Augenbraue.
Dieser Typ war sonderbar.
»Und du hast recht. Ich riskiere für dieses Angebot etwas, das ich nicht müsste«, seine Augen durchbohrten mich urplötzlich mit einem messerscharfen Blick, der mich fast zusammenzucken ließ, weil er mich so direkt traf.
»Aber ich habe einen anderen Eindruck von den Dingen, die das letzte Jahr überschatten, erhalten und da mir dein Vater wirklich nahe am Herzen lag, sehe ich es als Notwendigkeit an, diese Dinge auf eigenen Wegen zu regeln. Ich muss wegen diesem Geld nicht vor Gericht und sehe diesen Vorschlag als gelungenen Ausweg, der vor allem für dich interessant sein könnte. Immerhin biete ich dir, wenn auch auf recht illegalen Wegen, ein neues Zuhause«, argumentierte er und ließ dann seine Arme schweifen, um mir zu zeigen, hinter welchen Palastwänden ich bald schon leben konnte.

Seine Rede ließ mich kalt und auch seine Gründe waren lächerlich, selbst wenn sie der Wahrheit entsprechen sollten.
So wie ich das sah, hatte er noch ganz andere Gründe, um mich in seinem Haus zu halten. Alles, was er gesagt hatte, war für einen Geschäftsmann wie ihn einfach nicht ausdrucksstark genug, es war zu schwach.

Monoton sah ich ihn an, während er sich vollkommen entspannt zurücklehnte und meinen Blick gelassen erwiderte.

Für einen Moment war ich hin- und hergerissen, wusste dass ich ihm nicht vertrauen konnte und gleichzeitig eine erste Spur zu jemandem gefunden hatte, der mich zu den Mördern meiner Eltern führen konnte.
Dass die Männer dieses Hauses selbst in die Sache verwickelt waren, konnte ich mir nicht vorstellen.
Denn dann hätten sie mich längst getötet.
Hier ging es um etwas Anderes, etwas, das mir womöglich nicht schaden, sondern nur Freiheit und vielleicht sogar Klarheit verschaffen konnte.
Und, ganz ehrlich, das war alles, was ich wollte.

»Haben wir einen Deal, Rubinia Sullivan?«, fragte er irgendwann mit einem scharfen Unterton in der dunklen Stimme, der es mir zu verbieten schien, ihm diesen Handel auszuschlagen, obwohl ich das gar nicht geplant hatte.

Ich straffte meine Schultern und richtete mich unter seinem Blick selbstbewusst auf.

Er wollte mit dem Feuer verhandeln?

Das konnte er haben.

Ich hatte die Hölle längst in Flammen aufgehen sehen.

Da konnte er mich nicht mehr erschrecken und was es tatsächlich mit meinem Aufenthalt auf sich hatte, würde ich auch noch herausfinden.

»Den haben wir, Tyson Mallion.«

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Erstes Treffen! 😍

Meinung?
Glaubt ihr, Tyson hat etwas mit den Mordgeschehnissen zu tun?

Bis bald und noch einen schönen Tag!

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