KAPITEL 21
|| Ja, dieses Kapitel ist furchtbar lang und womöglich etwas unspektakulär, aber ich glaube, es bringt viel Licht in die Dunkelheit und ist dementsprechend notwendig. Außerdem erwartet euch am Ende eine kleine Überraschung. Ich wünsche viel Spaß beim Lesen und einen schönen Tag! ||
TYSON
Ich hatte diesen Tag erwartet.
Ich hatte gewusst, dass er kommen würde.
Aber ich hatte ihn hinausgezögert. Ich hatte ihn und alle Dinge, mit denen er zusammenhing, in den Hintergrund geschoben, um mich auf anderes zu konzentrieren.
Auf jemand anderes. Und das, obwohl alles an diesem Tag mit genau diesem jemand zusammenhing.
Geschäftig wie eh und je, in hellgrauem Anzug und perfekt gebundener Krawatte, stieg ich aus dem schwarzglänzenden Porsche und rückte meine Sonnenbrille zurecht, bevor ich die Fahrertür zuschlug und mir einen Überblick über die bereits gewohnte Umgebung verschaffte.
Autos und Asphalt. Das war das meiste, das ich sah. Autos, die über Asphalt fuhren, hupten, stehenblieben und sich dann wieder dicht an dicht fortbewegten. Das alles in einer Herrgottsfrühe, dass man sich ernsthaft fragen wollte, ob sie alle vorhatten aus der Großstadt zu flüchten oder wirklich nur auf dem Weg zur Arbeit waren. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Was sollte ich dazu sagen? Immerhin war ich bis vor zwei Sekunden selbst mit dem Auto auf dem Weg zur Arbeit und dementsprechend Teil der Kolonne Richtung Vauxhall Bridge gewesen. Von der Villa, außerhalb von London und weitläufig von einem Haufen Nichts umgeben, die sich mein Zuhause nannte, brauchte man knapp zwanzig Minuten in die City. Mit dem Porsche und 300 PS konnte man aus dieser Zeit einige Minuten herauskitzeln, aber heute hatte ich diesen Dienst nicht beansprucht.
Wenn ich Zeit zum Nachdenken brauchte und mich mental auf einen Haufen von geschäftlichen Gesprächen einzustellen hatte, nutzte ich Autofahrten gerne, um meinen Kopf anzustrengen, Konzentration aufzubauen und mir schon einmal ein paar Sätze auf die Zunge zu legen.
Wenn es etwas gab, das ich hasste, dann der vollkommene Kontrollverlust über Handlungen, Gespräche, Dinge oder Menschen. Ich war ein sehr bewusster Mensch, der sich Sachen gerne vor Augen führte, sich Dinge fünfmal durch den Kopf gehen ließ, Chancen und Konsequenzen genauestens unter die Lupe nahm und alles abwog, was es zu abwiegen gab, um am Ende keinen Mist zu fabrizieren. Logan bezeichnete mich an guten Tagen mit einem Schmunzeln auf den Lippen als paranoiden Kontrollfreak, aber er konnte nicht leugnen, dass mir diese Charakteristika schon so manchen Konflikt gespart hatten und es sollte schon etwas bedeuten, dass in meiner Akte noch kein Register mit Blutflecken und Leichen angelegt worden war.
Die wenigen Dokumente, die es über mich gab, waren so sauber, als hätte man sie mit Hochglanzreiniger und einem feuchten Taschentuch stundenlang in der Sonne poliert.
Ich war ein gewissenhafter Mann. Ich war verlässlich.
Und ich wusste, dass dies genau die ausschlaggebenden Eigenschaften waren, weswegen ich den Auftrag in die Hand gedrückt bekommen hatte. Den Auftrag «Rubinia Sullivan».
Nur wenige Sekunden genoss ich die kühlen Sonnenstrahlen, die sich an diesem Morgen auf die Straßen von London trauten und den bewölkten Himmel durchstachen, um zur Erde zu gelangen. Es würde bald regnen. So viel stand fest. Aber das war nichts Ungewöhnliches.
Noch einmal zupfte ich mir die Ärmel meines Anzugs zurecht und fuhr mir durch die Haare, ehe ich mir ein Mantra im Kopf zurechtlegte, um zur Ruhe zu kommen und mein Pokerface aufzusetzen, noch ehe ich das riesige und sandsteinfarbene Gebäude betrat.
Hinter diesen Mauern würde ich zu einem anderen Menschen werden. Einem Mann, der Gefühle nicht kannte, der wusste, wie er Dinge genauestens verbergen konnte und sich keinen Moment der Schwäche erlaubte.
Zuhause fiel es mir oft schwer diese Männer zu unterscheiden. Immer wieder tauschte ich meine Gesichter, war manchmal distanziert und kühl und tat mich schwer damit, Empathie zu zeigen, während ich an anderen Tagen keine Probleme damit hatte, alles loszulassen, fallenzulassen und einfach nur ein Mensch zu sein, der Fehler machte, laut wurde und schallend lachte.
An einigen Tagen war Kontrolle mein größter Feind. Das, was ich am meisten hasste, fiel mir selbst ziemlich schwer zu bewahren.
Genau aus diesem Grund wies ich immer wieder die Leute, die ich liebte, von mir und genau aus diesem Grund war ich Ruby gegenüber so verschieden. Mal lachte ich mit ihr, dann wieder verzog ich keine Miene in ihrer Nähe. Mal verließ ich den Raum, sobald sie ihn betrat, mal wollte ich nichts mehr, als mich der Anziehungskraft hingeben, sie in meine Arme ziehen und nie wieder loslassen.
Dieser letzte Teil überwog in ihrer Nähe. Immer mehr. Er wurde stärker. Und dabei lag das Problem. Denn je länger ich mich in Rubys Nähe aufhielt, desto wahnsinniger und süchtiger wurde ich. Alles an ihr war verlockend für mich.
Ihre zarte Haut, ihre töricht roten Lippen, ihr Haar, ihre Stimme, die harte Schale mit dem weichen Kern und jede Überraschung, die in ihr schlummerte.
Ja, alles an Ruby machte mich süchtig nach ihr, alles an ihr riss an meiner Selbstbeherrschung und Kontrolle und darum musste ich mich an manchen Tagen von ihr fernhalten.
Denn wenn ich das nicht tat, dann würde ich rücksichtslos, haltlos werden und schneller als sie gucken konnte, hätte ich sie in meinen Besitz genommen, hätte sie an mich gezogen und so lange geküsst, bis wir beide davon ohnmächtig geworden wären.
Ruby machte mich verrückt.
Sie machte mich verrückt, sie machte mich scharf und dafür, dass sie so süß und niedlich, tough und sexy, klug und witzig war, hatte ich ihr schon hunderte Male den Hintern versohlen wollen.
Verdammt, sie machte mich wirklich verrückt.
»Komm runter, Mallion«, flüsterte ich mir selbst zu, während ich in Richtung des gläsernen Haupteingangs, der aus einer durchsichtigen Flügeltür bestand, lief und selbstbewusst und ernst einen Fuß vor den anderen setzte.
Kaum hatte ich die Tür passiert und meinen Ausweis vor den roten Scanner in der großen Eingangshalle des SIS Gebäudes gehalten, war ich ein anderer Mensch.
Hinter diesen Mauern und wann immer ich unter Kollegen war, war ich nicht länger nur Tyson Mallion, der Londoner Architekt und Designer, der aus einem Häufchen Nichts Luxusappartements und Wohnhäuser kreierte. Dieser Mann war ein Teil von mir, aber in diesem Gebäude lediglich ein Vorwand.
Nein, hier im MI6, dem Hauptquartier des Secret Intelligence Service war ich einer der Agents und im Auftrag des britischen Geheimdienstes unterwegs.
Seit knapp sechs Jahren arbeitete ich immer wieder außendienstlich im Bereich der Spionage und des Personenschutzes. Neben meiner zweiten Berufung war dieser Job wie ein Kick, ein Adrenalinstoß. Als ich mit siebzehn die Schule abgebrochen und stattdessen bei meinem Großvater im Architekturbüro eingestiegen war, war der Flyer zu jener Ausbildung in diesem Gebäude bloß eine Idee gewesen.
Aber kaum hatten Logan und ich das erste Training hier absolviert und uns mit den anderen Neuankömmlingen gemessen, waren für eine Einheit im Außendienst gewesen, hatten Spionage betrieben und uns mit den Kampftechniken und Waffen vertraut gemacht, war dieses Leben, so, wie es heute war, zu einem Teil von uns geworden und ich hatte meinen Bruder selten so glücklich erlebt.
Bis heute glaubte ich, dass er diese Art von Beruf, einen Beruf, der jederzeit gefährlich und lebensbedrohlich werden konnte, wie die Luft zum Atmen brauchte. Es erfüllte ihn, Leben zu retten. Leben zu schützen und Gefahren abzuwenden. Ihn, ebenso wie mich.
»Guten Morgen, Mister Mallion«, grüßte mich Katy am Empfang. Ich nickte ihr freundlich zu, während ich durch die Eingangshalle zu den Aufzügen lief.
Obwohl es früh am Morgen war, noch nicht einmal halb sieben, liefen schon jetzt hunderte von Menschen durch das Gebäude und begannen mit der Arbeit oder ließen sich ablösen.
Männer in noblen Anzügen oder Schutzkleidung. Frauen in Blazern oder Kampfausrüstung.
Immer wieder grüßten mich vertraute Kollegen der letzten Jahre, ich erwiderte die lächelnden Gesichter bedingt. Ehrlich musste ich gestehen, dass ich mich nie sonderlich für die Gemeinschaft hier interessiert hatte. Ich kannte vereinzelt ein paar Leute und wusste genau, mit wem ich gleich in einem Raum sitzen würde. Aber aus den anderen Abteilungen, Leute, die Kameras und Systeme hakten, Teams zuteilten oder für die Waffen zuständig waren, kannte ich kaum jemanden. Eigentlich waren es seit sieben Jahren dieselben zwanzig Leute mit denen ich zutun hatte und mehr als die Hälfte der Gesichter, die mir entgegenkamen und mich grüßten, waren mir unbekannt.
Kaum zu glauben, aber wahr, bei Logan sah das anders aus. Er kannte fast jeden in diesem Gebäude und war der deutlich sympathischere Typ von uns beiden. Für mich hatte das nur Vorteile, denn während ich den kühlen Kopf bewahrte und Skepsis zeigte, verbreitete er ein bisschen gute Laune. Eigentlich die perfekte Mischung, aber seitdem Ruby in unser Leben getreten war, verhielt er sich anders. Aggressiver, kühler.
Nicht mehr wie jener Mann, den ich kannte.
Nach unserem Streitgespräch vor Wochen, in dem er lautstark verkündet hatte, dass er Ruby nicht hassen konnte, obwohl er es – aus welchen Gründen auch immer – wollte, hatte ich ihn einige Male auf Ruby ansprechen wollen, um Fragen beantwortet zu bekommen, aber immer hatte er mich von sich gewiesen und war genervt abgedreht.
Stets meckerte er herum, tat auf genervt und wollte mir weis machen, dass er kein Problem hätte und ich nicht so viele Fragen stellen sollte.
Das er allerdings ein Problem hatte – mit Ruby – war mehr als nur deutlich. Seit sie da war, war er rund um die Uhr angefressen, durchlöcherte sie mit seinen Blicken und drehte ab, wann immer sie in der Nähe war.
Augenscheinlich konnte man an gar nichts anderes denken, als dass er sie hasste. Manchmal aber ließ er einen vollkommen anderen Mann durch die Oberfläche scheinen. In Xanders Club beispielsweise. Dort hatte er strengstens Wache gehalten und das nicht wegen mir oder den anderen.
Das war Bullshit, schließlich waren Casper und Vanner nicht irgendwelche Freunde der Familie, sondern hervorragend ausgebildete Agents wie Logan und ich und auch Landon und Tristan waren in Sachen Selbstverteidigung bestens vorbereitet.
Nein, Logan hatte strengstens darauf geachtet, dass Ruby in Sicherheit war und die Konsequenz seiner Aktion war nicht durch den Auftrag verursacht worden. Nein, es war viel persönlicher gewesen.
Sein Verhalten ließ mir nachts keine Ruhe. Krampfhaft versuchte ich Gründe für seine Launen und Handlungen zu finden, aber anstatt Schlüsse zu ziehen, stellte ich tagtäglich klarer fest, wie wenig ich meinen Adoptivbruder eigentlich kannte.
Er lebte seit Jahren Seite an Seite mit mir, war ein Teil meiner Familie und doch sah ich einen fremden Mann neben mir, wenn er morgens die Küche betrat.
Dieser ... Hass, diese Abscheu – Was auch immer – das passte einfach nicht zu Logan.
Ich konnte ihn nicht mehr einschätzen. Mal war er stinkwütend und verließ mit rauchendem Kopf das Zimmer, mal war er aggressiv, dass ich glaubte Ruby doch vor ihm beschützen zu müssen, dann wieder starrte er sie Ewigkeiten lang an und verfolgte jeden ihrer Schritte, dass mir vor Eifersucht der Kragen platzte und immer wieder waren da diese besserwisserischen Sprüche über ihre Familie, als würde er sie persönlich kennen.
Fremd. Fremd. Fremd. Logan war mir fremd. Ich hatte geglaubt, ihn zu kennen, aber das war ein Irrtum gewesen.
Hier stimmte etwas nicht.
Er war immer verschlossener als alle anderen gewesen.
Als letztes Kind der Runde hatte ich geglaubt, dass er einfach eine Vergangenheit hatte, die er schwerer verarbeiten konnte, als die anderen. Er war ein Kämpfer gewesen, einer, der seine Konflikte immer mit sich selbst löste. Ich hatte das nie hinterfragt, denn ich hatte kein Recht dazu gehabt. Jeder hier hatte eine lange Geschichte hinter sich, die es zu verarbeiten galt und die man nicht in die Welt hinausposaunen, sondern lieber hinter hohen Mauern verschließen wollte. Aber nun stellte ich fest, dass es vieles zu hinterfragen gab.
Ich wollte nicht hinter Logan herschnüffeln. Wenn er nicht über Dinge sprechen wollte, dann gingen sie mich auch nichts an. Aber mit seinen Launen ging er uns allen nicht nur auf den Keks, nein, er er vergraulte auch Ruby, was unsere Mission jeder Zeit in Gefahr bringen konnte.
Ich wusste nur nicht, wie ich an Informationen kommen sollte. Logan wollte mir nichts sagen und stritt jeglichen Bezug zu Ruby ab.
Ob ich meine Eltern in das Geschehen mit einbeziehen sollte? Tristan und Landon waren ebenfalls an ihrem älteren Bruder gescheitert, aber meine Mutter hatte bis jetzt noch jede Nuss geknackt.
Ich kam mir vor wie ein Verräter, hatte sogar daran gedacht, seine Akten zur Adoption zu durchforsten, aber damit würde ich vermutlich die nächste Auseinandersetzung zwischen ihm und mir vom Zaun brechen.
Trotzdem ... Logan ließ mir kaum eine Wahl, wenn er nicht von selbst den Mund aufmachte.
Hätte ich nur früher gewusst, warum er sich entschlossen hatte, zu schweigen ...
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»Tyson! So früh wie immer! Nichts anderes habe ich erwartet.«
»Der frühe Vogel frisst den Wurm. Der frühere Vogel frisst den Vogel – Sie wissen doch darum«, erwiderte ich gelassen und erhob mich aus dem grauen Stoffsessel, um Mister Younger und den nach ihm eintreten Damen und Herren des Kaffeekränzchens die Hände zu schütteln.
Younger lachte nickend.
»Aber natürlich. Wie ich sehe, hast du gute Laune, mein Junge. Das lässt mich darauf schließen, dass du endlich ein paar Einzelheiten für uns hast, die uns zusätzlich erfreuen sollten. Fangen wir gleich an.«
Kaum hatten sie alle sich an den ovalen Konferenztisch gesetzt, begegneten mir erwartungsvolle Blicke. Ich ließ mir einen Moment der Ruhe und setzte mich ebenfalls wieder.
»Was wollen Sie hören?«, fragte ich dann offen in den Raum. Wenn ich eines gelernt hatte, dann dass man immer auf Fragen antworten sollte, anstatt zusammenhangslos loszubrabbeln und Dinge preiszugeben, die niemanden interessierten. Ich wollte nicht durchschaubar wirken und das tat ich nicht.
Fragen forderten bestimmte Antworten, freies Gerede war unnötig emotional.
»Alles. Am besten fängst du am Anfang an. Deine E-Mails und Anrufe in den letzten Wochen waren zwar aufschlussreich, aber wir wollen noch einmal zusammenfassen, was bis hierhin geschehen ist, ehe wir mit dem weitermachen, was noch kommen wird«, bestimmte Younger – mein Vorgesetzter und Auftraggeber – und sah in die Runde, ob jemand einen Einwand hatte.
So gesehen war er in dieser Runde der Boss, niemand hatte etwas einzuwenden oder rollte gelangweilt mit den Augen, obwohl sie mit Sicherheit Langeweile empfanden. Schließlich war ich nicht der einzige, der seine Hausaufgaben machte und meine aufschlussreichen E-Mails und Anrufe, wie er es so schön gesagt hatte, waren durch die gesamte Abteilung gerutscht. Hier war jeder bestens informiert – zumindest informiert von den Dingen, die ich preisgegeben hatte.
Es gab einige ... klitzekleine ... eigentlich verbotene und vielleicht gefährliche, aber durchaus heiße, Details, die ich der Publik erspart hatte.
»Fein. Also rollen wir die Sache von hinten auf. Was soll ich dazu sagen? Wie Sie alle wissen, sind wir seit über einem halben Jahr den Tätern des Attentats der Familie Sullivan auf der Spur. Wegen der mickrigen Beweislage der örtlichen Polizei und den starken Unruhen, in den letzten Monaten, entstand der Verdacht, dass in unseren eigenen Reihen etwas nicht mit rechten Dingen zugeht und dass es jemand des öffentlichen Personenschutzes auf die Familie abgesehen hat. Die Beweislage ist seit jeher mager. Angebliche Fingerabdrücke an den Tatwaffen und der bloße Fakt, dass es nur ein überlebendes Opfer der Familie gibt, haben vermehrt den Verdacht entstehen lassen, dass Rubinia Sullivan, Tochter und Schwester der Mordopfer, als einzige Täterin in Frage kommt. Sie selbst hat sich dazu nie geäußert. Innerhalb der Prozesse hat sie stets geschwiegen und sich weder verteidigt noch für schuldig bekannt. Aufgrund ihres Alters und den schwachen Ermittlungen wurden die urteilsfällenden Prozesse bis zu ihrer Volljährigkeit vertagt und sie mit polizeilicher Bewachung in Wohngemeinschaften und Kinderheimen untergebracht.
Wie Sie alle wissen, war es meine Aufgabe, hinter diese Unklarheiten zu kommen. Wegen der Beweise und des schwachen Mordmotivs sind wir der Überzeugung gewesen, dass jemand versucht, Rubinia, als Erbin des beträchtlichen Vermögens, diese Straftat in die Schuhe zu schieben, sich aber zur selben Zeit womöglich an dem Geld der Familie zu bereichern. Durch den Anwalt der Sullivans sind wir auf die Sonderregelung des Erbes gekommen. Beim Todesfall der Eltern werden nicht nur alle Konten mit sofortiger Wirkung gesperrt, nein, das Geld ist zudem durch ein Dokument abgesichert, das in einem Safe im Inneren der Villa hier in London, die als Wohnsitz der Familie bekannt ist, positioniert sein soll. Dieses Dokument schaltet mit Unterschrift und persönlicher Einwilligung des Erben – und nur auf diese Weise – die Konten wieder frei. Da Rubinia als einziges, lebendes Familienmitglied bekannt ist, liegt es nahe, dass es sich um ihre Einwilligung handelt.
Einige werfen ihr gerade aus diesem Grund den Mord vor.
So soll sie sich mit dem Wissen, alleinige Erbin des Vermögens zu sein, an ihren Eltern vergangen haben, um sich an dem Geld bedienen zu können.«
Ich hielt einen Moment inne und knetete meine Finger, um sie nicht in einer geballten Faust auf den Tisch vor mir zu semmeln. Je lauter ich die Anschuldigungen aussprach, desto lächerlicher erschienen sie mir.
Als ob eine Siebzehnjährige aus reiner Habgier nach Geld auf die Idee kam, ihre Eltern zu ermorden. Das war nicht nur absurd, sondern auch eine vollkommen realitätsferne Idee.
Familie Sullivan war bis vor Kurzem noch als die Bilderbuchfamilie beschrieben worden. Zwei goldige und bildhübsche Kinder, Karriereeltern der Sonderklasse und doch bodenständig und selbstlos scheinende Menschen, die sich nicht zu schade dafür waren, ihre Kinder auf öffentliche Schulen zu schicken oder sie wie jedes andere Kind der Mittelklasse aufwachsen zu lassen.
Niemals war der Verdacht entstanden, dass es in den inneren Reihen der Familie derartig falsch einherging, dass eine, damals noch, Sechzehnjährige tatsächlich zu einem Messer griff.
Die gute Beziehung der Geschwister Sullivan war in den Medien hinauf und hinunter gegangen. Ruby war als Engel mit Vorlieben zur kindlichen Frechheit bezeichnet worden und Jonas Sullivan galt als der etwas ruhigere und zurückgezogene, aber sportlich Begabte, der seine kleine Schwester sehr gut im Zaum hielt.
Niemand wäre jemals auf die Idee gekommen, Rubinia sei zu einer solchen Tat fähig, aber kaum hatte die erste Zeitung über das blutrünstige, schreckliche Ereignis berichtet, tat die gesamte Stadt so, als sei ein solches Ende immer zu erahnen gewesen.
Mit jedem Tag, der verging, und die Nachrichten sich um nichts anderes, als meine rothaarige Schönheit drehten, wurde ich bitterer im Glauben an diese Menschheit.
In meinem tiefsten Herzen war ich davon überzeugt, dass Ruby unschuldig war, dass ihre Seele kein Tropfen Blut befleckte.
Sie war das reinste Wesen, dem ich jemals begegnet war und ich würde sie vor dem Tod, vor dem Gefängnis und jeder potentiellen Gefahr in der Zukunft bewahren, wenn das nötig war, um sie lächeln zu lassen.
Die ganze Situation war dunkel und verworren und Ruby war ein komplizierter Mensch mit vielen Facetten und Mauern, aber obwohl sie nie abgestritten hatte, schuldig zu sein, obwohl sie nie ein Wort verloren hatte, wusste ich ganz genau, dass alles an ihr unschuldig war.
Und ich würde es beweisen.
Ich würde es beweisen.
»Dieser Anschuldigung haben wir nie sonderlich viel Gewichtung gegeben, anders als unsere Kollegen im Police Department, was die Frage nach Verrätern der eigenen Reihen immer häufiger aufwarf.
Um endlich Licht in die Dunkelheit zu bringen, trug Mister Younger mir vor Monaten auf, mich intensiver mit dem Fall rund um das Mädchen zu beschäftigen und sie näher ins Auge zu fassen. Für einige Zeit habe ich sie im sozialen Umfeld ihres letzten Wohnsitzes – einer Wohngemeinschaft in Hackney – beschatten lassen, ehe ich sie unter einem Vorwand in meine private Residenz gebracht und ihr einen Deal vorgeschlagen habe, der sie in meiner Nähe behalten sollte.
Ein tatsächlich angefangenes Bauprojekt ihres verstorbenen Vaters und das verlockene Angebot von Freiheit hat sie tatsächlich schnell überzeugt und zu einem Teil meines Alltags werden lassen. Damit ich und meine Geschwister ihr auf persönlicher Ebene näher kommen und ihr Vertrauen gewinnen konnten, war es einfacher, ihr das Gefühl zu geben, sie sei aus vollkommen unerlässlichen Gründen bei uns.
In den letzten Wochen habe ich einen erstaunlichen Menschen kennenlernen dürfen. Für ein Mädchen so jungen Alters ist Rubinia Sullivan ziemlich schlau und clever. Sie ist eine sehr selbstbewusste Frau und auch in Sachen Selbstverteidigung nicht zu unterschätzen.
Sie ist durchaus eine Frau, die innerlich mehr zu bieten hat, als es von Außen scheint.
Ich sehe Schatten von dem Menschen, den die Medien aufzuziehen versuchen und bin selbst der Überzeugung, dass diese Lady durchaus in der Lage ist, einen Menschen umzubringen.«
Am Tisch hoben sich die Augenbrauen.
Auch Younger lehnte sich hellhörig vor und legte den Kopf schief, als habe er nicht erwartet, dass ich Ruby diesen Mord tatsächlich zutraute.
Doch das tat ich.
Physisch hatte sie mir durchaus bewiesen, dass sie einen Menschen auch ganz ohne Waffen über das Knie legen konnte.
Ich hatte es selbst am eigenen Körper erfahren, Logan und Tristan auf eine noch härtere Weise.
Aber wie ich Logan vor Tagen hatte klarmachen wollen, dass es nicht nur um Rubys physische, sondern auch um ihre psychische Sicherheit ging, argumentierte ich auch heute in diese Richtung.
Denn auch wenn ich Ruby einen Mord physisch zutraute, glaubte ich mit keiner Faser meines Körpers, dass sie psychisch in derselben Lage war, um auch nur einen Vogel zu erschießen.
Die Medien stellten sie als gefühlskaltes Miststück da, das ihre Eltern getötet hatte.
Aber gefühlskalt war die Frau, die ich kannte, keinesfalls. Im Gegenteil. Ruby war ein Fluss aus Gefühlen, der mich mit sich gerissen hatte. Und egal wie oft Logan mir unterstellen wollte, dass ich von ihr emotional ergriffen war und dementsprechend nicht klar denken konnte, ich war totnüchtern, wenn es um die Anschuldigungen ging.
Ich würde für diese Frau und ihre Unschuld im Feuer verbrennen – ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
»Sie mag minderjährig sein. Aber diese Frau besitzt ein bewundernswertes Feuer in sich, das nur die wenigsten Menschen zu entfachen schaffen. Sie ist stark, gewiss keine leichte Konkurrentin und hat meinen Kollegen und Bruder Logan Mallion im Handumdrehen umgelegt.
Aber bevor Sie falsche Schlüsse ziehen, möchte ich betonen, dass ich mich hierbei auf ihr physisches Können beziehe.
Psychisch nämlich – und das ist meiner Meinung nach der ausschlaggebende Punkt, den Medien und Co. konstant ignorieren – sieht die Situation ganz anders aus.
Vor einigen Wochen habe ich eine beinahe vollkommen abgemagerte junge Frau bei mir Zuhause aufgenommen.
Sie schlief so gut wie den gesamten Tag über, hatte tiefe Ringe unter den Augen und sah stets ein wenig kränklich aus. Sie verweigerte sich Essen.
Nach einigen Tagen erfuhr ich auch, wieso.
Sie hatte Angst. Angst davor, vergiftet zu werden. Anscheinend hatte in der nahen Vergangenheit jemand versucht, ihr Gift unterzujubeln, um sie aus dem Weg zu räumen. Sie verriet mir nicht allzu viele Details, aber der Eindruck ihres Redens hat mich überzeugt und wenn Sie ihr nicht glauben sollten, dann glauben Sie eben mir.
Zu ihrem knochigen Aussehen und auffälligen Essverhalten, kommen Schlafstörungen, fieberhafte Alpträume und Panikattacken.
Je länger ich sie betrachtet habe, desto ferner war mir das Bild einer potentiellen Mörderin, bis es mir und auch dem Rest meiner Geschwister vollkommen ausgeschlossen erschien.
Sie ist ein guter Mensch. Niemand, der zu einer Waffe greift. In meinen Augen ist sie ein vollkommen normaler Teenager, den man aus seinem Alltag gerissen hat, um ihm Bürden aufzuerlegen, die niemand erfahren sollte.
Dieses Mädchen hat mit gewiss mehr Dingen zu kämpfen, als wir es uns vorstellen können. Sie verbirgt eine Menge Geheimnisse, aber keine, die mit ihr als Täterin einhergehen.
Rubinia ist von Natur aus ein stillerer Mensch. Sie redet nicht viel, obwohl in ihr mit absoluter Sicherheit eine Menge Worte lauern.
Versetzen wir uns nur ein einziges Mal in ihre Lage, ist es kein Wunder, wieso diese Frau sich für das Schweigen entschieden hat.
Wenn ich meine eigenen Eltern und Geschwister von heute auf morgen auf solch grausame Weise verloren und zusätzlich noch ihren Mord angehängt bekommen hätte, dann wäre auch ich mit Gewissheit kein Mann großer Worte.
Ich weiß, dass ich Sie nicht überzeugen muss, aber ich möchte betonen, welche Erfahrungen ich in den letzten Wochen gemacht habe und welcher Eindruck mir selbst vermittelt wurde.
Um zurück auf das Wesentliche zu kommen ...«
Ich hielt einen Moment inne und befeuchtete meine Lippen.
»... neben ihrer Aufnahme in mein Haus, um sie im Auge zu behalten und mehr über sie zu erfahren, womöglich Worte zu erhalten, die ihr sonst stumm auf der Zunge liegengeblieben sind, sind wir zusätzlich dem Plan eines Einbruchs näher zu kommen.
Rubys Vater hat mit seinem Bauprojekt Schulden, die der ausschlaggebende Punkt dafür sind, dass ich die Kontenfreilassung fordere. Das gewünschte Dokument liegt abgesichert in der Villa, was den Einbruch in das Gebäude einschließt.
Wie sie alle wissen, wird das Wohnhaus von der örtlichen Polizei und den verbliebenen Sicherheitsmännern der Familie selbst bewacht.
Gehen wir davon aus, dass einer der Beamten durch Ruby an das Geld gelangen möchte, ist der unauffällige Einstieg in das Haus kein Problem. Der Safe allerdings wird mit Sicherheit mit Alarm geschützt sein und sollte dementsprechend von einem Passwortwissenden geöffnet werden.
Die Medien berichten brechend davon, dass die Polizei nach dem verschwundenen Mädchen sucht. In meinen Augen ein Vorwand, um sie letztendlich selbst zu entführen und dann zu erpressen. Zu ihrer eigenen Sicherheit also befindet sich Rubinia in meinen vier Wänden.
Inwiefern hat Sie Logan über den letzten Stand der Dinge in Kenntnis gesetzt?«, unterbrach ich meine ellenlange Rede und sah zu Younger.
Er notierte sich angeregt einige Stichworte auf einem Blattpapier. Ähnlich die anderen strengen Damen und Herren, die neben mir am Tisch saßen.
Ich war umgeben von langweiligen und monotonen Gesichtern. Frauen mit fest zusammengeknoteten Haaren und Blazern und Männern in strikten Anzügen und schmalen Lippen.
Ich gehörte zu dieser Gruppierung von Menschen.
An manchen Tagen war ich ein genauso tristes Gesicht, wie alle hier.
Das hieß aber nicht, dass ich stolz darauf war. Das war ich nicht. Und mir gefiel diese Monotonie auch keineswegs.
Im Gegenteil.
Ich liebte Farbe und Formen, das Originelle und Fantastische, Dinge, die über die Stränge hinausschlugen.
Im Herzen war ich ein schrecklich weicher Mann, wenn ich es recht betrachtete. Nichts war mir wichtiger, als meine Familie. Ich liebte meinen Beruf als Architekt, weil ich dabei meiner Fantasie freien Lauf lassen musste und am liebsten wäre ich gerade jetzt zurück in der Villa und würde darauf warten, das Ruby die Küche betrat.
Ob sie schon aufgewacht war?
Ob sie sich fragte, wo ich war? Ob sie mich wohl suchte?
Sehnte sie sich ebenso sehr nach mir, wie ich mich nach ihr sehnte?
Säße sie hier in diesem Raum, wäre die Welt gleich eine ganz andere. Sie wäre heller und freundlicher, schöner und interessanter.
Urplötzlich stellte ich mir vor, wie sie und ich alleine hier wären. Wie ich sie schamlos angaffen, aus der Ferne anbeten würde, weil sie so unglaublich schön war. Wie ich meine Arme nach ihr ausstrecken würde, lächerlich sehnsüchtig, weil ich keine Minute ohne ihre Berührung leben wollte.
Keine Minute, ohne ihre zarte Haut an meiner, ihre Lippen dicht an den meinen und ihrem Herzen, das ich in tiefster Stille für mich schlagen hörte.
Noch nie zuvor hatte mich eine Frau so betört wie diese. Alles an Ruby bedeutete meine Versuchung und Hingabe und ich war verdammt, sobald sie in meiner Nähe war.
Die prickelnde Spannung, das Feuer, die Energie, sobald wir einander näher kamen, machte mich wahnsinnig und ich begehrte diese Frau so sehr, wie ich noch niemals einen Menschen begehrt hatte.
Ich wollte sterben, wenn sie nicht dasselbe für mich empfand, wie ich für sie.
Ich würde sterben, wenn sie mich irgendwann verlassen würde, obwohl sie noch nicht einmal zu mir gehörte.
Ich würde sterben.
»Ich fand, er war nicht sehr gesprächig. Vielmehr klang er, als sei er den Auftrag längst leid. Er sprach von einem Xander Wanderwal, den Sie aufgesucht haben, um an die Adresse von ehemaligem Personal der Familie zu kommen. Die Namen eines gewissen Flicker Sanders und eine Maisie Tallen liegen uns vor, ausgehändigt mit zwei Adressen, ist das korrekt? Oder wissen Sie schon mehr über die beiden?«
Ich schüttelte den Kopf.
Nein, mehr hatte Ruby mir nicht anvertraut. So wie bei fast allem, was ich den letzten Wochen erfahren hatte. Ich kannte Bruchstücke, verschmierte Fetzen ihres Lebens und das war alles. In vielerlei Hinsicht war mir das ein Dorn im Auge, aber ich konnte und wollte sie nicht drängen, denn was sie in ihrem Kopf haben musste, war einfach nur grausam und sicher nicht für jedermanns Ohren bestimmt.
Ich konnte verstehen, dass sie mir nicht vertraute, aber ich wünschte mir nichts sehnlicheres. Und das nicht, weil ich in meinen Ermittlungen weiterkommen wollte, Ruby war schon lange nicht mehr nur ein Projekt für mich, das ich abhaken wollte – Um Gottes Willen – sondern ich wollte ihr Vertrauen, als eine Person, die ihr wichtig war.
Ich wollte Ruby.
Um jeden Preis.
Mit Haut und Haar.
Obwohl das nie in meinen Plänen gestanden hatte, nie abgesprochen und eigentlich nicht gern gesehen war.
Für diese Frau waren mir die Vorschriften egal.
Meine Professionalität war mir egal. Ich würde diesen Job für sie aufgeben, wenn sie das je verlangen würde. Ich war mir mehr als sicher.
»Nein, wir wissen noch nichts näheres. Auch über Xander haben wir mit unseren Recherchen nichts gefunden. Seine Akten sind genau so verschlüsselt, wie Rubys eigene, aber in seinem Fall verwundert es mich nicht.«
Eine Brünette hob fragend den Kopf. Brianna Micheals. Ein kleines Computergenie.
»Wieso ist es nicht verwunderlich?«
Ich musterte sie mit zuckenden Lippen.
»Weil ich ihn für noch kompetenter als dich in Sachen Technik halte. Er ist nicht nur der Besitzer eines ziemlich schicken Clubs irgendwo in der Einöde, sondern auch ein Genie, wenn es um Datenverschlüsselung, Entschlüsselung und Hackerei geht. Ich habe sein Büro gesehen und war zutiefst beeindruckt, wie schnell er die Adressen herausgeben konnte.«
Brianna schnaubte.
»Das ist keine Kunst, Tyson.«
Mein Lächeln verblasste nicht. Trotzdem stellte ich mir einen Moment vor, Ruby hätte mich gerade bei meinem Namen genannt. Sie tat das auf eine sonderbar schöne Art und Weise, die mir sehr gefiel.
»Wenn du das sagst, Brianna. Ich war trotzdem beeindruckt. Auch vom Sicherheitssystem des Clubs. Der Mann besitzt durchaus einen Kopf und er steht Ruby sehr nah. Er war einer der engsten Freunde ihres Bruders, weswegen ich ihn nicht als jemanden verdächtige, der der Familie in den Rücken fallen würde. Wir stehen auf derselben Seite wie er. Und Ähnliches vermute ich bei den beiden Personen, mit denen wir in den nächsten Tagen in Kontakt treten. Sie scheinen Ruby sehr nahe zu stehen, oder damals gestanden zu haben.«
»Wie kommt es, dass wir über alle drei kein Bild hatten? Als wir uns dem Fall angenommen haben, stand niemand dieser Personen auf unseren Listen.«
»Vielleicht hat sie jemand gedeckt oder absichtlich aus den Registern gestrichen. Ich glaube nicht, dass Ruby sich diese Menschen ausdenkt.«
Nicolas Thorn – einer der leitenden Sicherheitsmänner und ehemaliges Mitglied der britischen Armee – ,der direkt neben mir Platz genommen hatte, nickte in Zustimmung.
»Mit Sicherheit nicht. Ich halte sie für ein ausgesprochen schlaues, aber kein durchtriebenes Mädchen. Außerdem stellt diese Auffälligkeit eine Erpressung in den Vordergrund, die wir genauer untersuchen sollten. Ich denke, es wird klug sein, diesen Menschen nach dem Treffen mit dem Mädchen noch einen weiteren Besuch abzustatten, sollten sie sich nicht sofort vertraut geben.«
Ich nickte ebenfalls. Das würde mit Sicherheit Sinn ergeben. Und ich hatte auch beschlossen, Timo und Frankie noch einmal abzupassen. Xander schien durch seinen Club und seine Computerkenntnisse selbstständig für seine Seriosität sorgen. Aber Frankie und Timo waren zuvor nie ins Rampenlicht gestellt worden, obwohl sie offensichtlich einen Teil in Rubys Leben füllten. Das wollte ich näher unter die Lupe nehmen.
»Aber wie gehen wir weiter fort? Nehmen wir an, es handle sich tatsächlich um Verräter bei der Polizei und das Ganze ist inszeniert, um durch dieses Mädchen an das Geld zu kommen und sie dann umzubringen. Nehmen wir an, das alles war von vorne bis hinten eine durchgeplante Sache. Wie wollen wir Beweise finden?
Wir haben vielleicht Menschen, die für unsere Theorie aussagen, aber das ist nichts handfestes. Und bis jetzt sprechen die Fakten immer noch für sich. Wir müssten jemanden auf frischer Tat ertappen.«
Patrick – der kühle Kopf der Abteilung – riss das Ruder der Konversation in die richtige Richtung.
Über seine Fragen hatte ich mir ebenfalls schon Gedanken gemacht. Und war zu nichts gekommen.
»Bis hierhin können wir sonst was behaupten und trotzdem spricht alles gegen uns. In richterlicher Hinsicht sitzen wir auf der Reservebank und niemand schenkt uns Beachtung. Die Bullen können alles drehen und wenden und am Ende werden wir für falsche Anschuldigungen über den Tisch gezogen. Wir verlieren unser Gesicht, solange wir nichts festes vorlegen.«
Er hatte verdammt recht.
Aber mir wollte auf die Schnelle auch nichts einfallen, das Rubys Unschuld bewies und diese Polizisten entlarvte.
»Ich glaube, so lange Ruby im Untergrund verwahrt ist, ist sie vielleicht selbst in Sicherheit, aber sie wird immer das Kanonenfutter bleiben, das sie jetzt ist.«
Younger tippte sich nachdenklich an das Kinn. Ich biss mir auf die Unterlippe.
»Sie wollen also sagen, wir müssten Ruby wieder entstellen und sehen, was passiert? Ob sie tatsächlich jemand entführen will?«
Meine Hand ballte sich sofort zu einer Faust.
Das sollte ein Witz sein, oder?
Über meine Leiche würde ich sie dieser Gefahr aussetzen!
»Um ehrlich zu sein ... ja.
Denn dieses Mädchen ist alles, was sie momentan haben wollen. Sie ist das Objekt der Begierde, weil sie diejenige ist, die problemlos diesen Tresor öffnen und das Geld springen lassen kann. Und sobald sie unbrauchbar ist, werden sie sie klammheimlich umlegen, ohne, dass je jemand etwas davon mitbekommt, weil sie sie zuvor bis an ihr Lebensende einsperren werden. Sind wir doch ehrlich, das alles ist perfekt aufgebaut. Und Rubys Geburtstag wird ihr Schicksal besiegeln.«
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Ich fuhr so rasant die Auffahrt hinauf, dass meine Reifen gefährlich quietschten, als ich kurz vor dem Haus scharf abbremste und den Motor sterben ließ.
Minutenlang musste ich an Ort und Stelle sitzenbleiben und in die Dunkelheit starren, weil ich glaubte, meinen Verstand zu verlieren.
Das alles war nicht so abgesprochen gewesen.
Das alles war nicht so geplant gewesen.
Das alles war ... es war ... inakzeptabel!
Ich war fassungslos und aufgeschmissen, aber vor allem war ich – und das war selten – ängstlich. Ich hatte schreckliche Angst.
Es war mitten in der Nacht. Ich war den gesamten Tag über verschwunden gewesen und hatte mich nicht ein einziges Mal bei irgendjemandem gemeldet. Mein Handy steckte, seit ich den Konferenzsaal am späten Nachmittag verlassen hatte, ausgeschaltet in meiner Hosentasche.
Nach den mehr als unzufriedenstellenden Beschlüssen, war ich sofort zu Messterminen aufgebrochen und hatte zwei Kunden besucht, deren Wohnungen in diesem Monat fertig eingerichtet werden sollten. Später hatte ich noch im Büro angehalten und einiges an liegengebliebenem Papierkram durchgearbeitet, der sich in den letzten Tagen angesammelt hatte.
Wirklich konzentriert war ich dabei nicht gewesen. Ständig spukte mir der Ausgang unserer Diskussion im Kopf und wühlte mich mehr als nur auf.
Scheiße! Dieser Tag war so frustrierend gewesen, dass ich jetzt keine Ahnung hatte, wo ich mit meiner aufgestauten Wut hinwollte.
In einer Kurzschlussreaktion stieg ich aus dem Wagen, öffnete die Haustür und schlüpfte lautlos in die Dunkelheit. Die anderen schliefen bereits. Das war kein Wunder. Morgen war Unterricht und die Zwillinge hatten Vorlesungen in der Uni. Möglichst leise schlich ich mich durch das Haus und verschwand direkt im Keller, um all meine Frustration auszuschwitzen und am Boxsack auszulassen.
Wütend prügelte ich all die aufgestaute Energie in mir heraus, bis ich k.o. und durchgeschwitzt die Treppen hinauf ins Obergeschoss trippelte, mich unter die kalte Dusche stellte und dann in gemütliche Kleidung warf.
Über meine nächste Handlung machte ich mir gar nicht viele Gedanken. Ehrlich gesagt, kümmerten mich die Konsequenzen kein Bisschen.
Was morgen passieren würde, tat nichts mit dem zur Sache, was ich jetzt vorhatte. Ich hatte Sehnsucht und fühlte mich verloren und es gab nur einen Menschen, der diese Leere jetzt füllen konnte. Ohne ihre Nähe konnte ich nicht schlafen.
Ich brauchte sie.
Landons Zimmer lag nur einige Türen von meinem Zimmer am Ende des Flurs entfernt. Auf leisen Sohlen schlich ich mich durch den in Dunkelheit getauchten Raum und hob den zierlichen Körper neben dem meines Bruders vorsichtig auf meine Arme.
Ich hielt die Luft an, als Ruby sich in meinen Armen wand und einen seufzenden Laut ausstieß, aber sie wachte nicht auf. Im Gegenteil. Sie fiel zurück in ihren Tiefschlaf und kuschelte sich im Unterbewusstsein an mich.
Zwei Minuten später lag sie genau dort, wo ich sie haben wollte – wo sie eigentlich hingehörte. Nämlich in mein Bett, neben mich.
Ermüdet und wie magisch von ihr angezogen, legte ich mich neben sie auf die Matratze und zog sie an meinen Oberkörper, bis sie darauf Komfort gefunden hatte und ich sie in meinen Armen festhalten konnte.
Genau das brauchte ich nach diesem Tag. Die Versicherung, dass sie mir niemand einfach so entreißen konnte.
Ihr Haar roch nach fruchtigem Pfirsich. Sie musste vor dem Schlafengehen geduscht haben. Sie roch fantastisch und ihre Haut war samtig weich, als ich mit meiner Hand über ihre Arme und ihr Gesicht streichelte, ihre Konturen nachfuhr und sie mir einprägte. Wie für mich gemacht.
Sie.
Sie war perfekt.
»Ich werde dich niemals loslassen, Prinzessin. Sie müssen mich töten, bevor ich dich ausliefere. Du gehörst mir. Und ich werde dich nicht verlieren. Nicht in einhundert Jahren.«
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Jetzt wissen wir einiges mehr über Tyson und Logan, hättet Ihr damit gerechnet?
Im Übrigen scheint Tyson sich seiner Gefühle langsam immer sicherer zu werden ...
Was da wohl noch kommt ...
Ich wünsche Euch einen schönen Dienstag!
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