KAPITEL 17
TYSON
Freitag. Stichtag.
Und meine Laune? Im Eimer.
Angespannt saß ich auf meinem Sessel, starrte aus den hohen Fenstern meines Büros und dachte an alles und nichts.
Heute würden wir den Freund von Rubys Bruder treffen. Laut ihr besaß er einen ziemlich exklusiven Club außerhalb von London.
Ich wollte gar nicht wissen, woher sie das wusste, wie oft sie schon dort gewesen und vor allem, was für ein Kerl dieser Freund war. Es passte mir überhaupt nicht in den Kragen, dass ich absolut nichts über diesen Mann wusste. Ruby hatte mir nicht mehr als einen Namen verraten.
Xander Wanderwal. Aber ließ man diesen Namen durch die Systeme und Register dieser Welt wandern, kam man an absolut keine Informationen. Es war, als würde er nicht existieren. So, wie Ruby nicht existierte.
Es war sonderbar, die gesamte Situation ziemlich unscharf und wage und ich hasste genau das.
Meine Aufgabe war es, Ruby zu beschützen und von Gefahren fern zu halten. Nun beschlich mich das unbehagliche Gefühl, dass wir geradewegs in eine Gefahr hineinliefen.
Ich hatte keine klare Sicht darüber, wie dieses Treffen ablaufen würde, was mich erwarten würde.
Es konnte alles passieren, von einer Entlarvung, die uns in ernsthafte Schwierigkeiten treiben würde, bis hin zu einem reibungslos ablaufenden Abend, der uns tatsächlich weiterbringen würde.
Am liebsten wollte ich alles absagen, in Rubys Zimmer stürzen und ihr sagen, dass sie für immer hier bleiben konnte, sie ihre verdammt schönen Haare nicht zu färben brauchte und wir eine andere Lösung finden würden.
Dabei wusste ich, dass wir dieses Treffen nötig hatten. Es konnte uns mehr Informationen liefern, als Ruby zu erhalten glaubte und neben dem dämlichen Deal, den sie und ich als bloßen Vorwand eingegangen waren, war da auch noch mein kleiner aber feiner Spezialauftrag, von dem Ruby keinen blassen Schimmer hatte.
Sie hatte ja keine Ahnung, wie korrupt die Situation tatsächlich war.
Es tat mir unglaublich leid, dass sie Opfer des Systems geworden war.
Ich wusste, sie wollte mein Mitleid nicht, aber ich konnte nichts dafür, dass ich aus menschlicher Perspektive großes Mitgefühl für sie empfand. Dennoch, in erster Linie fühlte ich mich für sie verantwortlich und ich hatte die klare Ansage, dass ihr nicht ein einziger Kratzer zugefügt wurde und das hatte Priorität.
»Wie viel wissen wir über den Kerl?«
»Gar nichts.«
»Wie viel wird er uns bringen?«
»Womöglich ... gar nichts.«
»Wieso riskieren wir es dann?«
Ich drehte mich in meinem Stuhl zurück und hob meine Beine auf die Schreibtischplatte, so wie sie es ständig tat. Immer hatte sie ihre Füße oben in der Luft schweben.
»Weil ich nur womöglich gesagt habe.«
Und weil ich nicht mit dir diskutieren werde, fügte ich in Gedanken hinzu und musterte Logan, der als erster von fünfen mein Büro betreten hatte.
Logan, Landon, Tristan, Casper und Vanner.
Allesamt hübsch aufgereiht, in schwarzen Smokings und so professionell wie eh und je. Es war kein Platz mehr für Scherze. Heute machten wir einen gewagten Schritt an die Oberfläche und ich würde dafür sorgen, dass alles glatt lief und wir unsere Informationen bekamen.
Das hier war kein Spielchen auf dem Trainingsplatz mehr. Wenn sie heute jemand bedrohen oder erkennen würde, dann würde ich nicht lange fackeln und abdrücken.
Das hier war das echte Leben und Ruby war meine Verantwortung.
Und die nahm ich verdammt ernst.
»Ist alles vorbereitet?«
Casper schmunzelte.
»Sonst wären wir nicht hier.«
Na, ging doch. Endlich einer der keine langen Reden schwang, sondern einfach seinen Job machte und das mit Sicherheit auch noch gut.
»Perfekt«, kommentierte ich und zückte dann eine Zigarette aus meiner Anzugtasche, um sie anzuzünden und den giftigen Rauch direkt in meine Lunge aufzusaugen.
Als die grauen Schwaden in Ringen aus meinem Mund flogen, richtete ich meinen Blick voller Entspannung, aber klar und deutlich wieder zu den Jungs.
»Ich sage es nur einmal. Wenn ihr irgendetwas passiert, dann knalle ich euch allesamt ab. Ich verbiete hiermit, dass wir scheitern.
Wir werden da reingehen, diesem Kerl einen Besuch abstatten und ihn dann ganz geschmeidig wieder verlassen. Klar?«
Einstimmiges Nicken.
»Perfekt«, wiederholte ich mich.
»Dann macht die Autos fertig. Wir sollten in einer halben Stunde aufbrechen.«
Die Jungs drehten sofort ab. Alle, bis auf Landon.
Na, sieh mal einer an.
»Ist noch etwas?«, fragte ich und hob eine Augenbraue.
Er rollte angepisst mit den Augen.
»Das frage ich dich«, murrte er und setzte sich auf den Sessel vor mich.
»Was sollte ich haben?«
Er stieß genervt einen Schwall Luft aus.
»Seit drei Tagen ermordest du mich jedes Mal wenn ich nur den Raum betrete. Du bist offensichtlich sauer auf mich und ich will das klären, bevor wir gleich losfahren. Was habe ich falsch gemacht?«
Fragte er das ehrlich?
Fragte, warum ich sauer war?
Oh, ich war nicht sauer, ich war verflucht ...
»Wieso schläft Ruby seit neuestem bei dir?«, rutschte mir eine Gegenfrage von den Lippen. Eine Frage, die mich schon seit Tagen beschäftigte und nicht schlafen, stattdessen hellwach an die Decke meines Zimmers starren ließ und immer wieder innerliche Wutausbrüche auslöste.
Die Gedanken fraßen mich, ohne dass ich einen Schimmer hatte, wieso das so war.
Ruby und ich triezten uns immer wieder und ich musste zugeben, dass ich begann, sie ehrlich gern zu haben.
Aber mein Verhalten aus den bloßen Gedanken heraus, die ich mir machte, wenn ich nur daran dachte, dass sie mit meinem Bruder ein Bett teilte und nicht mit ... das war einfach merkwürdig unerträglich.
Landons Gesicht nahm einen überraschten Ton an. Hatte er sich nicht einmal denken können, was mein Problem war?
Dieser ...
Und dann fing er plötzlich an zu lachen. Musterte mein Gesicht, meine zusammengebissenen Zähne und die zur Faust geballte Hand und begann mich auszulachen!
»Du bist eifersüchtig!«, brach es aus ihm heraus und er schlug sich schrecklich amüsiert auf den Oberschenkel. Mir fiel die Kinnlade herunter.
Wie bitte?
Ich war doch nicht ...
Allein beim Denken des Wortes zog sich in mir alles angespannt zusammen.
»Was? Nein!«
Ich fühlte mich angegriffen von Landons Worten, aber nicht, weil er bloße Lügen verbreitete. Nein, ein kleiner Teil in mir, der die Mehrheit an Stolz austrickste, wusste, dass er genau ins Schwarze getroffen hatte.
»Doch, mein Lieber, und wie!«
Mittlerweile fielen ihm Tränen aus den Augen und er brauchte Minuten, um sich zu sammeln. Irgendwann räusperte er sich und bekam sein ernstes, nicht ganz so ernstes, Gesicht zurück.
»Aber Eifersucht ist in diesem Fall vollkommen unbegründet, denn zwischen Ruby und mir läuft rein gar nichts. Sie ist wie eine Schwester für mich, nicht mehr und nicht weniger.«
Er zwinkerte kokett.
»Der Segen sei euch beiden meinerseits also gegeben. Ich wusste sowieso, dass da bei euch was im Busch ist und ehrlich, Tyson, ich freue mich für dich. Ich glaube von irgendwoher zu wissen, dass Ruby genau die Richtige für dich ist.«
Er nickte mir ehrlich zu und ich konnte aus seinen Augen lesen, wie ernst es ihm war.
Dass diese Worte wiederum auf meine Wut auf ihn folgten, ließ mich augenblicklich schlecht fühlen.
»Nun zieh nicht so eine Miene. Ich bin nicht sauer.
Aber da ist noch etwas, das ich dir erzählen muss. Ich wollte es sowieso schon längst tun, weil es mich beunruhigt hat. Ruby schläft schließlich nicht grundlos bei mir.«
Ich spitzte meine Ohren. Das, was kam, war wichtig, so wie seit neuestem alles, was mit Ruby zu tun hatte.
»Dienstagnacht kam sie um vier Uhr herum in mein Zimmer gelaufen. Draußen hat es gestürmt und leicht gewittert, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass sie ernsthaft Angst vor Regen hat. Gestern und vorgestern habe ich darauf gewartet, bis sie eingeschlafen ist, bevor ich das Licht gelöscht habe. Ich glaube, sie kann bei Helligkeit besser schlafen, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sie heftige Alpträume hat. Und mit heftig, meine ich Alpträume, die ich so noch nie bei jemandem erlebt habe. Manchmal zuckt sie zusammen oder tritt um sich, sie wimmert im Schlaf, weint manchmal sogar.«
Er machte sich auf dem Stuhl unbewusst ein wenig kleiner, was mir nur verdeutlichte, wie geschockt und angegriffen er selbst von Rubys Situation war.
Mein Bruder hatte dieses Mädchen in sein Herz geschlossen. So wie wir alle, wenn wir ehrlich waren, und das nach einem knappen Monat. Unglaublich.
»Ich weiß nicht, woran es liegt. Manchmal schläft sie schlechter, manchmal besser.
Wenn ich sie frage, wovon sie geträumt hat, schaltet sie auf Durchzug. Sie erzählt mir nichts, was ich akzeptiere, weil ich es in erster Linie schon einmal richtig und mutig finde, dass sie sich überhaupt getraut hat, mir zu sagen, dass sie nicht schlafen kann. Es ist nur wirklich gruselig, wenn sie nachts anfängt, weinend zu behaupten, dass sie das nicht alleine schafft und sie keine Kraft mehr hat, weiterzumachen. Was auch immer das sein soll.«
Fragend biss er sich auf die Unterlippe und machte ein nachdenkliches Gesicht.
In mir selbst tobte ein Sturm.
Die neuen Informationen und Gegebenheiten wirbelten um meinen Verstand und brachten mich durcheinander.
Es machte mich unruhig, dass Ruby nicht schlafen konnte.
Ich konnte mir denken, was das ausgelöst hatte, wusste aber nicht, ob ich in meiner Annahme richtig lag.
Fakt war, dass dort irgendetwas in Ruby vergraben war, das sich nur in ihrem Unterbewusstsein ans Tageslicht traute und sie überwältigte. Da steckte viel in ihr, viel Dunkelheit und sie ließ sich davon fressen.
Fressen.
Fressen.
Fressen.
Bis nichts mehr von ihr übrig war.
xxxx
Seit heute Morgen hatte ich sie nicht mehr gesehen.
Eigentlich war sie ein Langschläfer, stand nicht vor zehn Uhr in der Frühe auf und schlief den Tag über, wann immer sie die Möglichkeit dazu hatte.
Ich hatte sie als ein Mädchen kennengelernt, das immer müde war. Aber heute Morgen war sie ausnahmsweise sehr früh aufgestanden, hatte um halb sieben mit mir in der Küche ein Brötchen gegessen, woraufhin ich innerlich mächtig stolz auf sie gewesen war, weil sie mittlerweile immer öfter freiwillig zu Lebensmitteln griff und dementsprechend auch gesünder aussah.
Langsam aber sicher fasste sie Vertrauen zu uns Jungs und das machte mich glücklich. Ehrlich glücklich.
Obwohl ich sie vor weniger als zwölf Stunden das letzte Mal gesehen hatte, verspürte ich einen kleinen Stich von Sehnsucht in mir. Zu all dem mischte sich eine große Portion von Aufregung davor, wie sie gleich die Treppe vor mir hinunter schweben würde.
Um sich umzuziehen und die Haare zu färben, hatte sie uns alle seit heute Morgen aus ihrem Zimmer ausgesperrt, aber so langsam platzte ich vor Neugierde.
Ob sie sich wirklich blaue Haare färben ließ?
Landon, der ihr verschiedene Farben gekauft hatte und mir nichts hatte verraten wollen, traute ich alles zu.
Ungeduldig sah ich auf meine Uhr. Es war gleich halb sechs. Wir mussten langsam aufbrechen, denn der Weg mit dem Auto dauerte noch eine ganze Weile.
Als ich gerade nach ihr rufen wollte, hörte ich eine Tür schließen und das leise Klacksen von Schuhen auf dem Marmorboden. Kurz darauf schoben sich mattschwarze High Heels in mein Blickfeld, die einen nackten Fuß umhüllten, der an endlos scheinende Beine gebunden war. Langsam sah ich auf, musterte sie vollkommen und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Die Lady dort am Treppenansatz war nicht mehr jene, die ich kennengelernt hatte.
Das war keine Siebzehnjährige mehr, kein Monster, keine angebliche Mörderin.
Nussbraunes Haar mit einem karamellartigen Stich umrahmte ihr Gesicht bis Zentimeter unter die Ohren. Ihre Haut so zart und lieblich wie immer war heute geschminkt, so dass ihre Wimpern länger erschienen und die Knopfaugen, die einst braun gewesen waren, heute in grün glitzern ließen.
Ihre Lippen strahlten in einem tiefen Rotton, einem sündhaften Rotton, der mir wahrhaftig den Kopf verdrehte, als ich sah, dass er die exakte Farbe ihres Kleides hatte. Ihr Kleid.
Ich hatte schon viele schöne Kleider, viele schöne Frauen und viele schöne Frauen in vielen schönen Kleidern gesehen.
Aber keine nahm es mit der jungen Frau auf, die jetzt gerade vor mir stand und vorsichtig in ihren hohen Schuhen die Treppe hinabtrat.
Der rote Stoff fiel bis zum Boden, verlief eng und kurvenbetont an ihrer Hüfte und dem herzchenförmigen Dekolleté, das für die Männerwelt da draußen heute Nacht eindeutig zu tiefe Einblicke liefern würde. An den Beinen schien das Rot um ihren Körper zu schweben und ich glaubte ein Schwindelgefühl zu verspüren, als ich den Einschnitt an ihrem linken Bein sah, der ihre nackte Haut bis zum Oberschenkel freiließ.
Ohne Frage trug sie das reizvollste, das ich jemals gesehen hatte. Aber es war in erster Linie nicht das Kleid, das sie schön wirken ließ, nein, die Ausstrahlung und ihre pure Eleganz waren es, die wahrhaftig atemberaubend waren.
Ich war wie hypnotisiert von ihr, vollkommen fasziniert, dass ich es gar nicht wirklich mitbekam, als sie nach einigen Sekunden genau vor mir stand.
»Hat es dir die Sprache verschlagen, Tyson?«, hauchte sie und mir stand der Mund offen, als ich ihre zu einem Lächeln verzogenen Lippen sah und gleichzeitig realisierte, dass ich diese Worte sonst immer zu ihr gesagt hatte.
Heute drehte sie den Spieß also um. Sie war in Spiellaune und, Himmel, ihre Frechheit machte sie verdammt attraktiv.
Anstatt ihr zu antworten, konnte ich nicht an mich halten und zog sie kurzerhand an der Taille zu mir, um sie hochzuheben und einmal im Kreis durch die Eingangshalle wirbeln zu können. Als ich die nackte Haut an ihrem Rücken spürte, schloss ich meine Augen.
Gott, dieser verdammt schöne Engel wollte mich umbringen!
Eindeutig.
Aber ich wusste innerlich, dass ich heute Morde begehen würde, wenn sich ihr auch nur ein schmieriger Dreckssack näherte.
Ruby lachte herzlich auf, als ich keine Anstalten machte, sie loszulassen und mich immer öfter mit ihr drehte.
Mit lächelndem Blick sah ich zu ihr auf und musterte ihr neues Gesicht.
Man musste fünfmal hinsehen, um sie zu erkennen, so prägnant war ihr Erscheinungsbild mit roten Haaren.
Glücklicherweise wusste ich von ihrer Verwandlung und auch mit geschlossenen Augen konnte ich eindeutig sagen, dass dieses Lachen zu ihr gehörte. Zu oft hatte ich es in meiner Nähe gehört, als das ich es jemals vergessen konnte.
»Du siehst wunderschön aus«, sprach ich die Wahrheit aus und ließ sie schließlich auf ihre Beine zurück.
Durch die High Heels war sie ein ganzes Stück gewachsen und durch das MakeUp zu einer Frau gealtert, die sicher als dreiundzwanzig durchgehen konnte.
»Sie sehen auch nicht schlecht aus, Mister Mallion«, gab Ruby meine Worte zurück und hakte sich bei mir unter, als ich ihr meinen Arm entgegen hielt.
Für eine einzige Sekunde sahen wir uns von der Seite in die Augen und fragten einander still, ob wir bereit waren.
Und das waren wir.
Sie
und
ich.
Gegen den Rest der Welt.
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