KAPITEL 22
RUBY
Als ich am nächsten Morgen erwachte, war ich von einem Gefühl erfüllt, das ich schon lange nicht mehr verspürt hatte.
Erholsamkeit.
Tatsächlich fühlte ich mich ausgeschlafen und friedlich und war von einem Wohlsein erfüllt, dass ich eigentlich nie mit Schlaf verband.
Ein herrlich maskuliner und süchtig machender Geruch lag in der Luft und ich erwischte mich selbst dabei, wie ich mich enger an die wärmende und gutriechende Quelle kuschelte, die mich irgendwie an Tyson erinnerte.
Es durchfuhr mich wie ein Blitz. Schlagartig riss ich meine Augen auf und starrte auf einen sehr trainierten, sehr attraktiven und sehr männlichen Oberkörper, der mit absoluter Sicherheit nicht Landon gehörte, neben dem ich gestern eingeschlafen war.
Von Muskeln gewölbte, sonnengebräunte Arme hatten sich wie eine Schlinge um mich geheftet und drückten mich an den schlafenden Männerkörper.
Verwirrt von der Tatsache, dass ich neben Tyson lag, versuchte ich mich aufzurichten und ihm ins Gesicht zu sehen. Aber das war bei seinem Klammergriff gar nicht so einfach.
Mit Mühe schaffte ich es, mich in dem gemütlichen Bett aufzusetzen und umzusehen.
Ich lag in einem völlig unbekanntem Zimmer. Einem Zimmer, in dem ich noch nie zuvor gewesen war.
Es war den anderen Schlafzimmern ziemlich konträr, war weitläufiger und mit grauen Spiegelfliesen am Boden versehen.
Die Wände waren weiß und mit beigefarbenen Leinwänden behängt, die ziemlich reizende Portraits von dem schlafenden Mann neben mir zeigten.
Die gezeichneten Körper sahen lebensecht aus, wie von Fotos kopiert und ich hielt besonders bei einer großen Abbildung rechts von mir inne, auf dem Tyson an einem Auto lehnend abgebildet war, ein Bein lässig angewinkelt, eine Kippe zwischen seinen Lippen, die er gerade gezündet hatte und von einem ersten Schwall Rauch umgeben war.
Dieses Gemälde sah verboten sexy aus und ich beschloss im Stillen, dass es mein neuer Favorit unter all den Kunstwerken in diesem Haus war.
Neugierig ließ ich meinen Blick weiter schweifen.
Rechts von meinem Bett war das Zimmer durch zwei Erkerfenster lichtdurchflutet und ließ die ersten Sonnenstrahlen des Tages in das freundliche Zimmer mit weißem Mobiliar scheinen.
Das Bett auf dem wir eng umschlungen lagen, war riesig und hatte auf beiden Seiten einen Nachtschrank mit einer türkisfarbenen Lampe. Gegenüber des Bettes stand ein hohes Bücherregal, in dem sich Wälzer aus den verschiedensten Jahrhunderten stapelten und meine Aufmerksamkeit erregten.
Auf der linken Seite des Bettes waren eine kleine Kommode und ein Zeichentisch und zwei Türen, hinter denen ich ein Badezimmer und womöglich einen Kleiderschrank vermutete. Anders konnte ich mir nicht erklären, wo Tysons Kleidung untergebracht sein sollte.
Alles war ordentlich und sauber.
Aber wie war ich hierher gekommen?
Hatte ich geschlafwandelt?
So weit ich wusste, war mir das noch nie passiert.
Oder war ich gestern Abend falsch abgebogen?
Nein, das war unmöglich. Landon und ich hatten noch einige Stunden an die Decke gestarrt und uns Witze erzählt und Tyson war bis zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal von seinen Terminen zurück gewesen.
Wie war es dann möglich, dass ich ... hier war?
Direkt neben ihm? Förmlich auf ihm geschlafen hatte?
Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, wollte mir aber das peinliche Aufwachen ersparen, sollte ich heute Nacht im Unterbewusstsein auf dumme Ideen gekommen sein. Unauffällig wollte ich mich aus dem Staub machen, aber das war bei Tysons Griff gar nicht so einfach und kaum hatte ich die Decke weggeschlagen – herausgefunden, dass ich wenigstens noch komplett angezogen in meinem neuen Teddybären-Pyjama steckte – mich befreit und den ersten Schritt aus dem Bett gemacht, raschelte es hinter mir und schneller als ich reagieren konnte, hoben mich zwei Arme zurück auf das Bett.
Innerhalb eines Wimpernschlags lag ich Bauch an Bauch, mitten auf Tyson und hatte die Decke wieder auf meinem Körper.
Unsere Gesichter trennten nur wenige, gefährliche Zentimeter.
»Wolltest du dich etwa aus dem Bett schälen, ohne mich richtig zu begrüßen, Prinzessin?«, fragte mich eine verschlafene und raue Männerstimme. Eine Gänsehaut rannte über meinen Körper und der Klang seiner Stimme war so sexy, dass ich schwer zu schlucken hatte.
Verdammt! Wieso fand ich alles an diesem Mann anziehend? Er ... er war so viel älter, ich noch ein halbes Kind und trotzdem ...
»Ähm ... Hallo?«, begrüßte ich ihn fragend, nicht sicher, wie ich zu reagieren hatte. Man wachte schließlich nicht alle Tage neben Adonis höchstpersönlich auf.
Verschlafen und noch ziemlich verklärt, rieb Tyson sich über die Augen und gähnte, ehe er endlich meinem Blick begegnete und wir uns ansahen. Seine Hände umarmten mich unter der Decke und machten eine Flucht unmöglich.
»Ist das alles?«, schmollte er und sah mich wie ein kleines Kind an. Ich schmunzelte.
Diese Situation war so ... absurd.
Und wie zum Kuckuck war ich überhaupt in sie geraten?
»Was hast du erwartet?«, fragte ich und sah lächelnd auf ihn nieder, während ich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich.
»Einen Kuss«, antwortete er und legte demonstrativ sein Gesicht zur Seite, um mir seine Wange zu präsentieren.
Ich legte den Kopf schief und musterte sein schönes Gesicht. Ich überlegte, dann sagte ich: »Fein. Den bekommst du, wenn du mir erklärst, wie ich hierher gekommen bin.«
»Durch die Tür. Ganz einfach«, kam es prompt von Tyson zurück. Ich verdrehte die Augen und schlug ihm auf die Brust. Er schnaubte amüsiert.
»Witzbold. Und jetzt die volle Version? Ich kann mich noch genau erinnern, dass ich gestern neben Landon eingeschlafen bin.«
Beim Namen seines Bruders presste Tyson seine Zähne aufeinander. Er schien recht unglücklich damit, dass ich in den letzten Tagen bei Landon genächtigt hatte. War er deswegen etwa wieder eifersüchtig?
Auf seinen Bruder?
Dazu gab es überhaupt keinen Grund. Landon war wie ein Bruder für mich und zu einem wirklich guten Freund geworden, mit dem ich mich bestens verstand, aber was Tyson in mir auslöste, da kam er nicht einmal in Ansätzen heran.
»Der gestrige Tag war ... frustrierend und wenn ich ehrlich bin, war die Tatsache, dass du neben meinem Bruder schläfst und nicht neben mir ... noch frustrierender, dass ich dich gestern kurzerhand mit zu mir genommen habe.«
Er kratzte sich am Kopf und äußerte damit einen Funken von Verlegenheit. Ich kicherte und beschloss, ihn aufzuziehen.
Scherzhaft kniff ich ihm in die Wange.
»Hattest du solche Sehnsucht?«, fragte ich und verzog die Lippen. Tyson versuchte sich aus meinem hätschelnden Griff zu lösen, aber ich blieb hartnäckig.
»Naw ... das ist ... süß«, kommentierte ich diese Aktion und lachte, als er meine Hände von sich stieß.
»Süß? Nein, das war nicht süß, das war ... notwendig«, redete er sich heraus und versuchte nicht zu verweichen, obwohl er das längst war. Wem wollte er etwas vor machen? Bei mir scheiterte er daran kläglich.
»Ach, komm ... gib es zu. Du hast dich schrecklich nach mir verzehrt, hast mich so sehr vermisst, dass du es keine Nacht mehr ohne mich ausgehalten hast«, übertrieb ich und sah ihm in die Augen.
Tyson schnaubte.
»Ist es das, was du hören willst? Fein. Dann gebe ich es zu. Ich war gestern so wütend, dass ich unbedingt Frieden wollte, und du bringst mich immer zur Ruhe, weswegen ich dich in meiner Nähe haben wollte. Und ja, auch hier bin ich ehrlich, ich habe dich sehr vermisst, Prinzessin. Kriege ich jetzt meinen Kuss?«, fragte er wie ein trotziges Kind und brachte mich mit geröteten Wangen zum Lächeln.
»Ja, den kriegst du«, gab ich zurück und umfasste mit beiden Händen sein Gesicht. Vorsichtig strich ich mit meinen Daumen über seine Wangen, ehe ich meinen Kopf senkte und meine Lippen auf seine legte.
Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als sich unsere Münder berührten und für eine Sekunde war ich nicht sicher, ob Tyson diese Art von Zuneigung gewollt hatte. Ich spürte wie er sich unter mir verspannte und vor Überraschung seufzte. Ein Schauer Unsicherheit überfiel mich, als ich meine Lippen bewegte, aber kaum schien Tyson realisiert zu haben, was ich tat, setzte er sich auf der Matratze auf, griff mit seinen Händen an meinen Hinterkopf und erwiderte den Kuss mit einer solchen Heftigkeit und Sehnsucht, dass ich alle Bedenken über Bord warf und mich vollkommen fallenließ.
Tyson übernahm schnell die Führung dieses Kusses. Fest drückte er mich an sich, während unsere Lippen sich gegenseitig verschlangen, als hätten sie ein halbes Leben genau darauf gewartet. Ich schloss meine Augen, ließ den Gefühlen freien Lauf, die mich überrannten und übermannten und alle Rationalität aus meinem Kopf löschten.
Meine Hände gingen ebenfalls auf Wanderschaft. Streichelten über seine Schultern, schlangen sich um seinen Nacken und fuhren hinauf in seine weichen Locken, die vom Schlaf zerzaust waren und doch einfach nur perfekt aussahen.
Tyson entwich ein leises Knurren, als ich in dem Rausch dieser Sucht an einzelnen Strähnen zog und ich keuchte erregt auf, als er mir plötzlich in die Unterlippe biss und mit seiner Zunge um Eintrat bat.
Was ich in diesem Moment fühlte, ließ sich nicht beschreiben. Hier und jetzt gab es alles und nichts, gab es ihn und mich und der Rest dieser Welt war vollkommen irrelevant.
In meinem Magen kribbelte es und mein Kopf war nicht mehr fähig, an etwas Anderes zu denken, als seine süßlich schmeckenden Lippen und die süchtigmachende Intimität.
Atemlos lösten wir uns voneinander und ich schnappte hörbar nach Luft.
Verworren und verklärt öffnete ich meine im Genuss geschlossenen Augen und sah Tyson an, der genauso fassungslos und verloren zu sein schien, wie ich selbst.
Seine Augen glühten voll Begierde und Hingabe, einem Hauch von Liebe und leuchteten mit einer solchen Lebendigkeit, dass ich fast lächeln wollte.
Sein Haar war wegen meiner Hände vollkommen zerzaust. Ich vermutete, dass ich ähnlich wild aussah, aber eigentlich war mir das vollkommen egal.
Meine Lippen fühlten sich geschwollen an, an meinem Pyjama haftete Tysons unverkennbarer Körpergeruch.
Ich war verloren. Das stellte ich in diesem Moment fest.
Ich war hoffnungslos verloren.
»Scheiße, das war noch besser, als ich je geglaubt hatte, dass unser erster Kuss sein würde«, hauchte Tyson und lehnte seine Stirn an meine. Wir beide rangen in der Verklärtheit nach Luft.
»Du hast dir unseren ersten Kuss vorgestellt?«, fragte ich und war ehrlich überrascht.
Dass er mich – ein so kaputtes Mädchen – auch nur vermissen konnte, war mir befremdlich. Für gewöhnlich war ich der Inbegriff für Gleichgültigkeit in den Augen anderer.
»Himmel. Einhundert Mal. Und jedes Mal war es fantastisch. Aber die Realität ist noch viel besser«, gestand Tyson und heute schien er mit dem Süßholzraspeln wirklich spendabel sein zu wollen.
Verlegen stieß ich ihn an der Schulter an.
»Übertreib nicht, du alter Chameur.«
Tyson schnappte sich meine Hände und küsste die Handinnenflächen, ehe er sie sich an die Wangen hielt und seinen Kopf an meine Hände schmiegte.
»Ich sage heute morgen nichts als die Wahrheit, Prinzessin.«
Meine Güte! Wann hatte er angefangen mir jetzt diesen Spitznamen zu geben.
Rubs und Ruby-Bubi war ja von Anfang an ein Gag in diesem Haus gewesen, aber Prinzessin? Das war ... viel persönlicher und enger und irgendwie verhielten wir uns jetzt gerade auch wie zwei Menschen, die mehr waren, als Geschäftspartner oder Freunde.
Scheiße, ich war auf dem direkten Weg, mich in Tyson zu verlieben. Und obwohl ich hundert rote Flaggen auf dem Weg in sein Herz sah, verspürte ich nichts als Hingabe.
Es schien, als wollte ich mich verlieben, als wollte ich mehr für ihn sein, als eine gewöhnliche Freundin.
Bei Gott, ja, verdammt, das war genau, was ich wollte.
Aber Liebe war toxisch und diese Liebe war gefährlich.
Ich sollte mich nicht verlieben. Das sollte ich wirklich nicht.
»Was geht in deinem klugen Köpfchen vor? Ich kann es förmlich rauchen sehen.«
Von Entspannung erfasst, ließ Tyson sich zurück in die Kissen werfen. Einige Sekunden blickte ich auf ihn hinab. Ich saß mitten auf seinem Bauch, die Hände auf seinem Sixpack abgestützt. Die Aussicht war ein Traum, aber ich wollte es mir gemütlicher machen, weswegen ich mich kurzerhand zurück auf Tyson bettete – mein Kopf genau dort, wo ich seinen Herzschlag hören konnte.
Er schien mit dieser Position äußerst zufrieden. Als gehörte er dorthin legte sich sein linker Arm über meinen Körper, während seine rechte Hand durch mein Haar zu kraulen begann.
Dieser Kontakt rief auch in mir Frieden hervor.
»Ich habe gerade festgestellt, dass ich mein Herz an dich verlieren könnte und ... um ehrlich zu sein, macht mir das schreckliche Angst.«
Wenn er heute morgen nur die Wahrheit aussprach, dann konnte auch ich mit der Tür ins Haus fallen.
Und was brachte es auch, dies zu leugnen.
Irgendetwas war von Anfang an zwischen Tyson und mir gewesen und es war nur eine Frage der Zeit, ehe sich dieser Energie nicht mehr widerstehen ließ.
Dieses Schiff war seit es in See gestochen war geradewegs auf einen Wirbelsturm zugesteuert und Gott allein wusste, ob es diesen Sturm überleben oder daran zu Grunde gehen würde.
Als Tyson nichts antwortete, fühlte ich mich bescheuert. Sicher hatte er in unsere Beziehung nicht sonderlich viel hineininterpretiert, hatte nur ein wenig Spaß haben wollen und nun war ich in eine vollkommen andere Richtung gewandert. Ich kam mir lächerlich vor. Wie sollte ein Mann wie er sich auch in ein Mädchen wie mich ... verlieben?
Es erschien mir unmöglich.
Was gut war, schließlich wollte ich nicht, dass er und ich mehr wurden, als wir waren. Ich hatte mir geschworen, nicht mehr als Freundschaft zuzulassen, um seinen und meinen Willen.
Aber jetzt ... wie sollte ich jemals aufhören, umkehren, wenn es auf diesem Meer der Gefühle keinen Ausgang gab, sondern nur vorne und hinten, links und rechts, aber niemals ein Ende?
»Lustig«, durchbrach Tyson meine panische Stille und streichelte mir weiter ganz behutsam über den Kopf.
»Ich habe an genau dasselbe gedacht.«
»Dass ich einmal so rasend schnell mein Herz verlieren würde, hätte ich niemals auch nur erahnen können, aber als du da vor Wochen mit der Waffe in der Hand in mein Büro gekommen bist und ich dir zum ersten Mal in die Augen gesehen habe ... Ich glaube, damals war unser gemeinsames Schicksal schon besiegelt gewesen.«
Er hob meinen Kopf und zwang mich mit sanfter Bestimmtheit in seine Augen zu sehen.
Und wie immer verlor ich mich sofort in ihnen. In diesem stürmischen Grau, mit einem Funken lustvollen Schwarz und einer Menge Liebe für die Menschen, die ihm wichtig waren.
»Wir haben ohne Rückhalt diese Erde verlassen, schwirren allein im All und von dort kommen wir nicht mehr zurück.
Und so falsch das alles sein mag, so gefährlich das alles auch ist ... ich ... ich kann einfach nicht mehr aufhören. Ich kann nicht mehr stoppen.«
Seine blanke Ehrlichkeit war es, die in mir einen Schalter umlegte. Seine schonungslosen Worte waren es, die das Chaos in mir wieder und wieder aufwirbelten.
Er hatte recht.
Wir waren haltlos losgezogen.
Er und ich – mit vollem Bewusstsein. Keiner von uns war je vor dem anderen zurückgeschreckt, hatte um eine Pause gebeten, um Abstand.
Und jetzt ... jetzt waren wir hier.
Und hier kamen wir vermutlich nie wieder heraus.
Aber das Schlimmste an der ganzen Sache war:
Hier wollte ich auch gar nicht wieder heraus.
Um ehrlich zu sein ... nie wieder.
Ich war genau dort, wo ich sein wollte.
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